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Korail, der größte Slum in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka

Wie der Klimawandel die Binnenmigration verstärkt

Der Klimawandel ist eng mit gesellschaftlichem Wandel verbunden - und verstärkt die Migration innerhalb Bangladeschs. Schon jetzt gibt es über 4,5 Millionen Binnenmigrant*innen. Shetara Begum ist eine von ihnen.

Wie der Klimawandel die Binnenmigration verstärkt

Shetara Begum in ihrem Wohnverschlag im Slum Korail

Die Flamme aus der Feuerstelle im Boden schießt heiß nach oben und hinterlässt eine dicke Rußschicht an der Pfanne. Shetara Begum wirft eine Handvoll Zwiebeln in das siedende Öl, rieselt gehackte Chili dazu und schwenkt das Ganze mit einer gekonnten Bewegung. Das Feuer, über dem sie gleich das Mittagessen kochen wird, ist neben einer tristen Glühbirne an der Decke die einzige Lichtquelle in ihrem Heim. Außer man zählt die dünnen Sonnenstrahlen mit, die durch einige Löcher in der Wellblech-Wand ins Innere dringen.

Von Sven Wagner

„Es gibt Kartoffeln, scharf angebraten, und Gemüse“, erklärt Shetara Begum und zeigt ihre Zutaten, die um die Feuerstelle aufgereiht sind: Auberginen, Gewürze, Senföl. Erst beim zweiten Hinsehen fällt auf, dass die 47-Jährige nicht gekniet auf dem Boden hockt, sondern unter ihrem Sari nur noch Oberschenkelstümpfe hat, auf denen sie steht. Sie blickt nach oben, zieht die Augenbrauen zusammen und lächelt.

Dieser Raum – höchstens zwölf Quadratmeter groß – ist seit knapp vier Jahren das Zuhause von Shetara Begum. Er befindet sich inmitten des größten Slums von Bangladeschs Hauptstadt Dhaka: Korail. Hier leben Menschen, die aus allen Ecken des Landes in die Megacity kommen – zumeist auf der Suche nach Perspektiven, Arbeit und einem besseren Leben. Paradoxerweise liegt der Slum inmitten der noblen Stadtviertel Gulshan, Moakhali und Banani, in denen wohlhabende Geschäftsleute, Diplomaten und hochrangige Beamte leben. Ein krasser Kontrast. Genaue Angaben zu Bevölkerung von Korail gibt es nicht. Die Zahl der eng an eng gequetschten Häuser hier liegt laut Slumverwaltung bei 29.000. Fünf bis sechs Leute – meist sogar mehr – teilen sich eine Wohnung.

Bis zu 26 Millionen Migranten

Auch Shetara Begum lebt in ihrem Zuhause nicht allein. Neben ihrem Mann und ihrer Tochter wohnen hier Abdul Rahim, ein gebrechlicher Sechzigjähriger, der auf einer Pritsche im hinteren Teil des Raums sitzt, und Monowara Begum, eine Witwe mit faltigem Gesicht, der man die Spuren eines entbehrungsreichen Lebens ansieht. Die beiden und Shetara Begums Familie kannten sich vorher nicht. Doch sie haben alle eine ähnliche Geschichte: Das eigene Haus und Land – also die Lebensgrundlage – wurde zerstört durch Flusserosion, Versalzung von Böden, Trockenheit oder Fluten. Alle sind Klimamigranten. Die einzige Hoffnung dieser Menschen scheint Dhaka zu sein und vielleicht ein Job in einer Textilfabrik, als Putzfrau, Rikschafahrer oder Bauarbeiter.

Immer mehr Menschen insbesondere aus den südlichen Küstenregionen und den Gegenden um die größten Flüsse Bangladeschs kommen nach Dhaka. Über das Internal Displacement Monitoring, eine Art Migrations-Zensus, sind jüngst Zahlen ausgewertet worden: 4,7 Millionen Menschen sind in Bangladesch demzufolge zwischen 2008 und 2014 aufgrund von Naturkatastrophen und der zerstörten Lebensgrundlage migriert. Bis 2050 könnten es weitere 16 bis 26 Millionen Menschen sein, rechnet ein Institut hoch, das an der Universität Dhaka zu Migration und Flucht forscht. Staatliche Erhebungen zur Migrationsbewegung kommen zu folgendem Ergebnis: In besonders stark von Überflutung, Flusserosion, Versalzung der Böden und Grundwasserabsenkung gefährdeten Gebieten sind über 85 Prozent der Menschen bereits temporär oder permanent migriert. Eine entscheidende Frage ist laut Tasneem Siddiqui, Politikwissenschaftlerin an der Universität Dhaka, ob Migration selbst als Anpassungsstrategie an die Folgen des Klimawandels oder nicht vielmehr als ein Zeichen für das Versagen von lokaler Anpassung zu verstehen sei.

Das Land verloren

Flusserosion ist ein häufiger Grund dafür zu gehen. So wie bei Shetara Begum aus Korail. Sie hat sich inzwischen mit ihren Beinstümpfen auf das Bett gehievt und erzählt aus ihrem Leben. Ursprünglich kommt sie aus Faridpur, einem Distrikt südwestlich von Dhaka gelegen entlang des mächtigen Padma-Flusses. „Ich erinnere mich noch an meine Eltern, unser Haus und den Fluss in Faridpur“, erklärt sie nachdenklich. „Dieser hatte oft Hochwasser geführt und den Ufersand immer weiter abgespült, sodass er nach und nach in großen Stücken weggebrochen ist.“ Das Land ging schließlich verloren – ohne dass die Familie entschädigt wurde. „Zu der Zeit war ich etwa fünf Jahre alt. Es gab nichts mehr zum Leben“, sagt Shetara Begum.

Erosion als Folge von Fluten in Bangladesch
Erosion als Folge von Fluten und verändertem Wetter – ein häufiger Grund für Migration innerhalb Bangladeschs. Foto: Lukas Jednicki
Wenn Lebensraum einfach wegbricht. Flusserosion in Kurigram.

Die Mutter nahm sie mit nach Dhaka, wo der Vater sich als Rikschafahrer verdingte. Über die Jahre zog die Familie von einem Slum in den nächsten. Shetara Begum ging nie zur Schule, blieb im Haus und half der Mutter. Mit 20 Jahren wurde sie von den Eltern mit einem 28 Jahre älteren Mann in einer ähnlichen Lebenslage verheiratet. „Kurz darauf passierte das Schreckliche“, sagt sie und reißt plötzlich aufgeregt ihre Augen auf: „Ich war auf einem kleinen Markt an den Bahngleisen, um getrockneten Fisch zu kaufen. Dann kam der Zug.“ Er erfasste Shetara Begum, sie verlor beide Beine. Und damit eine wesentliche Voraussetzung zum Arbeiten. In der Folge verlor das Ehepaar die Wohnung und musste fortan auf der Straße leben und betteln. Wiederholt wurden sie deswegen von der Polizei aufgegriffen. Als die Wohnung in Korail frei wurde, haben die Behörden sie dort einquartiert – zusammen mit den anderen Mitbewohnern, die ebenfalls als Obdachlose dort ein Zuhause bekommen sollten.

Auf die Frage, wo ihr Zuhause sei, sagt sie nicht etwa Dhaka, sondern ohne nachzudenken, Faridpur. Lange hatte Shetara Begum gehofft, wieder in ihr Dorf zurückkehren zu können – vergeblich. Einen Onkel hat sie noch vor Ort, zu dem sie manchmal Kontakt hat. Aber von diesem abgesehen ist ihr von dort nicht viel mehr geblieben, als die über 40 Jahre alte Kindeserinnerung an ein Dorf, das längst nicht mehr das ist, was Shetara Begum annimmt. Denn vieles hat sich seitdem geändert.

Impulse für Klimaschutz

Der Wandel, der in Bangladesch spürbar ist, hat auch mit dem sich wandelnden Klima zu tun. Was oft als Klimawandel vereinfacht werde, seien aber vielmehr die geballten Herausforderungen für die heutige Gesellschaft, sagt Ina Islam vom International Centre for Climate Change and Development (ICCCAD). „Es besteht die verbreitete Auffassung, dass Klimawandel ein singulärer oder isolierter Prozess ist. Doch wir müssen das anders betrachten“, erklärt sie. „Was wir heute als Klimawandel bezeichnen, ist mit fast jedem Thema unserer Gesellschaft verbunden: Ernährung, Investitionen in die Zukunft, Politik.“ Es gelte vor allem, die gesellschaftlichen Herausforderungen zu erkennen und zu gestalten, um etwas gegen den Klimawandel und dessen Folgen zu tun. Das ICCCAD ist angesiedelt an der International University Bangladesh und versucht, Wissen zu bündeln und ein Bewusstsein für Zukunfts- und Nachhaltigkeitsfragen bei kommenden Generationen zu schaffen. Die Absolventen sollen, mit einem ganzheitlichen Wissen ausgerüstet, an wichtigen gesellschaftlichen Schaltstellen die richtigen Impulse für Klimaschutz, Nachhaltigkeit und eine gelingende gesellschaftliche Transformation setzen.

Korail, der größte Slum in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka

„Beim Klimawandel geht es vor allem um drei Dinge“, erklärt Ina Islam: „Wir müssen die entstehenden Schäden verringern, uns an sich verändernde Lebensverhältnisse anpassen und anerkennen, welche Schäden und Verluste es gibt.“ Für Betroffene heißt Letzteres oft: Flut, Erosion, Verlust des Hauses, Migration in die Stadt, Leben im Slum. Ina Islam zeichnet eine angsteinflößende Wirkungskette, wie sie viele Menschen in Korail schon erlebt haben.

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Diese fatalen Entwicklungen zu verhindern und Bleibeperspektiven zu schaffen, sollte das oberste Ziel sein – und es ist möglich durch Anpassungsmaßnahmen in den ländlichen Regionen, aus denen die Menschen migrieren. Doch dazu müssen die Betroffenen einbezogen werden: Kleinbauern vor Ort, Indigene Gemeinschaften, soziale Bewegungen, Frauenorganisationen und weitere zivilgesellschaftliche Akteure. Diese Menschen wissen, was möglich und was nötig ist. Ihre lokalen Adaptionsstrategien müssen gestärkt und finanziell unterstützt werden: Gemüse- und Reisanbau mit Flößen auf überfluteten Gebieten, hängende Gärten in großen Blumenkübeln oder Landaufschüttung für Wohnstätten und Vieh.

Keine Widerworte

Damit die Anpassung gelingen kann, muss vor allem die strukturelle Benachteiligung der in Armut lebenden Bevölkerung enden. Das betont auch Sukanta Sen, Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation (NGO) BARCIK: „In den vergangenen Jahrzehnten hat man vieles getan, was die Lebensbedingungen der Menschen unmittelbar verschlechtert hat.“ Sukanta Sen spricht vom massenhaften Landraub, der Pflanzung von HybridReis ohne jegliche Erfahrung und der Versalzung von Ackerland durch die Inanspruchnahme für die industrielle Garnelenzucht. „Und es gab keinen Protest, keine Widerworte der Lokalregierung, nichts.“. Jetzt gelte es für die Menschen vor Ort, die Probleme langfristig und eigenständig zu lösen, doch dazu müssten sich lokale Machtstrukturen ändern. „Es gibt staatliche Richtlinien zur Landnutzung, es gibt Verordnungen zum Umweltschutz. Aber alle Verordnungen nutzen nichts, solange sie nicht durchgesetzt werden.“

Der BARCIK-Geschäftsführer erklärt, wie indigene Praktiken lange von der Mehrheitsgesellschaft, von Firmen und staatlicher Seite als rückständig stigmatisiert wurden, bis die Menschen sie schließlich selbst nach und nach aufgaben. „Den Leuten wurde eingeredet, dass das von ihnen in Teichen gesammelte Regenwasser nicht gut sei. Ihre angebauten indigenen Gemüsesorten seien primitiv und kein richtiges Essen. Stattdessen wurde Reisanbau als Alternative propagiert“, macht Sukanta Sen deutlich. Und nach und nach haben sich gesellschaftliche Praktiken und damit auch Ökosysteme verändert – soweit, dass die Menschen ihre Arbeit auf den Feldern als rückständig wahrgenommen haben und lieber in die Stadt, in die Textilfabrik wollten.

Shetara Begum in ihrer kleinen Wohnung in dem riesigen Slum wollte nicht aus ihrem Dorf weg. Aber sie musste. Naturgewalten haben sie nach Dhaka gebracht. Und Politik und Gesellschaft haben es weder vermocht, ihr dort Perspektiven aufzuzeigen, noch eine Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen. Sie wird in Dhaka bleiben als eine von sehr vielen, die erfahren mussten, dass der Klimawandel in Bangladesch nicht nur für schreckliche Unwetter, Überflutung und Meeresspiegelanstieg steht. Er steht auch für eine gesellschaftliche Transformation und die großen Herausforderungen eines Landes, das nicht vergessen darf, all seinen Menschen Perspektiven für die Zukunft zu bieten.


Dieser Beitrag erschien in der NETZ Ausgabe 1/2017 "Klima und Wandel" der Bangladesch-Zeitschrift NETZ zum Projekt Klimagerechte Zukunft Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei uns anfordern.