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Gemeinsam Gewalt überwinden

Der Kampf um Ressourcen im Angesicht der Klimakrise und von Profitinteressen beschäftigt die Friedensinitiative oft. Denn Gewalt ist im Spiel und ein langer Atem nötig, um den Frieden zu sichern. Aber: Es kann funktionieren, auch mit durchaus kreativen Methoden.

Von Sven Wagner

Eines der größten Konfliktfelder, von dem man immer wieder besonders im Nordwesten Bangladeschs hört, ist die Nutzung von Land. Viele Menschen besitzen weder eigenen Wohnraum noch landwirtschaftliche Flächen. Ein Vorbericht zum Landwirtschafts-Zensus 2019 zeigte, dass ein Viertel der Haushalte in ländlichen Regionen kein eigenes Land hat – das sind hochgerechnet mehr als 17 Millionen Menschen, also fast ein Zehntel der Gesamtbevölkerung Bangladeschs. Die Menschen leben nur geduldet in Siedlungen an Dorfrändern, Flussufern oder Bahnschienen. Paradoxerweise arbeitet jedoch ein Großteil von ihnen auf jenen Feldern wohlhabender Großgrundbesitzer und trägt so zur Versorgung der Nation bei.

Wenn von Landkonflikten die Rede ist, geht es aber nicht nur um Wohnraum, sondern auch um den Zugang zu Ressourcen, die in öffentlicher Hand sind oder bereits über Generationen hinweg als gesellschaftliches Gemeingut genutzt werden. Denn vielen Menschen ist auch der Zugang zu Wasser in Gestalt von Teichen und Bächen oder zu Wäldern verwehrt. So sind Land und Ressourcen besonders ungerecht verteilt: wenige Menschen besitzen viel, viele Menschen besitzen wenig bis nichts. Dabei ist die Land-, Wasser- und Waldnutzung elementar für die Existenz, die Versorgung und die Lebensweise der Menschen im am dichtesten besiedelten Flächenland der Erde. Wer Land besitzt, hat Platz zum Leben, kann Reis und Gemüse anbauen und Vieh halten – Landwirtschaft ist im nicht-urbanen Raum Bangladeschs nach wie vor die wichtigste Lebensgrundlange. Zugang zu Wasser bedeutet: sich und seine Kleidung waschen, Felder bewässern und Tiere tränken zu können. Und selbstverständlich auch, Trinkwasser zur Verfügung zu haben. Raum und Ressourcen sind auch in kultureller Hinsicht essenziell: Menschen brauchen beides für religiöse Aktivitäten, Feste, Gottesdienste.

Je mehr sich Bangladesch wirtschaftlich und infrastrukturell entwickelt, und je weiter die Bevölkerung wächst, desto knapper werden die Ressourcen – insbesondere die schiere Fläche an verfügbarem Land. Die Folgen des Klimawandels verstärken das, indem durch Flusserosion Uferland wegbricht; kultivierbare Flächen werden durch Dürren und Überflutungen zeitweise unbrauchbar. Und wo im ländlichen Raum Unternehmen, Großgrundbesitzer*innen, Mittelstandsfamilien und Durchschnittsverdienende bereits um die Ressourcen „kämpfen“, geraten andere aus dem Fokus: landlose Familien, Menschen in extremer Armut und indigene Gemeinschaften. Es sind jene, die in der Gesellschaft am wenigsten Geld, Fürsprecher*innen und Einfluss haben.

Entgegen häuslicher Gewalt

Frauen erleben schreckliche Dinge. Im Training habe ich gelernt, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen.

Mahfuja Akter, Polizeibeamtin, Mohadevpur
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Nicht selten gewaltvoll

Eigentlich gibt es ein Recht auf Land. Es gibt staatseigenes sogenanntes Khash-Land, das Menschen, die keins zum Leben haben, zur Verfügung gestellt werden sollte. In der Praxis gelingt das selten. Khash-Land ist umkämpft, politisch einflussreiche Interessengruppen versuchen, sich daran zu bereichern. Dass andere dringend darauf angewiesen sind, wird ignoriert. Aber auch bei bestehenden Siedlungsverhältnissen kommt es häufig zu Auseinandersetzungen, nicht selten ist Gewalt im Spiel. Die Lage ist sehr komplex und kompliziert: Konflikte reichen teils weit in die Geschichte zurück, als Bangladesch noch Teil des britischen Kolonialreichs und später Pakistans war. Es geht um fehlende Dokumente, die Landbesitz belegen, um Flucht und Vertreibung während des Unabhängigkeitskampfes. Es geht aber genauso um Familien, die ihr Land seit Generationen genutzt haben und irgendwann von Schlägertrupps vertrieben wurden. Und um einflussreiche Leute, die plötzlich einfach Bäume pflanzen und Zäune errichten, um so Fakten zu schaffen.

Reist man durch die Region und hört Betroffenen zu, bekommt man den Eindruck, dass es vielerorts unter der Oberfläche brodelt. Ein nicht immer offensichtlicher Kampf mit sehr ungleichen Bedingungen: auf der einen Seite wohlhabende einflussreiche Leute, die Geld verdienen wollen. Auf der anderen Seite besitzlose Arme, deren kleine Existenzgrundlage ihnen oftmals über Nacht genommen wird. Menschen, denen es scheinbar kaum möglich ist, sich zu wehren. Und in der Mitte eine Verwaltung, die zur Lösung von Konflikten beitragen will, es aber oft nicht kann. Weil sie nichts über konkrete Fälle weiß, selbst zu schwach ist oder andere Sorgen hat.

Besuch in Mohadevpur, einem Landkreis im Nordwesten. Gut 85 Prozent der Menschen arbeiten hier in der Landwirtschaft, wie überall in Bangladesch ist die große Mehrheit der Menschen muslimisch, aber es gibt vergleichsweise viele indigene Gemeinschaften und Hindus – so wie Chetuna Rani und Sorup Mondal, beide Anfang 30. Rani ist verheiratet, Hausfrau und hat eine Tochter, Mondal arbeitet im öffentlichen Dienst der Lokalverwaltung. Seit Ende 2022 engagieren sich beide ehrenamtlich in der Friedensinitiative, die sich der gewaltfreien Transformation von Konflikten verschrieben hat. Wöchentlich trifft sich ihre Landkreis-Gruppe, zu Beginn haben die beiden Trainings erhalten, um Methoden der Konfliktbearbeitung zu lernen. „Ja, es gibt hier Diskriminierung“, sagen Rani und Mondal. „Es gibt Konflikte – vor allem wegen Land.“ Einen von vielen Fällen, der das große Problem der Landkonflikte beispielhaft zeigt, bearbeiten sie gerade.

Die Geschichte geht so: Eine indigene Gemeinschaft lebte seit mehreren Generationen auf einem Hektar von ihren Vorfahren geerbten Landes, auf dem sie Wohnhäuser besaßen und Feldfrüchte anbauten. Vor gut fünf Jahren tauchten dort Fremde auf und behaupteten, das Land gehöre ihnen. Sie zwangen die Indigenen gewaltsam, das Grundstück zu räumen. Diese hatten keine Dokumente, um zu belegen, dass es tatsächlich ihr Land war, und mussten unter dem Druck gehen. 2020 gab es in der Region eine Erhebung des Landwirtschaftsamts. Dabei hat sich herausgestellt, dass das Land den Indigenen tatsächlich gehört, es wurde eine Urkunde noch aus Zeiten vor der Unabhängigkeit gefunden. Ein Lokalgericht gab ihnen Recht. Doch als sie zurückkehren wollten, verweigerten die Landbesetzer den Zugang und reichten ihrerseits Klage ein. Begründung: Die gefundene Urkunde sei fingiert gewesen. Daraufhin kamen die Indigenen wiederum mit traditionellen Waffen, Pfeil und Bogen. Es kam zum Kampf, mehrere Menschen wurden verletzt.

Klärung abseits der Schuldfrage

Es ist ein treffendes Beispiel dafür, woran die Friedensinitiative arbeitet: Abseits der Schuldfrage und einer juristischen Klärung des Konflikts sind beide Parteien zu Feinden geworden, die sich misstrauen und einander ablehnen. Das Gericht hat zwar eine Entscheidung getroffen, doch diese hat den Konflikt nicht beendet. Beide Gruppen haben gegensätzliche Interessen und rücken nicht davon ab. Die entscheidende Frage ist nun: Wie kann man diesen Konflikt transformieren, ohne dass es weitere Gewalt gibt?

Daran arbeiten Rani und Mondal: Sie schauen sich zuerst an, welche Personen genau beteiligt sind. Sie sammeln Informationen zu den Leuten, um herauszubekommen, welche Absichten sie haben: Woher und warum kamen die Landbesetzer? Was könnten sie mit dem Land vorhaben? Könnte jemand sie zu der Aktion angestachelt haben? Und die indigene Gemeinschaft: Warum hatte diese nie eine Landbesitzurkunde? Was würde die Landnahme für sie bedeuten? Und warum schrecken sie nicht davor zurück, Waffen einzusetzen?

Friedensmacher*innen bei einem Treffen in Mathurapur. Sie bearbeiten einen Konflikt mit der Methode des Actor-Mappings. Damit werden zunächst die Beteiligten ermittelt.

Danach suchen die Friedensmacher*innen den Kontakt zu beiden Streitparteien. Ihre Landkreis- Gruppe organisiert Treffen, um deren Sichtweisen und Wünsche zu erfahren – und später beide an einen Tisch zu bekommen. Dort werden Vereinbarungen getroffen, die beide Parteien akzeptieren. Im Vordergrund stehen das Ende der Gewalt und die Frage, wie die unterschiedlichen Bedürfnisse weitestgehend miteinander vereint werden können. Es geht viel um Reden und den Dialog. Friede und Harmonie sind Worte, die oft fallen, wenn Rani und Mondal sprechen.

„Es ist ein zermürbender Konflikt“, sagt Rani, die noch relativ am Anfang des Falls steht. Erst vor einigen Monaten hat ihn jemand in der Landkreis-Gruppe eingebracht. „Beide Parteien vertrauen einander nicht und respektieren sich nicht“, sagt sie. Das sei keine Grundlage für ein Zusammenleben.

Es gibt zahlreiche ähnliche Fälle, die Friedensmacher*innen aus dem Nordwesten Bangladeschs schildern. Fälle, die zeigen, dass ein sehr langer Atem nötig ist. Und dass Gewaltlosigkeit nicht einfach ein dahergeredeter Begriff, sondern wesentlich ist, auch im Kampf gegen Armut. Aber vor allem: Es gibt Fälle, die gelöst wurden und Hoffnung machen – siehe Badalgachi.

Der dortige Gemeinderatsvorsitzende Anowar Hossain, 60, grau-weißer Bart und freundliches Gesicht, empfängt in seinem Haus und holt zu einem längeren Monolog aus: „Zuletzt gab es wieder einen Landkonflikt bei uns. Neun indigene Familien leben in einer Siedlung fernab der Hauptstraße. Der einzige Verbindungsweg von ihren Häusern dorthin war ein schmaler Pfad, kaum einen Fuß breit. In der Regenzeit war er nicht nutzbar. Aber: Kinder mussten regelmäßig dort entlang auf dem Weg zur Schule. Kranke mussten dort entlang auf dem Weg ins Hospital. Schon seit Jahren ging das so – ich habe das allerdings schlicht nicht gewusst. Die Leute wollten den Pfad verbreitern, sodass zumindest eine Transport-Rikscha darüberfahren kann. Die Eigentümer*innen des angrenzenden Landes weigerten sich lange, sie ignorierten die Anfragen einfach. Schließlich haben wir uns zusammengesetzt, uns ausgetauscht und ihnen klargemacht, wie wichtig die Straße für die Familien ist. Was ist etwa, wenn eine schwangere Frau plötzlich ins Krankenhaus muss? Sollen die Leute dann einen Holzbalken schultern und sie in einem drangehängten Tragetuch schleppen, wie das bisher der Fall war? Nein. Der Weg wurde schließlich gebaut – im guten Einvernehmen mit den Landbesitzer*innen. Darüberhinaus haben wir im Gemeinderat durch die Aktion überhaupt erst festgestellt, dass diese Familien auch ein Anrecht auf staatliche Sozialleistungen haben, weil sie bedürftig sind. Sie waren bisher aber in keiner offiziellen Liste verzeichnet. Also haben wir auch das noch umgesetzt.“

Ja, das ist sinnvoll

Man hat mich zum Gründungstreffen der Friedensinitiative hier vor Ort eingeladen. Dort wurde erklärt, was die Gruppe möchte: Das gesellschaftliche Miteinander stärken, Konflikte aufspüren und gewaltfrei transformieren.

Anowar Hossain, Gemeinderatsvorsitzender aus Chakrail
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Wie kann man ins Gespräch kommen?

Eine andere Landkreis-Gruppe in Mathurapur, ein paar Dutzend Kilometer weiter, kommt an einem Samstagnachmittag in einem Klassenzimmer der örtlichen Sekundarschule zusammen. Für die Treffen stellt Schuldirektor Mamunur Rashid gern Räume zur Verfügung. Die Gruppe sitzt seit einer halben Stunde über einer selbstgezeichneten Karte: Es geht um Landstreitigkeiten, man notiert die Namen der Konfliktparteien, deren enge Bezugspersonen und „einflussreiche Leute“. Wer ist bereit, mit wem zu sprechen? Wer lehnt den Kontakt ab? Wer in der Nachbarschaft könnte vielleicht vermitteln? So soll ein Ansatz gefunden werden, um ins Gespräch zu kommen und den Konflikt, der viele Menschen betrifft, öffentlich zu thematisieren.

Die Gruppe hat erst kürzlich einen größeren Landstreit beenden können – wenn auch anders als gedacht. Das Gelände der örtlichen Schule wird wegen der großen Freifläche auch als Platz für den Viehmarkt genutzt. Montags und freitags kommen hier allwöchentlich hunderte Menschen zusammen, um Rinder, Ziegen und Schafe zu handeln, wie es in Bangladesch üblich ist. Am nächsten Morgen sah der Vorplatz der Schule jeweils entsprechend übel aus: Schlammmassen, Dreck und Müll waren zurückgeblieben. Die Schüler*innen konnten die Fläche nicht nutzen, auf der sie eigentlich ihre Pausen verbringen, Sport machen und spielen. Noch schwerwiegender aber war, dass an Montagen enorm viel Trubel rund um die Schule herrschte, es viel Verkehr gab und Eltern um die Sicherheit ihrer Kinder fürchteten.

Man saß lange zusammen, erklären die Mitglieder der Friedensinitiative. Sie selbst, das Schulkomitee und der Marktvorstand. Die Lösung schließlich: Die Marktbetreiber*innen haben sich verpflichtet, nach ihren Veranstaltungen sauberzumachen und den Platz herzurichten. Und die Schule hat sich entschieden, den Unterricht von Montag auf Samstag zu verlegen. So haben die Schulkinder nun an jenem Markttag frei und Eltern müssen sich nicht mehr um deren Sicherheit sorgen. Ein ungewöhnlicher, kreativer Weg. Aber ein Weg, der funktioniert – denn die Bedürfnisse beide Konfliktparteien werden bestmöglich berücksichtigt.

Bedürfnisse verstehen

„Wir wollen keine gewaltsamen Auseinandersetzungen und keine dauerhaften Spannungen in unserem Ort“, beschreibt Digha. Denn Gewalt und Hass belasteten das gesamte soziale Gefüge. Sie sieht die Indigenen im Recht, die ohne das Land keine Lebensgrundlage haben. Die junge Frau weiß aber, dass eine Konfrontation und Schuldzuweisungen nicht viel bringen. Die Landkreis-Gruppe der Friedensinitiative versuche zunächst herauszufinden, was genau der Beweggrund der Großgrundbesitzer war, das Land nach Jahrzehnten plötzlich zu verkaufen. Dann geht es darum, ihnen die Bedürfnisse der Vertriebenen nahezubringen. Und auch zu appellieren: „Die Familie ist anerkannt und verwurzelt in der Region, sie sollte doch auch ein Interesse an Frieden haben“, sagt der Gruppenvorsitzende, selbst Indigener, der den Fall eingebracht hat. „Und mit ihrer gesellschaftlichen Stellung geht eine Verantwortung einher.“ Es ist eines von vielen Argumenten und ein Hebel, gegenseitiges Verständnis und Einvernehmen zu schaffen. Damit auch dieser Konflikt bald überwunden werden kann.

Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 2/2023 "Frieden machen" der Bangladesch-Zeitschrift NETZ zum Projekt Nachbarschaft in Frieden Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei uns anfordern.