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Friedensarbeit als gemeinsamer Weg
Aus der Mitte der Gesellschaft

Von Sven Wagner

Die Folie wiegt nur ein paar Gramm, ist so groß wie Briefpapier – und doch kann Lokkhi Naranya (Name geändert) sie nur einen ganz kurzen Moment hochhalten. Dann schwinden ihre Kräfte. Zu sehen auf dem schwarz-weißen Dokument ist eine Röntgenaufnahme ihrer Hände und der Grund dafür, dass sie es jetzt ablegen muss: Die Gelenke, das ist deutlich zu erkennen, sind deformiert, die Folge mehrerer Knochenbrüche. Durch Hiebe. Immer wieder, über Jahre hinweg. Besonders in der „letzten Nacht“. So oft und heftig, dass da irgendwann nichts mehr zusammenwachsen konnte.

Der Mann, der das getan hat, war kein Fremder. Es war der Mann, neben dem Lokkhi zwei Jahrzehnte lang fast jeden Tag aufwachte. Ihr Ehemann.

Die heute 38-Jährige sitzt in einem türkisfarbenen Plastikstuhl im Hinterhof einer kleinen Siedlung im Dorf Fazilpur. Die Sonne senkt sich langsam, Moskitos schwirren einem um die Beine, nebenan kochen Frauen Reis auf kleinen Lehmöfen. Andere haben sich gesetzt, um zuzuhören. Lokkhi wirkt gefasst und hat von sich aus reden wollen über die „letzte Nacht“ und all das, was davor war. Sie erzählt von einer entbehrungsreichen Kindheit, von Armut in der Familie und dem frühen Tod des Vaters. Davon, wie sie schon sehr früh auf den Feldern Reis pflanzen, schneiden und dreschen musste. Und wie sich die Mutter gezwungen sah, sie mit 13 Jahren zu verheiraten. Nur ein Jahr darauf bekam Lokkhi ihr erstes Kind. „Ich war plötzlich eine Ehefrau und Mutter, obwohl ich kaum wusste, was ich als solche tun muss“, sagt Lokkhi. „Aber ich habe versucht, die Rolle so gut ich konnte zu erfüllen.“

Dass sie jetzt hier spricht, und dass ihr zugehört wird, ist keine Selbstverständlichkeit. Schon mehrfach hatte sie das Haus der Schwiegerfamilie, in dem sie lebte, verlassen oder wurde von ihrem gewalttätigen Mann rausgeworfen. Kam hierher, wo ihre jüngere Schwester Sonali Murmu und die Mutter in sehr bescheidenen Verhältnissen leben. Und ging doch immer wieder zurück – mit zarter Hoffnung, dass es besser wird. Ohne sich getraut zu haben, weiter über die Situation zu sprechen.

Lokkhi Naranya hat massive Gewalt durch ihren Ehemann erlitten. Sie kämpft für Gerechtigkeit, aber auch: für ein Leben in Frieden. Ihre Schwester und die Friedensinitiative unterstützen sie dabei.

"Sie ist ein starker Mensch"

Schwester Sonali ist der Grund, warum diese Geschichte nicht wie mutmaßlich sehr viele andere im Verborgenen bleibt. Die 32-Jährige engagiert sich seit gut anderthalb Jahren in einer Friedensinitiative, einem großen Netzwerk, das sich für die Überwindung von Gewalt in der Gesellschaft einsetzt. Sie und weitere Mitstreiter*innen ihrer Landkreis-Gruppe haben Lokkhi dabei unterstützt, sich zu offenbaren – damit das schwere Unrecht überhaupt aufgearbeitet werden kann. Für Sonali hat das auch eine persönliche Bedeutung: „Lokkhi ist meine große Schwester. Sie ist ein starker Mensch, hat immer hart gearbeitet und zurückgesteckt – damit ich es einmal besser haben sollte und die Schule abschließen konnte.“

Umso schlimmer ist es für sie, zu hören, was die große Schwester durchmachen musste. Was klingt wie aus einem brutalen Film, war echt. In jener „letzten Nacht“, so beschreibt es Lokkhi, musste sie nicht nur Schläge hinnehmen, sondern auch um ihr Leben fürchten. Ihr Mann hat sie mit einem Seil an das Ehebett gefesselt und ein ums andere Mal zugeschlagen. Ihre Schreie waren so laut gewesen, dass der Schwiegervater schließlich von nebenan in das Haus kam, eingriff und sie befreite. Dann flüchtete sie.

Ihre Geschichte ist nur ein Beispiel – wenn auch ein besonders erschreckendes – für ein großes Problem in Bangladesch: Gewalt gegen Frauen, die auch als geschlechtsspezifische Gewalt bezeichnet wird. Dazu kommt es besonders innerhalb von Familien; von häuslicher Gewalt ist dann meist die Rede. Frauen werden nicht als gleichberechtigt angesehen. Sie stehen in der gesellschaftlichen wie familiären Hierarchie unten. Weil sie wirtschaftlich abhängig sind. Weil sie als schwach gelten. Und, wie mancher jetzt sagen würde, weil man das eben schon immer so gemacht hat.

Eine Umfrage aus dem Jahr 2015 im Auftrag der bangladeschischen Regierung bietet die aktuellsten Zahlen. Demnach haben mehr als 72 Prozent der verheirateten Frauen bereits Gewalterfahrungen in der Ehe gemacht (in Deutschland waren es einer Erhebung zufolge seinerzeit 35 Prozent). An erster Stelle standen körperliche und sexuelle Gewalt, danach folgte Kontrollverhalten, etwa das Verbot, das Haus zu verlassen. Nichtregierungsorganisationen warnen indes, dass die Gewalt infolge der Coronapandemie von 2020 an sogar noch gestiegen sei. Auf einer Karte, die damals in der Regierungsstudie veröffentlicht wurde, ist eine Region dunkelrot eingefärbt: Rajshahi, jene, in der Lokkhi lebt. Dort ist die Gewalt demnach besonders hoch.

Indigene werden diskriminiert

Macht man sich auf die Reise dorthin, um mehr zu erfahren über Fälle, Ursachen und Folgen auch dieser schlimmen Formen von Menschenrechtsverletzungen, zeigt sich ein vielfältiges Bild. Opfer berichten von Gewalt durch Ehepartner*innen, aber auch Schwiegerfamilien. Lokalpolitiker*innen nennen häusliche Gewalt neben Landkonflikten und der Diskriminierung indigener Gemeinschaften immer wieder eines der drängendsten Probleme. Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen berichten von ihrem Kampf dagegen, aber auch von oftmals prekären, von Armut, fehlender Bildung und gesellschaftlicher Exklusion geprägten Familienverhältnissen. Und Lehrkräfte erklären, warum Kinderehen die Gewalt besonders befeuern. Es wird deutlich: Diese Gewalt gegen Frauen ist massiv, und sie hat strukturelle Ursachen.

Wenn Sonali Murmu ihrer Schwester Lokkhi zuhört und an deren Leiden denkt, erkennt man deutlich die Wut in ihrem Gesicht. Und man könnte meinen, sie müsse dem Schwager doch eigentlich all das heimzahlen wollen, was er seiner Frau angetan hat. Aber: Bei der Friedensinitiative geht es nicht um Vergeltung und Sühne. Die insgesamt 22 Landkreis-Gruppen, zu denen sich Frauen, Männer und junge Erwachsene seit Mitte 2022 zusammengeschlossen haben, möchten Wunden heilen und Gerechtigkeit schaffen – ohne, dass neue Gewalt entsteht.

Im Zentrum der Arbeit steht nicht die rein juristische Aufarbeitung von Unrecht. Dafür sind Justiz und Behörden zuständig. Es geht vielmehr darum, der Gesellschaft die Dynamik von Diskriminierung klarzumachen, damit sich strukturell etwas ändert. Denn viele solcher Fälle entstehen überhaupt erst, weil gesellschaftliche Systeme sie ermöglichen – durch patriarchalische Prägung, unklare Rechtslagen, Korruption oder die Macht wohlhabender Einflussgruppen. Dabei bietet die Friedensinitiative Opfern eine Anlaufstelle. Und sie bringt Menschen, die an Konflikten beteiligt sind, zusammen, um jene gemeinsam zu bearbeiten. Entsprechend befasst sich die Friedensinitiative mit ganz unterschiedlichen Themen: Familien verheiraten ihre minderjährigen Töchter, Männer trinken übermäßig Alkohol und werden gewalttätig, Menschen werden gewaltsam von ihrem Land vertrieben, Dorfbewohner*innen fordern seit Jahren den Bau einer Straße, bedürftigen Menschen werden zu Unrecht Sozialleistungen verwehrt.

Frauen, Landlose und andere Menschen in Armut

Sind diese Anliegen auch noch so verschieden, haben sie doch einen großen gemeinsamen Nenner: Die Betroffenen sind die am meisten gefährdeten Gruppen in Bangladesch: Frauen, Landlose, indigene Gruppen, Menschen in extremer Armut. Rechte werden ihnen direkt oder indirekt verwehrt. Sie leiden unter den Folgen und das führt zu Unfrieden, Gewalt und dauerhaften Konflikten innerhalb der Gesellschaft.

Es gibt viele Berichte zur Menschenrechtslage in Bangladesch von Nichtregierungsorganisationen oder internationalen Gremien wie der UN. Sie alle beschreiben generell und abstrakt, was man vor Ort in den Dörfern findet. Transparency International sagt: 2022 mussten mehr als 70 Prozent der Haushalte Schmiergeld zahlen, um Verwaltungsleistungen zu erhalten. Reisepassämter, Strafverfolgungs-, und Verkehrsbehörden am meisten. Die Menschenrechtsorganisation Ain-o-Salish Kendra spricht von fast 1000 Frauen, die vergewaltigt und 80 die wegen Mitgiftproblemen getötet wurden. Die Dunkelziffer ist erfahrungsgemäß noch sehr viel höher. Das Frauenministerium selbst sagt, täglich rufen hunderte Mädchen die staatliche Hotline für Opfer sexueller Belästigung an.

Besonders betroffen sind auch indigene Gemeinschaften. Diese leiden vor allem unter fehlendem Zugang zu Land und Ressourcen und wenig kultureller Selbstbestimmung. Weil ihnen Staat und Gesellschaft keinen Raum geben. Jüngsten Zeitungsberichten zufolge werden in Bangladesch 1,3 Millionen Hektar staatseigenen Landes von machtvollen Gruppen besetzt und genutzt. Land, das eigentlich den Landlosen vorbehalten ist. Das ist fast ein Zehntel der gesamten Staatsfläche. Und: Laut Zensus 2022 leben in Bangladesch 1,65 Millionen Menschen aus „ethnischen Gemeinschaften“, wie der Staat die indigene Bevölkerung nennt. Expert*innen sagen, dass diese offizielle Zahl absichtlich zu niedrig angesetzt ist, nach der Logik: Je weniger es sind, desto weniger Beachtung muss ihnen zukommen. Vertreter*innen indigener Plattformen sprechen hingegen von mehr als fünf Millionen Menschen, die 54 indigenen Gemeinschaften wie Santal oder Oraon angehören und mindestens 35 Sprachen sprechen. Auch hier macht sich die Friedensinitiative stark. Sie unterstützt Familien, klärt sie über ihre Rechte auf und findet Wege, damit die Betroffenen zu ihren Rechten kommen.

Lokkhi, die aufgrund der schweren Misshandlungen durch ihren Ehemann laut ärztlichem Bericht wohl nie wieder körperlich arbeiten kann, gehört ebenfalls einer indigenen Gemeinschaft an. Sie ist als Frau also gleich in mehrfacher Hinsicht benachteiligt. Wie aber kann ihr die Friedensinitiative mit ihrem Ansatz der gewaltfreien Konflikttransformation konkret helfen?

Ihr Ehemann wurde unmittelbar nach den jüngsten Taten festgenommen, er kam zwischenzeitlich auf Kaution frei. Womöglich spricht ein Gericht ihn in den nächsten Monaten schuldig. Ein Urteil löst jedoch nicht automatisch Lokkhis Probleme. Sie selbst braucht eine Perspektive für ihr eigenes Lebensumfeld. Sie lebt gezwungenermaßen hier bei ihrer Schwester, ihr jahrelanger Lebensmittelpunkt ist dahin. Die Schwiegerfamilie hatte sich nach der Festnahme gegen Lokkhi verbündet. Die Schwägerin stichelte immer wieder, holte zuletzt sogar den gemeinsamen Sohn von Lokkhi und ihrem Mann zur Schwiegerfamilie und verbot den Kontakt.

Wie die Gruppe hilft

Die hiesige Landkreis-Gruppe der Friedensinitiative vermittelt nun. Sie hat Kontakt mit der Schwiegerfamilie aufgenommen, an sie appelliert und Lokkhis Perspektive verdeutlicht. Mitglieder suchen auch den Kontakt zu und sprechen mit anderen Menschen aus dem Umfeld der Schwiegerfamilie, die wiederum Einfluss auf diese nehmen könnten. Drei Botschaften werden so vermittelt. Erstens: Lokkhi wurde über viele Jahre hinweg Gewalt angetan, und das sollte anerkannt werden. Zweitens: Ihr Ehemann hat Unrecht getan und sollte dazu stehen. Doch auch, drittens: Er und seine Familie sollen nicht nur als Übertäter gebrandmarkt werden. Der Blick auf ihre Bedürfnisse und Interessen ist ebenso wichtig, um eine tragfähige Lösung zu finden.

Es geht bei dieser Art der Konfliktbearbeitung darum, hinter die Fassade aus Schweigen, Ablehnung oder Aggression zu schauen. Im Fall von Lokkhis Ehemann: Er habe sie gar nicht heiraten wollen, sei von seinen Eltern gezwungen worden. Das habe er ihr immer wieder gesagt. Er sei frustriert von dem perspektivlosen Leben als landwirtschaftlicher Tagelöhner. All das entschuldigt zwar nicht sein Handeln. Aber es lässt zumindest erahnen, warum er immer mehr trank und immer gewalttätiger wurde.

Einen ersten offiziellen Vermittlungsversuch zwischen den Familien gab es bereits, im Beisein von Verwaltungsbeamten: eine Einigungsvertrag auf eine Trennung mit der Auflage, dass der Mann Lokkhi und dem gemeinsamen Sohn Unterstützung zahlt. Damit könnte der schwelende Konflikt überwunden werden. Die Schwiegerfamilie hat den Unterhaltsvorschlag zwar zunächst als zu hoch abgewiesen. Doch es wird einen weiteren Versuch geben. Die Friedensinitiative bereitet das Ganze vor und bleibt mit der Schwiegerfamilie in Kontakt. Der Termin für das nächste Treffen ist bereits anberaumt.

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Praktische Hilfe, damit es weitergehen kann

Bis dahin unterstützt die Friedensinitiative Lokkhi zusätzlich, ganz praktisch. Man hat ihr geholfen, eine Anerkennung auf Schwerbeschädigung zu beantragen, wodurch ihr eine kleine monatliche Rente zusteht. Über zwei weitere staatliche Förderprogramme, in die die Gruppe sie vermittelt hat, soll sie nun ein kleines Haus im Dorf ihrer Schwester zum Wohnen erhalten und eine Kuh, mit der sie den Lebensunterhalt ein Stück weit sichern kann.

Und noch etwas hat die Friedensinitiative in diesem Fall bereits bewirkt: Das Einzelschicksal von Lokkhi ist ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt. Und es wird allmählich verstanden, dass man hinterfragen muss, warum in Fällen häuslicher Gewalt den Frauen eine Mitschuld gegeben wird. Warum man sie immer noch als „Nestbeschmutzerinnen“ sieht, die „Probleme“ innerhalb der als unantastbar geltenden Familie nach außen tragen.

Anstatt einmal genauer hinzuschauen, und die wahre Geschichte zu erkennen.

Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 2/2023 "Frieden machen" der Bangladesch-Zeitschrift NETZ zum Projekt Nachbarschaft in Frieden Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei uns anfordern.