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Vom Hinterhof der Weltgeschichte in die fulminante Gegenwart

Von Dr. Wolfgang-Peter Zingel

Einst von einem US-Politiker als „hoffnungsloser Fall” verächtlich gemacht, hat Bangladesch seit der Unabhängigkeit eine bemerkenswerte Transformation durchlaufen. Und die Aussichten für eine weitere innovative Entwicklung stehen nicht schlecht – wenn die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Am 10. Mai 1971 organisier­te der Allgemeine Studen­tenausschuss (AStA) der Universität Heidelberg ein Teach-In, also eine politi­sche Diskussion, zu Bangla­desch. Der größte Hörsaal der Uni war proppenvoll. Wenige Wochen zuvor, am Abend des 25. März hatte die Militärre­gierung Pakistans die Armee in ihrem östlichen Landes­teil (Ostpakistan) geschickt, um im Rahmen der Opera­tion „Searchlight“ (Schein­werfer) bengalische Oppo­sitionelle und Intellektuelle systematisch auszuschalten. Denn völlig unerwartet für die Machthaber, hatte der Führer der Partei Awami Liga (Volks-Liga), Sheikh Mujibur Rahman, nicht nur die abso­lute Mehrheit der Sitze im ge­samtpakistanischen Parla­ment gewonnen.

Um zu verhindern, dass er als Bengale von der Nationalver­sammlung zum Premiermi­nister gewählt würde, wurde das Zusammentreten des Par­laments verhindert, während gleichzeitig Truppen in den Osten des Landes geschickt wurden. Dies heizte die oh­nehin aufgeladene Stimmung weiter an, bis sich die Macht­haber in Islamabad zum Los­schlagen entschlossen. Mujib wurde verhaftet und heimlich nach Westpakistan transpor­tiert.

Das Ereignis wurde internati­onal schnell bekannt, weil die pakistanische Regierung die internationale Presse nach Dhaka, der zweiten Haupt­stadt des Landes und Sitz der Nationalversammlung, ein­geladen hatte, um sich me­dienwirksam als Sieger der ersten demokratischen Wah­len nach 23 Jahren Unabhän­gigkeit präsentieren zu kön­nen. Ostpakistan galt eher als “Hinterhof der Weltge­schichte” und war bis dahin allenfalls bei großen Flutka­tastrophen Gegenstand von Nachrichten.

Zwar wurden die Gräuel des Militärschlages auf dem Teach-In in Heidelberg ange­prangert, doch ging es vor al­lem um die Solidarisierung mit der sogenannten Drit­ten Welt und dem Kampf ge­gen den Imperialismus und Kapitalismus. Dass Pakistan zu jenen Kalter-Krieg-Zei­ten ein wichtiger Partner des Westens an der Südflanke des Ostblocks war und dieser ers­te Risse zeigte, wusste man. Nicht aber, dass Henry Kis­singer, der Sicherheitsbeauf­tragte des amerikanischen Präsidenten, mit pakistani­scher Vermittlung nach Pe­king reisen würde, um einen Besuch des amerikanischen Präsidenten Nixon in China im nächsten Jahr vorzuberei­ten – eine Vorbedingung für die Beendigung des Vietnam­krieges und, vor allem, für die Wiederwahl Nixons.

Das Massaker in Ostpakistan war da nicht von Bedeutung, Internationale Unterstüt­zung für den Unabhängig­keitskrieg in Ostpakistan gab es nur in Indien, das sich sei­nerseits an die Sowjetuni­on band, und von der inter­nationalen Zivilgesellschaft. Die Unabhängigkeit wurde schließlich am 16. Dezember 1971 gewonnen, nachdem die indische Armee zusammen mit den Aufständischen die pakistanischen Truppen zur bedingungslosen Kapitulati­on gezwungen hatten.

In deutschen Regierungskrei­sen erkannte man das Debakel schnell. Die Entwicklungshil­fe wurde ausgesetzt und im Vordergrund stand erst ein­mal die Frage, wer denn die aufgelaufenen Schulden be­zahlen würde. Nach unseren Berechnungen waren etwa 65 Prozent der Hilfsgelder in den westlichen Landesteil ge­flossen und etwa 30 Prozent in den Teil im Osten. Der Rest ließ sich nicht eindeutig be­stimmen, nutzte aber mehr­heitlich Westpakistan. Es soll­te dort investiert werden, wo die höchsten Wachstumsbei­träge erwartet werden konn­ten, und das war in Westpa­kistan. Zu einer späteren Zeit sollte dann der vernachlässig­te Osten entwickelt werden. Diese Logik hat Menschen in benachteiligten Gebieten noch nie eingeleuchtet.

Der völlig zerstörte junge Staat, der nun Bangladesch hieß, war auf die Unterstüt­zung der internationalen Or­ganisationen, Indiens und der Staaten des Ostblocks ange­wiesen. Nach dem Ölschock 1973 wurde die Hilfe noch knapper. Eine sich anbahnen­de Versorgungskrise wurde zu spät erkannt und von den USA ausgenutzt, um das Land weiter unter Druck zu setzen, als es Jutewaren nach Kuba exportierte und damit gegen ein Embargo verstieß. Auf die folgende Hungersnot re­agierte Präsident Sheikh Mu­jibur Rahman mit einer zu­nehmend autoritären Politik. 1975 wurde er zusammen mit einem Teil seiner Familie bei einem Militärputsch ermor­det. Es folgten weitere Mili­täraktionen. Das Verhältnis zum Westen, zu den musli­mischen Staaten und zu Chi­na verbesserte sich merklich. Die Bundesrepublik hatte be­reits 1972 diplomatische Be­ziehungen zu Bangladesch aufgenommen und stand in Konkurrenz zur DDR.

Von Henry Kissinger, dem Si­cherheitsbeauftragten des amerikanischen Präsidenten, als „basket case“ (hoffnungs­loser Fall) bezeichnet, wurde Bangladesch zunächst zum Inbegriff eines armen Ent­wicklungslandes und einem exemplarischen Empfänger von Entwicklungshilfe, die immer stärker in der öffent­lichen Kritik stand. Mangel an Information und Einfüh­lungsvermögen führten zu steigendender Ungeduld und völligem Unverständnis der Probleme, die damit verbun­den sind, die Wirtschaft und Gesellschaft eines armen Lan­des zu „entwickeln”.

Die überragende Bedeutung der Entwicklungshilfe wur­de irgendwann abgelöst von den Überweisungen bangla­deschischer Arbeiter im Aus­land und der seit den 1990er- Jahren rasch expandierenden Textilverarbeitung, nicht zu vergessen die steigende Pro­duktivität in der Landwirt­schaft.

Die Zahl der Arbeiter im Aus­land dürfte heute in der Grö­ßenordnung von zehn Mil­lionen liegen. Man findet sie vor allem in den Golfstaaten und in den anglophonen Län­dern. In Europa streben sie nach Großbritannien und Ita­lien. Ihre Heimüberweisun­gen übertreffen die Entwick­lungshilfe seit langem, erst recht, wenn Rück- und Zins­zahlungen berücksichtigt werden. Entwicklungshilfe ist trotz aller wirtschaftlichen Erfolge noch immer erforder­lich in Form von Beratung – wenn es zum Beispiel darum geht, die Exporte den stei­genden Anforderungen an Umweltschutz und Arbeits­bedingungen anzupassen. Private Hilfsorganisationen helfen vor allem, Defizite im sozialen Bereich auszuglei­chen.

Die sensationelle Steigerung der Textilexporte, die Ban­gladesch zur Nummer zwei hinter China machte, wäre ohne die Öffnung der Märkte im Zuge der Globalisierung und eine Bevorzugung der ärmsten Staaten nicht mög­lich gewesen. Sie hat Bang­ladesch die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Realisie­rung ambitionierter sozia­ler Programme geboten. Der Wirtschaftswissenschaft­ler Amartya Sen, der in Dha­ka die große Hungersnot von 1943 erlebte, und für sei­ne Arbeiten über die Zusam­menhänge von Hunger und Armut mit dem Nobelpreis geehrt wurde, wies schon in den Nullerjahren darauf hin, dass Bangladesch Indien bei einigen Sozialindikatoren überholt hat.

Inwieweit sich die Textilin­dustrie aktuell von den Ein­brüchen bei den Exporten im Zuge der Corona-Pandemie erholen kann, hängt davon ab, ob „Fast Fashion“ – also der hohe und wenig nachhal­tige Konsum an Mode – wei­terhin trendbestimmend sein wird und ob und wie Bangla­desch sich auf eine veränder­te Nachfrage einstellen kann. Es hängt auch von den Ent­wicklungen bei den Konkur­renten ab. Dass China den Textilmarkt nicht, wie be­fürchtet, völlig dominie­ren konnte, verdankt Bangla­desch seinen ausländischen Kunden, die eine Abhängig­keit von nur einem Lieferan­ten vermeiden wollten. Nach­dem sich die Verwundbarkeit immer komplexerer interna­tionaler Lieferketten gezeigt hat, wird ein Trend zur Deglo­balisierung und zum „Insour­cen“ erwartet.

Die Abhängigkeit von nur zwei Exportprodukten – Ar­beitskraft und Bekleidung – ist riskant. Als Bangladesch unabhängig wurde, waren Rohjute und Jutewaren die wichtigsten Exportproduk­te, Forschung und Marketing wurden – weil angeblich so­wieso ohne Erfolgsaussichten – nicht weiter verfolgt. Auch jetzt fehlt es an Bemühungen um Diversifizierung.

Dabei wären die Aussich­ten gar nicht so schlecht. Wie sich im Rahmen des von der Deutschen Forschungs­gemeinschaft finanzierten Deutsch-Bangladeschischen Programms „Megacities – Megachallenge” ergab, be­steht große Innovationsbe­reitschaft. An den privaten Universitäten studieren in­zwischen mehr Studenten als an den staatlichen. In den naturwissenschaftlich-tech­nischen Fächern wurden be­trächtliche Kapazitäten ge­schaffen. Dazu kommt das Expertenwissen der Rück­kehrer aus dem Ausland, also nicht nur „brain drain”, sondern auch “brain gain”. Das alles kann sich aber nur entwickeln, wenn die ent­sprechenden Rahmenbe­dingungen geschaffen und die bestehenden erhalten werden.

Der Autor ist Ökonom und Politikwissenschaftler und lehrte am Südasien-Institut der Universität Heidelberg.

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