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„Die Wunde des Kolonialismus ist immer noch da“ Städtische Dekolonisierung in Berlin

(...) / Die Kolonialzeit ist schon lange vorbei / hab' ich gedacht /
Doch ich merke die ist immer noch ein Teil von meiner Stadt /
So viel Leid hat sie uns damals nach Afrika gebracht /
In jedem Wort hab' ich den Schmerz meiner Vorfahren verpackt /
Die deutsche Kolonialgeschichte hat noch Spuren hinterlassen / tut übertrieben weh /
Doch ich versuche nicht zu hassen /
Seit 100 Jahren sieht man auf Straßenschildern Namen von Personen /
die in Afrika viele Menschen versklavten / (...)
Ja, es waren deutsche Kolonisten / Menschen ohne Herz /
Warum werden solche Monster mit Straßennamen geehrt / (...)
Swakopmund, eine Stadt in Namibia /
wo es wegen der deutschen Kolonisierung keinen Frieden gab /
die ersten Konzentrationslager wurden dort gebaut /
1904 /
also schon lange vor dem Holocaust / (...)
Ich sag' es deutlich, damit es jeder versteht / Carl Peters tötete Menschen /
Aber bekam die Petersallee / Viele weitere Kolonialverbrecher werden geehrt /
Es wird vertuscht und in der Schule wird es keinem gelehrt / (...)

Textauszug aus dem Lied "Spuren der Kolonialzeit" (2017) von Matondo, einzusehen über diverse Videoportale im Internet.

Die Liedzeilen des Berliner Musikers Matondo zeigen auf, dass in Deutschland Kolonialist*innen im öffentlichen Raum geehrt werden, die rassistische Verbrechen und Gräueltaten begangen haben. Im Fall des sogenannten Afrikanischen Viertels im Berliner Wedding sind dies jene, die während der Deutschen Kolonialzeit Schwarze Menschen unterdrückt, vertrieben und ermordet haben. Und deren weißes Überlegenheitsdenken und „Forschungsarbeit“ das Fundament für ein rassistisches Weltbild schufen, welches in Genoziden gipfelte und im Nationalsozialismus seine Kontinuität fand. So erinnert die im Lied angesprochene Petersallee im Afrikanischen Viertel an Carl Peters, der als Reichskommissar in Deutsch-Ostafrika (unter anderen das heutige Tansania) eine Terrorherrschaft installierte und dort auch den Namen „Blutige Hand“ trug. Weitere Beispiele aus dem Berliner Wedding lassen sich anführen: Die Lüderitzstraße ist benannt nach Adolf Lüderitz, einem Kaufmann aus Bremen, der im heutigen Namibia die Gruppe der Nama um einen Großteil ihres Landes betrog. Dieser Landverlust trägt noch heute zur strukturellen Benachteiligung vieler Nama bei. Gustav Nachtigal, nach dem der Nachtigalplatz benannt ist, nahm in der kolonialen Aneignung von Kamerun, Togo und Deutsch-Südwestafrika (heutiges Namibia) eine zentrale Rolle ein.

In Berlin existiert eine Vielzahl von Initiativen und Bündnissen, die sich für die Dekolonisierung der Stadt und ihrer Erinnerungskultur einsetzen. An verschiedensten Stellen und in unterschiedlichen Bereichen setzen sich diese Initiativen für die Auseinandersetzung mit und Sichtbarmachung von kolonialer Gewaltgeschichte in der Berliner Stadtlandschaft ein. Seit über 300 Jahren leben Menschen mit diasporischen Bezügen in Berlin, ihre Perspektiven und Erinnerungen finden jedoch häufig keine Repräsentation in der städtischen Erinnerungslandschaft. Die Dekolonisierung der Stadt bedeutet für diese Initiativen, einseitige und gesellschaftlich dominante Geschichtsnarrative mit marginalisierten Geschichten zu durchkreuzen und ihre Verwobenheit mit diasporischen Perspektiven aufzuzeigen.

Dabei setzen sich Initiativen wie Berlin Postkolonial, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) unter anderem in dem stadtweiten Organisationsbündnis Decolonize Berlin für eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gestaltung des öffentlichen Raumes und für das Sichtbarmachen widerständischer Geschichte(n) ein. So fordern diese Initiativen seit über zehn Jahre die Umwidmung von kolonial-rassistisch benannten Straßen und Plätzen. Die Petersallee, die Lüderitzstraße und der Nachtigalplatz sind nur drei dieser Orte im Afrikanischen Viertel, die durch ihre Benennung deutsche Kolonialverbrecher ehren. In Berlin gibt es insgesamt zehn Straßen, die laut Dekolonisierungsaktivist*innen auf Menschen der Widerstandsbewegungen gegen die deutsche Kolonialherrschaft umgewidmet werden sollen. Mnyaka Sururu Mboro setzt sich beispielsweise für die Umbenennung der Petersallee ein: „Ich fordere die Umbenennung der Petersallee, da ihr Namensgeber ‚Hänge-Peters‘ viele von meinen Landsleuten brutal umgebracht hat. Ich möchte, dass sie in Zukunft Maji-Maji-Allee heißt und die Deutschen an den größten Widerstandskrieg erinnert, der je gegen ihre Kolonialherrschaft geführt wurde. Es ist erschreckend, dass es hier noch immer so viele Denkmäler und Straßennamen gibt, die Kolonialverbrecher ehren, während unser Befreiungskampf nirgends erwähnt wird.“ Die Wunde des Kolonialismus sei immer noch da, so Mboro.

In diesem Jahr werden die langjährigen Forderungen der Dekolonisierungsinitiativen, welche immer wieder auf städtische Behörden und die Berliner Öffentlichkeit zugegangen sind, aufgegriffen. Der Kulturausschuss des Bezirks Berlin-Mitte hat in seiner Sitzung am 11. April 2018 empfohlen, die Lüderitzstraße, den Nachtigalplatz und die Petersallee im Afrikanischen Viertel zur Würdigung des afrikanischen Widerstandskampfes gegen Kolonialismus, Rassismus und Apartheid umzubenennen. Laut einer Pressemeldung von Decolonize Berlin „wird [dabei] der konkrete Bezug zur Geschichte der verschiedenen ehemals deutschen Kolonien weitgehend gewahrt, die Perspektive auf die Kolonialgeschichte jedoch umgekehrt (…). So werden in Zukunft der Nama-Widerstandsführer Cornelius Fredericks, die in Douala herrschende widerständige Familie Bell aus Kamerun, die Antiapartheid-Kämpferin und Herero-Nationalheldin Anna Mungunda Namen werden im Afrikanischen Viertel nun nicht nur erstmals Menschen aus Afrika geehrt. Es werden die gewürdigt, die im Widerstand gegen die deutschen Kolonialherren ihr Leben ließen. Das Afrikanische Viertel kann erst jetzt mit gutem Recht als ‚afrikanisch‘ und als kritischer Lern- und Erinnerungsort zum deutschen Kolonialismus betrachtet werden. Wir erwarten nun, dass an den neuen Platz- und Straßenund die mehr als 20 Gemeinschaften des heutigen Tansanias vereinende Maji-Maji-Widerstandsbewegung gegen die deutschen Kolonialherren (1905-07) gewürdigt. Die bisherige Petersallee wird dabei namentlich in Maji-Maji-Allee und Anna-Mungunda-Allee geteilt.“

Tahir Della (ISD und Decolonize Berlin) sieht die Umbenennung als großen Erfolg: „Mit den neuen Namen werden im Afrikanischen Viertel nun nicht nur erstmals Menschen aus Afrika geehrt. Es werden die gewürdigt, die im Widerstand gegen die deutschen Kolonialherren ihr Leben ließen. Das Afrikanische Viertel kann erst jetzt mit gutem Recht als ‚afrikanisch‘ und als kritischer Lern- und Erinnerungsort zum deutschen Kolonialismus betrachtet werden. Wir erwarten nun, dass an den neuen Platz- und Straßennamen Informationsstelen installiert werden, welche den alten Namen, die Gründe für die Umbenennung und die neuen Namen erläutern. Die Umbenennungen könnten dann nicht nur vergleichbare Initiativen in anderen Städten anregen, sondern diesen auch als Modell dienen.“ Auf diese Weise wird die Chance ergriffen, die Verwobenheit mit diasporischen und widerständischen Geschichten sichtbar zu machen und die Geschichte deutscher Migrationsgesellschaft multiperspektivisch zu erzählen.

Dass die Umbenennung von Straßennamen in Berlin und in anderen deutschen Städten keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt nicht nur die Tatsache, dass es über zehn Jahre Überzeugungsarbeit bis zur Umbenennung im Afrikanischen Viertel bedurfte. Unter anderen kämpfen Berlins Schwarze und afrikanische Organisationen seit Jahren für die Umbenennung der M*-Straße in Berlin-Mitte.1) Der deutsch-ghanaische Aktivist und Wissenschaftler Joshua Kwesi Aikins erklärt, dass die Geschichte der Straße eng verknüpft ist mit dem brandenburgischen Versklavungshandel. “M*“ oder „Hofm*“, so Aikins, wurden diejenigen Afrikaner*innen genannt, die im Zuge des deutschen Kolonialismus nach Europa verschleppt und versklavt wurden, um an den absolutistischen Höfen zu dienen. „Sie wurden zur damaligen Zeit außerhalb der Stadttore in Kasernen untergebracht, da wo heute die M*-Straße verläuft. Auf Grund dessen hieß sie zuerst im Volksmund und später offiziell so. Das ist eine ganz klare rassistische Tradition.“

Diese rassistische Tradition sowie die Erinnerung von Kolonialist*innen finden sich in Orten in ganz Deutschland wieder und diskriminieren Schwarze Menschen und People of Color (s. Glossar) landesweit: zum Beispiel die Wissmann-Straße in Kassel, die nach Hermann von Wissmann benannt ist, der durch militärische Expeditionen maßgeblich zur Kolonisierung des Kongo beitrug und die Eckerstraße in Freiburg, benannt nach dem Anthropologen Alexander Ecker, der die Schädelsammlung der Universität Freiburg zum Zwecke rassistischer Forschung begründete. Zudem gibt es das Steigenberger Hotel „Drei M*“ in Augsburg oder die zahlreichen M*-Apotheken etwa in Celle, Nürnberg, Sarstedt oder in Frankfurt am Main. Im Streit um eine mögliche Umbenennung der Frankfurter Apotheke lehnt der CDU-Fraktionsvorsitzende im Stadtparlament Michael zu Löwenstein laut Medien diese ab, unter anderem mit der Begründung, dass er daran zweifle, ob der Begriff schon per se eine Beleidigung sei. Er stellt offenbar eigene Zweifel über das Empfinden betroffener Menschen, die sich durch das M*-Wort diskriminiert fühlen. Als privilegierter weißer Politiker erlaubt er sich so, Rassismuserfahrungen von Schwarzen Menschen zu beurteilen und abzulehnen. Aktuelle Studien belegen, dass Menschen mit dem Begriff bis heute exotisierende, herabwürdigende und rassistische Assoziationen verbinden. Für viele Schwarze Menschen steht dieser Begriff, ähnlich wie koloniale Straßennamen, vor allem für die schmerzhafte Erinnerung an die Versklavung ihrer Vorfahren und die Kontinuität rassistischer Erinnerung. In vielen deutschen Städten gibt es postkoloniale und Schwarze Initiativen, die koloniale Spuren aufzeigen und Umbenennungen einfordern. Es gilt, diese zu unterstützen. Beispiele hierfür sind Freiburg Postkolonial oder auch Kassel Postkolonial.

Leseempfehlung zum Thema: Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (BER; 2016): Stadt neu lesen. Dossier zu kolonialen und rassistischen Straßennamen in Berlin. Hg. v. BER, Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. und Berlin Postkolonial e.V.

1) Es handelt sich hier um die „Mohrenstraße“; der Begriff „Mohr“ wird hier ausgeschrieben, um Leser*innen, die nicht mit der Thematik vertraut sind, den Sachverhalt verständlich zu machen. Durch das Ausschreiben des Wortes reproduziert man allerdings automatisch rassistische Sprache. Dies soll verhindert werden. Daher wird im Text von der M*-Straße gesprochen.

Felicitas Qualmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akkon-Hoschule für Humanwissenschaften in Berlin. Sie ist aktiv bei Berlin Postkolonial und NETZ. Dirk Saam ist Leiter Politischer Dialog bei NETZ.

Engagiert sich seit vielen Jahren unter anderem für die Umbenennung von Straßen und Plätzen, die deutsche Kolonialisten ehren: Marianne Ballé Moudoumbou, Mitbegründerin des Zentralrats der Afrikanischen Gemeinde in Deutschland. Foto: Tahir Della

Zu Ehren von Anna Mungunda, Widerstandskämpferin gegen die deutsche Kolonialherrschaft im heutigen Namibia, soll eine Straße im sogenannten Afrikanischen Viertel in Berlin nach ihr benannt werden: Aktivist Israel Kaunatjike hat dafür lange gekämpft. Foto: Tahir Della

Organisiert und begleitet in Berlin kolonialkritische Stadtrundgänge: Mnyaka Sururu Mboro, Vorstandsmitglied und Mitbegründer von Berlin Postkolonial. Foto: Tahir Della

Der Beitrag erschien in der Bangladesch-Zeitschrift NETZ 1/2-2018 Koloniale Kontinuitäten Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei NETZ anfordern.

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