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Unsere ständigen Begleiter Koloniale Kontinuitäten in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit

Der Arbeitskreis (AK) Bildung von NETZ beschäftigt sich bereits seit längerer Zeit aktiv mit dem Thema Koloniale Kontinuitäten in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit und im Globalen Lernen. Dieser Artikel beschreibt diesen Prozess und verweist auf koloniale Spuren als ständige Begleiter der Bildungsarbeit in Deutschland.

Von Lena Boeck

Bangladesch erleben: an exotischen Gewürzen schnuppern, einmal einen bunten Sari anprobieren und Schriftzeichen der fremdartigen Sprache Bengalisch nachzeichnen – so konnte noch vor ein paar Jahren eine Bildungsveranstaltung von NETZ aussehen. Die Zielsetzung: Kindern das aufregende Bangladesch auf lebendige Weise vermitteln und ihnen mit allen Sinnen einen Einblick in das asiatische Land geben, welches tausende Kilometer weit weg so unerreichbar scheint. Ein bisschen Bangladesch nach Deutschland holen, und Empathie sowie Verständnis für Menschen in Bangladesch schaffen. Oftmals nicht offensichtlich getrennt von einer Bitte nach Spenden für NETZ.

Der AK Bildung will weg von dieser Art von Veranstaltungen und weg von einer rein auf Bangladesch zentrierten Bildungsarbeit. Aber wieso? Viele Menschen würden sagen, dass es die Aufgabe eines gemeinnützigen Vereins ist, die Kultur des Landes, mit dem er eng zusammenarbeitet, zu schätzen und somit an Menschen in Deutschland weiterzugeben. Diese Perspektive ist wohl auch die Grundlage für Veranstaltungen, wie sie weiter oben beschrieben wurden. Als Mitglieder des AK Bildung sehen wir die Art, in der diese Inhalte vermittelt werden und die Gruppe, die sie vermittelt, als Problem an und möchten dies daher transformieren. Dabei stehen für uns zwei Fragen besonders im Mittelpunkt.

Erstens: Sind wir und sehen wir uns in der Rolle als „Expert*innen“ für Bangladesch, um vor Menschen über das Land, die bangladeschische Gesellschaft und ihre Herausforderungen zu berichten, wo doch die meisten von uns keinen kulturellen BangladeschHintergrund haben und selbst keine Bangladeschi sind?

Und zweitens: Wollen beziehungsweise sollten wir Bangladesch in unserer Bildungsarbeit weiterhin als Zentrum betrachten und ist dieser Fokus unserem Ziel zuträglich, globale Ungerechtigkeitsstrukturen zu benennen und zu verändern?

Zur Beantwortung der ersten Frage kann das bisherige Engagement von zurückgekehrten Freiwilligen im AK Bildung beispielhaft stehen. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland steht es Freiwilligen frei, sich im AK zu engagieren. Wenn sie sich aktiv einbringen und Bildungsveranstaltungen durchführen, wird von vielen Aktionsgruppen gewünscht, dass sie von ihrem Aufenthalt in Asien und dem Land Bangladesch berichten: authentische Erzählungen von Menschen, die das Land ein Jahr lang kennenlernen durften. Anhand von Bildern und Geschichten zeichnen die Vortragenden ein Bild von Bangladesch, das eventuell das einzige Bild sein und bleiben kann, welches die Zuhörenden in ihrem Leben je erhalten. Die Darstellung durch die referierende Person kann noch so reflektiert und objektiv sein: sie bleibt die Darstellung einer weißen Person aus Deutschland, die in Bangladesch lediglich zu Gast war. Die zwar einen Einblick in die Kultur des Landes erhalten hat, aber keineswegs für sie stehen kann. Die zwar „über“ die Menschen dort sprechen kann, aber keinesfalls „für“ sie sprechen kann und sollte.

Häufig sprechen im Zusammenhang der Entwicklungszusammenarbeit Menschen aus dem Globalen Norden über den Globalen Süden. Menschen im Globalen Süden wurden in unserer Bildungsarbeit häufig nicht als Subjekte, die aktiv für sich selbst sprechen, sondern vielmehr als Objekte dargestellt, über die gesprochen wird. Wir vermitteln ein Bild von Bangladesch, das durch unsere Sozialisierung geprägt ist und bewerten die bangladeschische Gesellschaft mit unseren häufig kolonial geprägten Vorstellungen von Bildung, Armut, Entwicklung oder Familie. Auch in Publikationen für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit von NETZ lässt sich diese koloniale Kontinuität finden, beispielweise im Bildungsheft „Denken, Fühlen, Handeln“. Dort steht auf Seite 16: „Fordern Sie die Teilnehmenden auf, ihre Assoziation zu Armut auf Kärtchen zu schreiben. Geben Sie zum Beispiel die konkrete Anweisung, den Satz ‚Arm sein bedeutet…‘ zu vervollständigen“.

Natürlich assoziieren die Teilnehmenden der Veranstaltung Attribute und Zusammenhänge von und mit Armut, die sich durch ihre Sozialisation in Deutschland in ihren Köpfen verfestigt haben. Diese werden folglich Menschen aus Bangladesch, die an der Armutsgrenze leben, zugeschrieben.

Genau diese vorherrschenden Strukturen werden aus unserer Sicht durch die bisherige Bildungsarbeit weitergeführt. Die referierende Person steht als Berichterstattende und „Kulturexpert*in“ vor den Zuhörenden. Sie beantwortet die Fragen aus dem Publikum und zeichnet ein Bild von Bangladesch, das durch ihre Sozialisierung im Globalen Norden beeinflusst und zugleich unterbewusst bewertet wird. In diesem Moment gibt es häufig keinen Menschen, der dieses Bild als Bangladeschi korrigieren oder aus der eigenen Sicht beeinflussen und erweitern könnte. In vielen Veranstaltungen wird somit über Bangladesch gesprochen, ohne dass mit Menschen aus Bangladesch gesprochen wird. Eine enorme Verantwortung, die von ehemaligen Freiwilligen oder jedem anderen, deutschen, weißen Mitglied des AK Bildung nicht übernommen werden kann.

Zusammenhängend damit kann auch die zweite Frage beantwortet werden: Aus unserer Sicht sollte Bangladesch nicht der zentrale Inhalt unserer Bildungsarbeit in Deutschland sein. Wie bereits ausgeführt, sehen wir uns keineswegs in der Rolle, die Verantwortung tragen zu können, ein stereotypfreies Bild von Bangladesch zu vermitteln. Hinzu kommt außerdem, dass wir die Auswirkungen von Bangladesch als Aufhänger für jegliche Bildungsveranstaltung von NETZ als sehr bedenklich ansehen.

Auf der einen Seite besteht die große Gefahr, dass Bangladesch stetig als Negativbeispiel besetzt wird. Thematiken wie Auswirkungen des Klimawandels, Strukturen von Armut oder Arbeitsbedingungen in Ländern des Globalen Südens können am Beispiel Bangladesch erläutert werden, werfen aber durch die Art der Darstellung ein einseitig negatives Licht auf das Land. Die Zuhörenden beschäftigen sich so mit diesen Themen und assoziieren sie anschließend mit Bangladesch. Und assoziieren Bangladesch umgekehrt dann gleichzeitig auch direkt mit diesen Themen.

Möchte man im Gegensatz dazu Eindrücke eines kulturell vielfältigen Bangladeschs vermitteln, besteht die Gefahr der Exotisierung des Landes: ein Bild von Bangladesch als buntes, lebensfreudiges, aber dennoch armes, „unterentwickeltes“ Land. Durch den Fokus auf Tanz, Musik, Kleidung und „exotische“ Gewürze und die Nichtbeachtung etwa von Wissenschaft, Politik und Demokratie wird das stereotype Bild einer bangladeschischen Gesellschaft als „ursprünglich“, „traditionsreich“ und „rückständig“ unterbewusst unterstützt. Gleichzeitig entsteht dabei, ebenfalls meist unterbewusst, eine Differenzierung zwischen uns, dem Bekannten und „den Anderen“, „den Fremden“, deren „exotische Kultur“ wir kennenlernen – und die wir als homogene Gruppe ohne individuelle Ausprägungen darstellen. Es wäre undenkbar für uns, Deutschland als ein Land darzustellen, in dem alle Menschen Volkstänze aufführen, Tracht tragen und Schweinebraten essen.

Eine Veranstaltung, die sich ausschließlich mit dem Land Bangladesch beschäftigt, ist gefüllt mit dieser „Fremde“ und kann so Nährboden für Vorurteile und Stereotype, für Rassismus werden. Selbst wenn die referierende Person diese Assoziationen nicht an- oder ausspricht, können bestimmte Bilder in den Köpfen der Teilnehmenden nicht verhindert oder nachträglich beeinflusst werden. Im AK ist es uns wichtig, vorherrschende, einseitige und falsche Bilder über Bangladesch als „exotisches“, „ländliches“ oder „weniger entwickeltes“ Land nicht zu manifestieren.

Gleichzeitig versperrt der Fokus auf Bangladesch und das Kennenlernen der bangladeschischen Gesellschaft und „bengalischen Kultur“ den Blick auf das, was als ausgesprochenes Ziel der Bildungsarbeit des AK gilt: globale Ungerechtigkeitsstrukturen zu benennen und zu transformieren. Durch den Blick auf Menschen im Globalen Süden wenden wir den Blick von uns, dem Globalen Norden, ab. Die Ursachen globaler Ungerechtigkeitsstrukturen, die häufig im Globalen Norden zu finden sind, werden so durch einen einseitigen Fokus auf Bangladesch vernachlässigt und wenden den Blick insbesondere davon ab, wie wir tagtäglich von globalen Machtstrukturen profitieren.

Doch wenn wir all das nicht mehr tun wollen, was kann der AK Bildung überhaupt noch machen? Seit mehreren Jahren arbeiten wir nun daran, den Schwerpunkt unserer Arbeit zu verschieben und neue Methoden zu entwickeln. Dabei haben wir uns Unterstützung durch externe Referent*innen und andere Aktive geholt: ein Seminarwochenende mit dem Verein Glokal gab uns unter anderem neue Denkanstöße. In Zukunft möchten wir den Hauptfokus unserer Bildungsarbeit weiter weg von Bangladesch, hin zu politischen Themen verschieben. Dabei möchten wir einen weiteren Schwerpunkt auf den Kompetenzerwerb der Teilnehmenden legen, statt auf reine Informationen über das Land Bangladesch.

Ein erstes Ergebnis dieser Überlegungen ist die Anwendung der Methode „Through Other Eyes“. Diese beschäftigt sich mit einem zunächst abstrakten Begriff wie Bildung oder Armut und bietet den Teilnehmenden auf unterschiedlichste Weisen eine Annäherung an diesen Begriff. Durch Definitionen, Gedankenspiele und Metaphern werden die Bandbreite und die Auslegungsmöglichkeiten der einzelnen Begriffe verdeutlicht und die häufig verwendeten, jedoch abstrakten Begriffe, mit Leben gefüllt. Die Person, die den Prozess der Methode durchläuft, kann auf diese Art und Weise Kompetenzen des kritischen Lesens und der Selbstreflektion erwerben. Die Methode setzt an der strukturellen Ebene an und bietet so die Möglichkeit, das Erlernte auf viele Bereiche anzuwenden, ohne inhaltlich an einem konkreten Land oder bestimmten Teil der Welt anzusetzen.

Neben den Veränderungen im Aufbau und des Inhalts der von uns geplanten und durchgeführten Veranstaltungen arbeiten wir zudem daran, den AK Bildung nach außen weiter zu öffnen. So sollen auch vermehrt Menschen, die gerne in der Bildungsarbeit aktiv sein möchten, aber vielleicht keinen Freiwilligendienst mit NETZ gemacht haben, die Möglichkeit bekommen, mit uns aktiv zu werden. Davon erhoffen wir uns neue, wertvolle Sichtweisen auf unsere Arbeit. Außerdem scheint uns diese Herangehensweise sinnvoll – besonders, wenn wir unseren Hauptschwerpunkt von Bangladesch weg verschieben wollen und es folglich keine Voraussetzung sein sollte, bereits eine Zeit lang in Bangladesch gelebt haben.

Selbstverständlich sind diese aktuellen Entwicklungen im AK Bildung als Teil eines Prozesses zu sehen. Dieser hat bereits vor vielen Jahren begonnen und wurde in den letzten beiden Jahren immer präsenter. Wichtig festzuhalten ist: er wird wohl nie zu Ende sein. Im Jahr 2018 besteht weltweit noch immer ein deutliches Machtgefälle von Nord nach Süd. Diesem sind wir uns als Mitglieder im AK Bildung bewusst. Mit unserer Arbeit möchten wir darauf aufmerksam machen sowie entschieden und bewusst im Gegensatz dazu handeln. Koloniale Kontinuitäten müssen mitgedacht werden, da sie uns allen im Alltag begegnen. Wie sie, sollte auch unsere kritische Auseinandersetzung damit unsere ständigen Begleiter sein.

Die entwicklungspolitische Bildungsarbeit von NETZ wird gestaltet durch

• Ehrenamtliche in Schulen, Kirchengemeinden und Weltläden,

• die Hauptamtlichen der Organisation sowie

• die Mitglieder des AK Bildung.

Der AK ist ein Zusammenschluss aus Personen, die an der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit interessiert sind. Sie engagieren sich als Referent*innen in Bildungsveranstaltungen, erarbeiten neue Materialien und entwickeln Konzepte mit, die auf der NETZ-Homepage zugänglich sind.


Lena Boeck studiert Literatur, Kultur, Medien an der Universität Siegen und ist NETZ-Mitglied (2018 im NETZ-Vorstand) sowie im AK Bildung.

Der Beitrag erschien in der Bangladesch-Zeitschrift NETZ 1/2-2018 Koloniale Kontinuitäten Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei NETZ anfordern.

Workshop des AK Bildung im November 2016 zu den Themen Postkolonialismus und Antirassismus mit Tahir Della (im Hintergrund stehend) vom Berliner Verein Glokal. Foto: Sabrina Syben

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