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Neun Friedensmacher*innen erzählen

Sie sind verschieden: Landarbeiter, Schülerin, Gemeindevorsteher, Polizistin und Lehrerin. Doch haben eines gemeinsam: Sie setzen sich aktiv für den Frieden ein. Hier erzählen sie, was sie täglich erleben.

Pradip Pahan (32) aus Rosolpur
Landwirtschaftlicher Arbeiter

Meine Familie und ich, wir sind Adivasis, gehören also einer indigenen Gemeinschaft an. Unsere Vorfahren kamen einst aus Indien hierher. Ich selbst wurde hier geboren. Wir sind längst Bürger*innen Bangladeschs, haben einen Ausweis. Doch viele Leute akzeptieren uns noch immer nicht. Obwohl wir die gleichen Rechte wie sie haben – etwa auf Bildung und Gesundheitsversorgung –, werden uns diese nicht zugestanden. Unsere Siedlung entstand einst, indem wir im Wald Bäume geschlagen und dort kleine Häuser errichtet haben. Das hat die Regierung bis jetzt nicht anerkannt.

Ich arbeite als Tagelöhner auf den Feldern und manchmal auch in einer Ziegelbrennerei. Wenn wir in ein öffentliches Krankenhaus gehen, behandeln uns Leute anders. Im doppelten Wortsinn: Wir bekommen mitunter kein Bett angeboten, müssen auf dem Flur warten. Das Personal hört nicht richtig zu, wenn wir Beschwerden vortragen. Die Menschen sehen uns an, dass wir Indigene sind. 

Unsere Sprache verschwindet allmählich. Wir haben kaum Gelegenheit, sie öffentlich zu gebrauchen. Sprechen Adivasis miteinander in ihrer eigenen Sprache, kommen von Dorfleuten oft böse Blicke, als wollten sie sagen: „Ihr seid in Bangladesch, sprecht Bengalisch!“. Meine Muttersprache ist Nagri. In der Schule wird kein Nagri gelehrt, weil die Lehrerschaft es nicht kennt.

Wir haben eine eigene Festtags-Tradition und spielen gern Musik. Das gefällt einigen muslimisch-bengalischen Familien nicht. Manchmal sind Nachbar*innen deshalb verärgert. Aber: Seit 2022 bin ich in der Friedensinitiative und habe muslimische Freund*innen gewonnen. Man redet nun über solche Dinge: Sie erklärten mir, dass es zu ihren Gebetszeiten wichtig ist, Ruhe zu haben. Und wir achten bei unseren Feiern besser darauf. Das ist eine Frage des Respekts – nicht der Rivalität. Wir hatten zuvor kaum Kontakt zu Muslim*innen. Durch die Friedensinitiative haben wir viel voneinander gelernt. Sie bietet uns eine Plattform. Dort fühle ich mich stark – es ist kollektive Stärke. Und das kann helfen: Wir haben viele Probleme in unserer Nachbarschaft. Vor allem fehlt uns eigenes Land, auch häusliche Gewalt gibt es. Manche indigenen Männer trinken Alkohol, weil sie arm und frustriert sind. Doch sie steigern ihren Frust dadurch nur – und lassen alles an ihren Frauen aus. Ich wusste nie, wie ich damit umgehen soll. In der Friedensarbeit habe ich gelernt, andere Leute einzubeziehen, um solche Fälle zu thematisieren und die Dinge zu ändern. 

Und: Ich weiß jetzt, dass ich ein Mensch bin. Das mag komisch klingen – aber ich habe verstanden, dass ich gleichberechtigt bin, wie alle anderen. Wo man uns doch ein Leben lang das Gegenteil eingeredet hat. Nämlich, dass wir Indigenen schlechter sind.

Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 2/2023 "Frieden machen" der Bangladesch-Zeitschrift NETZ zum Projekt Nachbarschaft in Frieden Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei uns anfordern.

Entgegen häuslicher Gewalt

Frauen erleben schreckliche Dinge. Im Training habe ich gelernt, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen.

Mahfuja Akter, Polizeibeamtin, Mohadevpur
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Azadul Islam Azad (40) aus Mohadevpur
Journalist, verheiratet, zwei Kinder

Ich bin Journalist und habe schnell davon erfahren, als sich hier bei uns eine Friedensinitiative gegründet hat. Dass diese dem Prinzip der Gewaltlosigkeit folgt, fand ich sehr interessant. Im Oktober 2022 wurde ich Mitglied, inzwischen stehe ich unserer Landkreis-Gruppe vor.

Ich schreibe für die nationalen Tageszeitungen „Daily Ittefaq“ und „Jugantor“ sowie für Lokalzeitungen hier in der Region. Und ich beobachte, dass Unruhe, Instabilität und Misstrauen in unserer Gesellschaft zunehmen. Ich möchte etwas dazu beitragen, dies abzubauen und auch ein Zeichen setzen gegen Gewalt in verschiedensten Formen, die man immer wieder beobachten kann. Deshalb engagiere ich mich.

Bei den Treffen der Gruppe werden Konflikte in der Region thematisiert. Diese können recht unterschiedlich sein. In zwei konkreten Fällen haben wir uns bereits aktiv eingeschaltet, einer davon konnte erfolgreich gelöst werden: Eine Frau hat ihren Ehemann verloren und sollte nach dessen Tod, wie es die Rechtslage vorschreibt, den gemeinsamen Hausstand erben. Die Schwiegerfamilie wollte das jedoch verhindern und den Besitz selbst behalten. Die Frau wäre mittellos geworden. Unsere Gruppe hat sich mit der Familie zusammengesetzt und darüber gesprochen. Die Friedensmacher*innen haben zur Rechtslage aufgeklärt und darüberhinaus verdeutlicht, welch fatale Konsequenzen deren Handeln für die Frau haben würde. Die Schwiegerfamilie hat das eingesehen und sich bereiterklärt, ihr den Hausstand nicht streitig zu machen. Es war am Ende eine Einigung in beiderseitigem Einvernehmen.

Mitunter bin ich auch bei Dialogrunden mit lokalen Behörden zugegen und schaue in den Schulen vorbei, wenn dort Aktionen stattfinden. Gerade war ich an der Khajur-Gesamtschule und habe mir das von der Initiative initiierte Sportfest mit Theateraufführung und einer Baumpflanzaktion angesehen. Viele Menschen aus der Umgebung waren dort und haben dadurch auch etwas über den Ansatz der Gewaltlosigkeit erfahren.

Über Fälle, von denen ich bei Gruppentreffen erfahre, berichte ich auch in der Zeitung und den Online-Ausgaben. Das Engagement hat Eindruck nicht nur bei den Leser*innen, sondern auch bei mir selbst hinterlassen. Früher habe ich Berichte über andere Menschen manchmal „von oben herab“ formuliert. Nun aber schaue ich bei solchen Themen noch genauer hin und schreibe mit mehr Empathie. Ich habe bereits viele Fälle von Gewalt beobachtet und immer gedacht: direkt und schnell zur Polizei und zu Gericht. Doch manchmal helfen mehr Zeit und Gespräche dabei, ein Problem genauer zu verstehen und es zielgerichtet lösen zu können. Vor allem im Lokalen: Konflikte können durch genaues Hinschauen und besonnenes Handeln überwunden werden, ohne gleich zu Gericht zu gehen. Denn das kostet nicht nur Geld – allein die Androhung kann Konflikte sogar noch deutlich verstärken und Wut schüren.

Theater für Gerechtigkeit

Unsere Stücke thematisieren Probleme in der Gesellschaft hier auf dem Land. Das Theater soll zur Diskussion anregen, nicht nur Bespaßung sein.

Mosaddek Al Jamil und Dipa Rani Mondal, Mitbegründer einer Theatergruppe
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Faruk Ahmed (50) aus Badalgachi
Leiter der staatlichen Landkreis-Behörde

Gewaltlosigkeit hat eine große Bedeutung, ich schätze sie als Prinzip. Konflikttransformation hingegen war etwas Neues für mich. Ich habe darüber beim Training der Friedensinitiative und bei gemeinsamen Dialogrunden gelernt und versuche seitdem, sie im Alltag anzuwenden.

In Bangladesch gibt es Sozialleistungen, auch explizit für Frauen: Witwenrente, Schwangerengeld, Bedürftigenzahlungen. Nicht immer erhalten Frauen, die das bei der Lokalverwaltung beantragen, ihr Geld. Dann kommen sie zu uns als übergeordnete Behörde und bitten um Unterstützung. Dass Leistungen nicht diejenigen erreichen, die ein Anrecht haben, kommt vor und ist ein strukturelles Problem. Unsere Behörde versucht, solchen Fällen nachzugehen. Aber nicht immer ist das möglich, wenn Geld vor Ort interessengeleitet verteilt wird. Das ist also eine von vielen Herausforderungen, die ich im Rahmen meiner Arbeit beobachte – wobei Gewalt gegen Frauen und Kinderehen ganz oben stehen. Jeden Monat gibt es Fälle.

Das wiederum liegt vor allem an diskriminierenden gesellschaftlichen Normen. Es gibt Mitgift-Traditionen, wodurch Familien mitunter hohe Beiträge – Geld oder Wertgegenstände – geben müssen, um ihre Töchter verheiraten zu können. Sprich: Sie geben einen Beitrag, damit die andere Familie die junge Frau aufnimmt und künftig für sie Sorge trägt. Dabei ist die andere Familie keineswegs immer tatsächlich darauf angewiesen. Das wird mithin sogar zur Prestigefrage: Mein Bekannter bekam zu seiner Hochzeit eine hohe Mitgift, so sollte auch ich möglichst viel fordern.

Es ist komplex. Wird ein Mädchen verheiratet, sprechen die Eltern oft von Sicherheit. Unter dem Schutz eines Ehemanns sei es vor Übergriffen gefeit. Eltern verheiraten ihre Töchter sehr jung, weil sie denken, das sei der beste Weg. Welche Extremformen das annehmen kann, habe ich vor ein paar Jahren erlebt: Wir erfuhren, dass ein Mädchen verheiratet werden soll. Es war erst acht Jahre alt – ein Grundschulkind. Also machte ich mich mit Polizeibeamt*innen und dem Landrat auf zu dem Dorf. Das Mädchen stand da im Brautkleid. Ihr Zukünftiger kam mit seiner Familie in einem Hochzeitsauto angefahren – alles war vorbereitet. Daraufhin haben wir das Ganze gestoppt.

Wir waren geschockt angesichts der verstörenden Szene. Die Familie des Mädchens musste eine Verpflichtungserklärung unterzeichnen, es nicht vor dem gesetzlich festgeschriebenen Alter von 18 Jahren zu verheiraten. Es stellte sich heraus, dass die Familie überhaupt keine Ahnung hatte, welches Unrecht der Tochter angetan wurde. Der Vater war sehr arm, er wusste weder vom gesetzlichen Mindestalter, noch um die psychischen und physischen Folgen, wenn eine Achtjährige zur Ehefrau gemacht wird. Der Bräutigam war selbst noch minderjährig. Aber er hatte Arbeit als Hilfskraft in der Textilindustrie in der Hauptstadt Dhaka. Die Familie des Mädchens dachte, sie müsse künftig keine Not mehr leiden.

Das Engagement der Friedensmacher*innen ist hilfreich, besonders die Dialogtreffen und der Ansatz der Konflikttransformation. Einmal hat die Initiative ein Treffen mit einem Mann organisiert, der nach einer Gewalttat im Gefängnis saß. Im Gespräch erfuhren wir mehr zu den Ursachen seiner Tat. Es gab dann auch eine Unterhaltung mit der Opferfamilie. So wurde es möglich, das Umfeld des Konflikts – wenn er auch noch nicht juristisch abgeschlossen ist – zu befrieden.

Dieser Ansatz ist wichtig für die Gesellschaft. Zwar ist es unabdingbar, dass geltendes Recht durchgesetzt wird. Aber es braucht Wege, um Probleme und die menschliche Dimension dahinter zu verstehen. Vor allem bei häuslicher Gewalt. Wir brauchen beides: Schutz und Vorkehrung. Die Friedensinitiative ist da vorbildhaft. Denn unsere Behörde bekommt nicht alle Fälle mit, vieles wird nicht öffentlich.

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Faruk Ahmed (50) aus Badalgachi
Leiter der staatlichen Landkreis-Behörde

Konflikttransformation hat im Grunde mit all unseren Lebensbereichen zu tun. Ich mache deswegen gerne bei der Friedensinitiative mit. Ich hatte mich schon vorher damit beschäftigt. Nun habe ich noch vieles mehr lernen können.

Transformation bedeutet Wandel. Das Leben ist ständig im Wandel. Und wir Menschen sollten bestrebt sein, diesen positiv zu gestalten. Wir sollten uns selbst und dadurch die Gesellschaft positiv wandeln. Und dazu gehört auch der Umgang mit Konflikten, die es immer gibt – egal, ob in der Familie, in der Schule, im gesellschaftlichen Miteinander.

Die Arbeit der Initiative ist ehrenwert. Hier an unserer Schule stehen Kinder im Fokus – die junge Generation, die einmal die Geschicke der Region lenken soll. Und da Konflikte Teil unseres Lebens sind, ist es wichtig, dass man bereits von der Kindheit an lernt, wie man mit ihnen umgehen kann. Durch den Ansatz der Konflikttransformation bekommen die Schüler*innen Werkzeuge dafür mit.

Wie sich Konfliktlagen zuspitzen können, kenne ich aus meiner Nachbarschaft. Dort haben vor Monaten eine sehr junge muslimische Frau und ein Hindu geheiratet. Heimlich. Sie setzten sich in eine nahegelegene Stadt ab. Die Eltern des Mädchens waren gegen die Beziehung, haben das Paar ausfindig gemacht und Anzeige erstattet. Der Mann sitzt nun im Gefängnis, die Frau kam zunächst in eine Besserungsanstalt für Heranwachsende. Dort zeigte sich, dass sie schwanger ist. Daraufhin hat die eigene Familie sie wieder aufgenommen. Doch die Spannung ist enorm.

Wie es nun weitergehen soll, weiß niemand. Die Eltern fühlen sich beschämt. Ihre Tochter ist durch die Heirat zu einer Hindu-Frau geworden. Die Eltern lehnen das strikt ab. Es ist eine maximal belastende Situation für alle Beteiligten – und selbstverständlich für das ungeborene Kind.

In den Trainings der Friedensinitiative haben wir viel über Diskriminierung gelernt und über Wege, diese zu überwinden. Und wir haben ein Bekenntnis abgelegt: Wir wollen, so gut es geht, zusammenarbeiten für eine gerechte Gesellschaft. Das ist wichtig, denn jeder kann – bewusst oder unbewusst – Diskriminierung begünstigen. Ich als Lehrerin etwa habe eine verantwortungsvolle Position, ich bin für die Kinder der sechsten bis zehnten Klassen verantwortlich. Das fängt im Kleinsten an: Kinder aus indigenen Gemeinschaften sitzen im Unterricht oft hinten und bekommen wenig mit – auch weil andere sie nicht vor lassen und nicht neben ihnen sitzen wollen. Ich sage dann: Jeder darf mal vorne sitzen, wechselt euch bitte ab.

Gegenseitige Abgrenzung findet nicht bewusst statt. Man bekommt sowas mitgegeben, weil die Älteren es so gelernt haben und weitergeben. Manchmal kommen Schulkinder im Rahmen einer Veranstaltung zu uns nach Hause. Dann biete ich ihnen Kekse und Tee an. Manche Schüler*innen aus Hindu-Familien sagen aber: Ich soll nichts von muslimischen Familien annehmen – das hat meine Oma schon immer gesagt.

Dieses Denken können wir überwinden, indem wir Dinge gemeinsam tun, Spaß dabei haben und Diskriminierung immer wieder thematisieren: Im Rahmen der Friedensinitiative haben wir Debattierrunden, Aufsatzwettbewerbe, Gedichtvorträge und vieles mehr organisiert, bei dem wir uns mit Missständen auseinandersetzen. Schüler*innen motivieren sich gegenseitig, neue Freundschaften entstehen. Die Verbindung von Pädagog*in und Kind verbessert sich auch, denn wir werden mit einbezogen, machen beim Sportfest und bei Spielen mit. So verbringen wir mehr Zeit gemeinsam, und das Miteinander wird gestärkt.

Anwar Hossain (60) aus Chakrail
Gemeinderatsvorsitzender, verheiratet, zwei Kinder und ein Enkelkind

Man hat mich zum Gründungstreffen der Friedensinitiative hier vor Ort eingeladen. Dort wurde erklärt, was die Gruppe möchte: Das gesellschaftliche Miteinander stärken, Konflikte aufspüren und gewaltfrei transformieren. Und ich dachte: Ja, das ist sinnvoll. Also war ich auch im Anschluss immer wieder bei Dialogtreffen dabei. Bei diesen kommen Friedensmacher*innen mit den Gemeindeautoritäten wie religiösen Vorsteher*innen, Lehrkräften, Behörden und mir als Gemeinderatsvorsitzendem zusammen. Es ist ein Forum, in dem wir uns austauschen zu Problemen, Erfolgen und der generellen Entwicklung der Region.

Der Ansatz der Gewaltfreiheit ist wichtig, weil er universell ist. Ich versuche das auch weiterzugeben, etwa bei Schiedsgerichten im Dorf, den sogenannten Shalishs, denen ich oft beiwohne. Auch da geht es um Konflikte, und ein transformativer Ansatz kann helfen. Streit um Landnutzung ist ein großes Problem hier. Dieser artet oft in Gewalt und körperliche Auseinandersetzungen aus. Es kann aber auch banal sein: Die Kuh des einen grast auf der Weide eines anderen. Das bringt Streit, und der will beigelegt werden. Wo setzt man an? Die Initiative hat uns konkrete Methoden gezeigt, eine davon ist das Kartieren: Wir notieren, wer direkt an dem Konflikt beteiligt ist, welche Personen und Gruppen indirekt involviert sind und wer den Streitparteien nahesteht. So können wir Gespräche führen und auf die Streitenden eingehen. Wenn wir dadurch im Vertrauen vermitteln können, ist schon viel erreicht.

Menschen sind oft auf sich selbst bedacht, auf ihren eigenen Vorteil. Wenn etwa Besitz unter mehreren Erbenden geteilt werden muss, gibt es für jeden weniger. Schließt man aber etwa den Jüngsten aus, bekommt man mehr. Dieses Denken ist leider stark ausgeprägt. Hinzu kommt, dass die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft ungleich sind. Wer Macht hat, bekommt mehr Ressourcen, mehr Anerkennung, mehr Kraft vor dem Gesetz. Korruption und Vetternwirtschaft sind da nicht weit.

Die Bedürftigkeit in der Gegend hat sich zwar insgesamt geschmälert. Noch etwa ein Drittel der Familien kann keine vollwertigen drei Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen, früher waren es deutlich mehr. Doch heute sind die Herausforderungen andere: Geringverdienende wie Rikschafahrer können ihre Kinder inzwischen in die Schule schicken, sie haben aber kaum Geld für Unterrichtsmaterial. Das ist die neue Dynamik der Armut. Der Frieden in den Dorfgemeinschaften wird auch durch die sexuelle Belästigung jugendlicher Mädchen sowie Scheidungsfälle herausgefordert.

In einem Fall hat ein junges Pärchen eine Beziehung geführt und ohne das Einverständnis der Familien geheiratet. Als die Eltern des Jungen davon erfuhren, setzten sie das Mädchen einfach vor die Tür. Sie haben über ihr Schicksal entschieden, ohne dass sie eine Absicherung hatte. So entstehen Familienfehden. Außerdem kommt es etwa vier- bis fünfmal im Monat vor, dass Heranwachsende vor dem gesetzlichen Mindestalter verheiratet werden. Die Zahl nimmt glücklicherweise ab, weil die Regierung dem Thema den Kampf angesagt hat und auch die Friedensmacher*innen sich sehr engagieren.

Diese sind Menschen, die hier wohnen, Bürger*innen dieses Landes, die ihrer Region etwas Gutes tun wollen. Selbstverständlich gibt es auch staatliche Programme, Regeln und Maßnahmen dafür – Recht und Gesetz also. Das weiß ich als verantwortlicher Politiker am besten. Aber die Initiative leistet darüberhinaus Beziehungsarbeit. Sie fördert gegenseitigen Respekt, Verständnis und Harmonie in der Gesellschaft.

Nadira Akter (14) aus Dhakra
Schülerin, aktiv im Selbstverteidigungskurs

Leute von der Friedensinitiative kamen an unsere Schule, sie haben mit dem Direktor und meinem Lehrer über ihre Arbeit gesprochen. Dabei erklärten sie, dass es Selbstverteidigungskurse geben soll. Weil Mädchen häufig belästigt werden und sich selten wehren können. Das wissen ich und meine Freundinnen am besten. Unser Lehrer fragte dann, wer mitmachen möchte. Ich hatte sofort Lust, habe aber zuerst meine Eltern um Erlaubnis gebeten. Sie wollten wissen, was ich denn da machen würde. Ich sagte, ich kann lernen, mich selbst zu behaupten. Das fanden sie gut.

Warum ich das machen wollte? Es kommt oft vor, dass Jungs uns ärgern oder auch richtig schlimm mobben. Das ist meist sehr anzüglich und passiert sogar auf offener Straße. Sie rufen uns schweinische Wörter hinterher, spucken vor uns auf den Weg. Nicht alle Jungs sind schlecht, aber besonders in der Gruppe verhalten sich manche sehr böse. Und es sind oft ältere aus anderen Gegenden, die so etwas machen. Ich habe eine Zeit lang einen Nachhilfekurs in einem anderen Dorf besucht, musste jeden Tag vier Kilometer dorthin laufen. Man mag gar nicht glauben, wie oft und regelmäßig ich da solche Beleidigungen gehört habe. Worte, die ich gar nicht selbst wiedergeben will.

So etwas schüchtert einen ein. Allein habe ich mich nie getraut, auch mal Widerworte zu geben. Wenn ich mit Freundinnen unterwegs war und wir den Jungen gesagt haben: Hört auf!, hat sie das nur noch mehr angestachelt. Aber es ist doch ganz natürlich, dass man sich wehren will, wenn man von jemandem gemein behandelt wird. Das Selbstverteidigungstraining war also genau das Richtige.

In Bangladesch macht es einen Unterschied, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist. Jungs können kommen und gehen, wann und wohin sie wollen. Als Mädchen hier auf dem Land war es mir nicht mal erlaubt, raus zum Marktplatz zu gehen, um Medikamente zu holen, als meine Mutter krank war. Die Eltern sagen, sie hätten Angst um uns. Angst, dass etwas passiert, weil wir wehrlos sind. Das sei der Grund. Aber das stimmt so nicht. In der Familie, in der Schule und eigentlich überall, wo Dinge entschieden werden, hört niemand auf uns. Das ist frustrierend. Und das wirkt sich auf unser späteres Leben aus: Männer setzen sich immer durch, sie haben mehr Kraft und mehr Macht. Im Haushalt können Frauen heutzutage zwar Entscheidungen treffen, aber darüber hinaus kaum.

Vor dem Selbstverteidigungskurs hatte ich noch nie ein solches körperliches Training gemacht. Aber es fühlte sich gut an. Ich habe mich gleich stark gefühlt. Es geht aber keineswegs nur um Kraft. Denn vor dem Training haben wir zunächst gelernt, was das Ganze eigentlich soll: Wir wollen niemanden angreifen und niemandem schaden. Es geht ums Reagieren. Wir wollen nur in der Lage sein, uns wehren zu können. Und es ist vor allem wichtig für unser Selbstwertgefühl, es stärkt unser Selbstbewusstsein.

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Was ich lerne, gebe ich weiter. Ich habe jetzt gut ein Dutzend Mädchen an meiner Schule angelernt und auch einige Kinder in meiner Nachbarschaft. Die Leute hier wissen jetzt genau, was ich mache, wenn ich meinen weißen Trainingsanzug trage und aus dem Haus gehe. Sie sind – genau wie meine Eltern – stolz, dass jemand von hier so etwas Besonderes macht. Und: Auch meine sieben Jahre alte Schwester lernt von mir. Wir machen Übungen, eher zum Spaß. Aber sie versteht dadurch bereits, wie wichtig es ist, sich durchzusetzen im Leben – ganz besonders als Mädchen.

Protokolle: Afsana Binte Amin, Dr. Ashrafuzzaman Khan, Nurun Naher Shoma, Sven Wagner (Fotos)

Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 2/2023 "Frieden machen" der Bangladesch-Zeitschrift NETZ zum Projekt Nachbarschaft in Frieden Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei uns anfordern.