Viel Verbesserungspotenzial Entkolonialisierung des Rechtssystems in Bangladesch
Unabhängigkeitsaktivisten in Bangladesch streben nach einem der jungen Nation angemessenen Rechtssystem. Bisher ist dieser Wunsch weitgehend unerfüllt geblieben. Eine Entkolonialisierung des Systems ist überfällig.
Bangladesch wurde am 26. März 1971 nach einem blutigen Krieg gegen die pakistanische Armee unabhängig. Damals entschieden sich die führenden Politiker für Kontinuität in Gesetzesfragen. Das Rechtssystem, das Pakistan und Indien vom britischen Empire geerbt hatten, blieb im Wesentlichen bestehen.
Die neue Verfassung hat das Ziel, eine indigene und transformative Rechtsordnung zu schaffen – frei von den Defekten des Kolonialrechts. In den vergangenen vierzig Jahren hat sich das Rechtssystem in Bangladesch auf eigene Weise entwickelt – in einigen Aspekten durchaus positiv (siehe Kasten). Leider ist das derzeitige Recht in Bangladesch weiterhin stark kolonial geprägt. Ein wirklich selbstkonzipiertes Rechtssystem liegt in weiter Ferne. Erst seit 2012 erlaubte der Supreme Court offiziell die Nutzung der Landessprache „Bangla“ vor Gericht.
Wie zu Kolonialzeiten werden Gesetze befehlsmäßig von oben nach unten erlassen. Die Bevölkerung kann sich kaum an rechtlichen Debatten beteiligen; auch die Chancen, Gerechtigkeit zu erfahren, sind für die Menschen gering.
Die ursprüngliche Verfassung sah Grundfreiheiten vor. Der Staat kann aber über Notfallbestimmungen die Menschenrechte außen vor lassen und Bürger ohne Gerichtsverfahren bis zu 30 Tage lang zu inhaftieren. Die entsprechenden Klauseln wurden 1974 verabschiedet, was als Wiedereinführung der Anti-Freiheitsgesetze betrachtet werden muss, die das britische Empire und Pakistan in früheren Zeiten eingeführt hatten.
Unter britischer Herrschaft wurden die Paragraphen 122 und 123 des kolonialen Strafgesetzbuchs („Offense of Sedition“) routinemäßig für Freiheitskämpfer und Personen angewandt, denen man solche Absichten unterstellte. Pakistan verschärfte das repressive Kolonialrecht noch, indem es Meinungsäußerungen, die die staatliche Souveränität in Frage stellten oder die öffentliche Sicherheit gefährdeten, als Straftaten deklarierte. Dieses Gesetz gilt in Bangladesch weiterhin. Wenig überraschend ist, dass einige kürzlich verabschiedete Gesetze wie das Informations- und Kommunikationstechnologie-Gesetz den Tatbestand der Verleumdung einer Person durch Cyber-Technologie ähnlich kriminalisieren. Das erinnert stark an koloniale Unterdrückung.
Wie viele andere Kolonialmächte nutzte auch England die Strategie der „Überlagerung“ vorhandener Gesetze. Das Kolonialrecht wurde den bestehenden lokalen Normen und Gebräuchen übergeordnet. Somit wurde die Rechtskultur Südasiens entwurzelt. Zwei der wichtigsten Gründe für diesen rechtlichen Imperialismus waren:
1) Die Briten hielten die indigenen Systeme für unfähig, gute oder „zivilisierte“ Gesetze zu erlassen, und ihr eigenes Gesetz erleichterte ihnen die Herrschaft.
2) Gerechtigkeit und „Good Governance“ zählten wenig. Tatsächlich unterwarf sich die Justiz der Kolonialverwaltung. Sie fungierte als Erweiterung des Beamtenapparates statt als Kontrollorgan. So wurden Tribunale eingerichtet, um Freiheitskämpfer wie Bhagat Singh oder die Initiatoren des Chittagong-Aufstands in den 1930er Jahren vor Gericht zu stellen.
Das Ringen um eine unabhängige Justiz begann direkt nach der Teilung Indiens 1947. Die Verwaltungen Indiens und Pakistans wollten die untere Strafjustiz nicht von der Exekutive trennen. Richter hatten somit juristische und administrative Befugnisse zugleich. Das gab ihnen mehr Macht als vom Kolonialregime beabsichtigt. Indien trennte 1975 schließlich Exekutive und Justiz, Pakistan tat das erst 1997. Bangladeschs Verfassung vom Dezember 1972 sah eine unabhängige Justiz vor, doch 1975 wurden die Gerichte wieder unterworfen. Erst 2007 wurde die untere Strafjustiz von der staatlichen Exekutive getrennt. Das geschah übereinstimmend mit einem Urteil des Supreme Court von 2000.
Vordemokratisches Denken
Die Bürokratie Bangladeschs tickt nach wie vor kolonial. Es ist weiterhin spürbar, dass Bezirksbeamte unter den Briten vor allem Steuereintreiber waren und ihre Aufgaben gern mit persönlichen Interessen mischten – das Regime nahm es hin.
Die koloniale Justiz war langsam, rassistisch und von der Regierung abhängig. Leider sieht es bei den Gerichten heute ähnlich aus. Es gibt weiterhin große Probleme mit unabgeschlossenen Fällen und mangelnder Diskretion in gerichtlichen und administrativen Fragen. Das Strafjustizsystem ist extrem bürokratisch und Prozesse verlaufen oft unseriös. Das geringe öffentliche Vertrauen in die Rechts- und Justizsysteme ist ein koloniales Erbe.
Das britische Gesetz behielt einige bereits bestehende Prinzipien bei. Wie die Mogul-Regierung vor ihnen, knüpften die Kolonialherren das Personenrecht an den religiösen Glauben einer Person. Für Muslime und Hindus galten somit unterschiedliche Regeln – in Indien, Pakistan und Bangladesch ist das bis heute so.
Religiös begründete Systeme des Personenrechts laufen nicht zwangsläufig einem modernen Menschenrechtsverständnis zuwider. Gewiss wird im Namen der Religion viel Ungutes getrieben, und das Thema hat das Potenzial, fundamentalistische Ressentiments zu schüren. Südasiatische Gerichtshöfe interpretieren das auf dem Glauben beruhende Recht aber meist so, dass es dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Gleichheit entspricht.
Bemerkenswert ist auch, dass unter britischer Herrschaft einige sinnvolle Reformen zustande kamen. Muslimische Ehefrauen erhielten das Recht auf Scheidung, hinduistische Frauen das Recht auf Eigentum. Wichtig war auch, dass man begann, die Zivil- und Strafgesetze zu kodifizieren.
Die Überarbeitung des bangladeschischen Rechtssystems, besonders der Straf- und Zivilprozessordnung, ist seit langem Thema. Doch machten sämtliche Regierungen zu diesbezüglichen Reformen, die der Öffentlichkeit sehr wichtig sind, nur Lippenbekenntnisse. Bisher wurde das Rechtssystem nicht entkolonialisiert.
Regierungsbehörden verantwortlich machen
Bangladesch hat bemerkenswerte Fortschritte beim Aufbau eines Rechtssystems jenseits des kolonialen Systems gemacht. Es bleibt aber viel zu tun. Ein großer Schritt war es, neben der englischen Sprache auch die Landessprache „Bangla“ vor Gericht zuzulassen. Die Regeln im Supreme Court wurden 2012 entsprechend angepasst.
Auch bemüht sich die Justiz aktiver um den Schutz von Menschenrechten und persönlichen Freiheiten. Deutliches Zeichen dafür sind die so genannten „Public Interest Litigations“ (PILs), Prozesse im öffentlichen Interesse. Das bedeutet, dass Gerichte Fälle annehmen, die Personen des Gemeinwohls für andere einreichen, ohne persönlich betroffen zu sein. PILs helfen oft armen und benachteiligten Teilen der Gesellschaft, deren Fälle aus diversen Gründen nie vor Gericht angehört würden.
PILs wurden vom Supreme Court Indiens eingeführt, die obersten Richter Bangladeschs und Pakistans folgten diesem Vorbild bald. PILs haben den Blick der Menschen auf die Justiz verändert und befähigen die Gerichte, sich mit Klagen zu befassen, die andernfalls nie berücksichtigt würden. Insbesondere können nun auch Regierungsbeamte zur Verantwortung gezogen werden.
In einem PIL-Urteil 2016 erließ der Supreme Court von Bangladesch Richtlinien zur Anwendung von Paragraph 54 der Strafprozessordnung 1898, und schränkte damit die Befugnisse der Polizei ein, Personen ohne Haftbefehl zu verhaften. In einem anderen Fall entschied der Supreme Court, dass ein Gesetz, wonach Beamte nur mit staatlicher Erlaubnis verfolgt werden dürfen, verfassungswidrig ist. In einem weiteren Fall urteilte der Supreme Court, dass Beamte der Sicherheitskräfte keine Immunität genießen, wenn Leute während einer Anti-Terror-Aktion in Haft sterben.
Solche Entscheidungen zeigen, dass man von der kolonialen Tradition abkommt, Regierungsbeamten stets Immunität zu gewähren und all ihr Handeln als „guten Willen“ zu beurteilen. Das alles weist in die richtige Richtung. Bangladesch hat jedoch noch einiges zu tun, damit Regierungsbehörden niemals über dem Gesetz stehen.
Dieser Artikel erschien erstmals im November 2017 in der Zeitschrift „E + Z Entwicklung und Zusammenarbeit“; des Weiteren in der Bangladesch-Zeitschrift NETZ 1/2-2018 Koloniale Kontinuitäten die Schreibweise der deutschen Erstveröffentlichung wurde beibehalten, der Untertitel hinzugefügt. Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei NETZ anfordern.
Ridwanul Hoque ist Juraprofessor an der Universität Dhaka
Arpeeta S. Mizan ist Dozentin an der rechtswissenschaftlichen Abteilung der Universität Dhaka.
Lesenswerte Lektüre zur historischen Einordnung der britischen Kolonialherrschaft in Südasien, dem Widerstand der Menschen gegen Fremdbestimmung und den Auswirkungen auf das heutige Bangladesch: „The Bangladesh Reader“, herausgegeben unter anderem von Meghna Guhathakurta und „A History of Bangladesh“ von Willem van Schendel. Foto: Niko Richter