Ein Gespräch mit der Gewerkschafterin Sultana Begum „Die Angst ist geblieben“
Wie sind Sie zu Ihrer Arbeit in der Textilindustrie gekommen? Meinen ersten Job nahm ich 1989 an, als ich zwölf Jahre alt war und die fünfte Klasse abgeschlossen hatte. Damals arbeitete ich als Hilfskraft. Ich war jung und wir wussten nichts über Rechte von Arbeiter*innen. Der Lohn betrug zweihundertfünfzig Taka (rund 8 Dollar). Es gab keine festen Arbeitszeiten. Nachdem ich acht Stunden gearbeitet hatte, musste ich Nachtschichten und Überstunden leisten. 23 Nachtschichten in einem Monat. Danach verließ ich die Fabrik, um die 6. Klasse zu beenden, und kam dann wieder zurück. Das ging oft so, die ganze Schulzeit über. Da mein Vater früh verstorben ist, konnte meine Mutter nicht für die Ausbildung von mir und meinen vier Geschwistern zahlen. Alles Geld, das ich verdiente, habe ich für Schule gebraucht, etwa für Bücher. Dann schneiderte ich weiter Kleider und besorgte mir eine Zulassung. Als ich 1995 die Schule abschloss, arbeitete ich in drei verschiedenen Bekleidungsunternehmen als Angestellte.
Wann und warum haben Sie angefangen, sich für Arbeitsrechte zu engagieren? Ich hörte während der Arbeit immer wieder von Kolleg* innen, dass die Fabrikbesitzer uns betrögen – bei Lohn und Überstunden etwa. 1997 lernte ich die Gewerkschaft Bangladesh Free Garments Union Federation (BIGUF) kennen. Ich erfuhr, dass man dort Mitglied werden konnte, und dass dort juristischer Beistand, Fortbildungen, Unterstützung bei der Kinderbetreuung und Arztbesuche angeboten werden. Ich lernte dort viel über Arbeitsrecht. Eigentlich dachte ich, sowas ist die Arbeit von Jurist*innen. Dann aber verstand ich: Wenn wir Arbeiter*innen uns nicht für die eigenen Rechte der einsetzen, werden wir ihrer beraubt.
Das klingt nach einem bedeutenden Schritt. Ja. Aber als die Fabrikbesitzer erfuhren, dass wir die Arbeiter*innen organisieren und eine eigene Vertretung gründen wollten, entließ man uns. Elf Frauen auf einmal. Die Vertretung wurde schließlich doch gegründet, wir klagten unsere Arbeitsplätze wieder ein und ich wurde Ausschussmitglied der Gewerkschaft. 2002 heiratete ich und bekam eine Tochter. Ich blieb in dieser Zeit zuhause, trat dann später der Gewerkschaft National Labor Federation bei, wo ich bis 2013 arbeitete ...
... also bis zu der Zeit, als das „Rana Plaza“-Gebäude einstürzte. Ich sah im Fernsehen, wie das Gebäude kollabierte – und machte mich sofort auf den Weg. Man konnte nicht viel sehen, überall war Staub. Die Menschen weinten und suchten nach ihren Angehörigen, die dort gearbeitet hatten. Feuerwehrfahrzeuge versuchten, die Menschen auseinanderzutreiben, aber es war sehr voll, alle wollten dorthin. Ich war auch die Tage danach die ganze Zeit dort. Es hat sehr lange gedauert, bis die Toten geborgen wurden.
Eine schreckliche Erfahrung, oder! Ich habe keine Worte, um den Schock von „Rana Plaza“ zu beschreiben. Ein solcher Vorfall, in unserem Land – das bedeutete so viel. Es gab viele solcher mehrgeschossigen Fabriken. Und selten wusste man, wie viele Leute tatsächlich dort arbeiten. Fabrikbesitzer*innen wollen im Falle solcher Unglücksfälle so wenig wie möglich preisgeben. Auch bei „Rana Plaza“ wurde damals zunächst nicht gesagt, dass derart viele Menschen dort gearbeitet haben. Aber wir wissen nun, dass seit dem Einsturz des Gebäudes insgesamt 1139 Menschen gestorben sind. Und die Zahl der Verletzten ist ebenfalls sehr hoch.
Haben Sie noch Kontakt zu Überlebenden? Ja, noch immer regelmäßig. Eine von ihnen ist die ehemalige Näherin Nilufa. Ihr Bein wurde bei dem Einsturz schwer verletzt. Noch 2019, als ich sie besuchte, war es dick und entzündet. Ihr Mann hat einen Teeladen. Jetzt sitzt sie den ganzen Tag mit hochgelagertem Bein dort und kann nicht arbeiten. Sie hat zwei Söhne. Sie sagte mir, dass das Bein damals hätte amputiert werden müssen. Aber dafür hätte sie zur Behandlung nach Indien gehen müssen. Eine Familie mit Einkommen aus einem Teeladen kann sich das nicht leisten. Und wenn sie heute einen Arzt in Bangladesch aufsucht, wird sie nicht behandelt. Viele Überlebende leiden allerdings auch seelisch, schaffen es etwa nicht, wieder in eine Fabrik zum Arbeiten zu gehen. Die Angst ist geblieben.
Gibt es für die Betroffenen denn keine Alternative? Nein, denn sie haben kein Geld, sich ein anderes Standbein aufzubauen. Einige große Modekonzerne haben nach dem Einsturz Geld gezahlt. Aber: Während dieser Zeit wurden die Arbeiter*innen im Krankenhaus behandelt. Die Familien, die oft von weit außerhalb Dhakas angereist kamen und in dieser Zeit kein Einkommen hatten, mussten ja auch versorgt werden und unterkommen. Es gab auch Fälle, da nahmen Ehemänner der Näher*innen das Geld und verschwanden. Die Forderung der Gewerkschaften damals war, dass die Überlebenden und Familien statt Geld Wohnungen bekommen.
Noch immer werden Menschen vermisst. Das ist leider in vielen Fällen so. Stellen Sie sich vor, wie schrecklich es sein muss, wenn man seine Tochter einfach nicht mehr auffinden kann. Zumal diese Familien doppelt hart getroffen sind: Sie können weder ihre Angehörige bestatten, noch bekommen sie eine Kompensationszahlung für ihren Verlust. Ein weiteres Thema sind Kinder.
Inwiefern? Was ist im vergangenen Jahrzehnt mit den Kindern von „Rana Plaza“-Opfern geschehen? Etwa 280 Mädchen und Jungen haben ihre Eltern verloren. Haben sie danach zur Schule gehen können? Oder wurden sie ohne eine Mutter oder einen Vater irgendwo hingebracht? Wie sieht ihr Lebensstandard jetzt aus, was wird in Zukunft sein? Was haben die Regierung und Fabrikbesitzer*innen getan, abgesehen von einer Einmalzahlung? Ein Kind, das beim Unglück neugeboren war, ist jetzt zehn Jahre alt und sollte eigentlich zur Schule gehen. Die damals Zehnjährigen sind jetzt 20 Jahre alt und auf dem Weg, eigene Familien zu gründen. Eigentlich. Aber womöglich sind vielen von ihnen solche Chancen genommen worden – zusammen mit dem Verlust der Eltern.
Es bleiben also noch viele Fragen zu „Rana Plaza“? Ja, und wir wollen den Arbeiterinnen und Angehörigen zur Seite stehen, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Die Regierung kümmert sich nur, solange das Thema in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Nimmt die Aufmerksamkeit ab, wird sich auch nicht mehr gekümmert. Es gibt Einmalzahlungen, aber was ist das schon? Wenn ein Mensch stirbt, reicht kein Geldbetrag aus, das zu kompensieren. Es gibt dennoch internationale Regelungen, wie Familien in solchen Fällen unterstützt werden müssen. Wir setzen uns dafür ein, dass das auch in Bangladesch umgesetzt wird. Ohne Druck wird nichts passieren.
Was waren die bedeutendsten Veränderungen seit dem Einsturz? Die Bekleidungsfabriken in Bangladesch haben sich sehr verändert: Brandschutz- und Sicherheitsrichtlinien für die Gebäude wurden erhöht. Strengere Bauvorschriften sind in Kraft. Inzwischen sind mehr Gewerkschaften gegründet worden, die Arbeiter*innen können sich organisieren. In den besseren Fabriken gibt es ausreichend Licht und Luft. Gleichzeitig gibt es Fabriken mit mittlerem Standard, also Gebäude aus der Zeit vor „Rana Plaza“, und kleinere, die noch immer gefährdet sind.
Wird es weiter positive Entwicklungen geben? Abseits der Gebäudesicherheit war es bisher schwierig, die Lebensqualität der Arbeiter zu verbessern. Die Löhne wurden nach „Rana Plaza“ zweimal erhöht, 2013 und 2018. Aber die Lebenskosten sind stark gestiegen. Arbeiterinnen können mit ihrem Lohn mitunter nur die Miete zahlen, haben dabei aber noch nicht gegessen oder die Kinder versorgt. Die Lebensqualität leidet massiv.
Was sind aus Ihrer Sicht die drängendsten Fragen? Die Frage ist nicht nur: Warum vergeben Modeketten weniger Aufträge, sondern auch: Was passiert überhaupt mit Gewinn und Verlust in den Fabriken? Die Arbeite*rinnen wissen nichts darüber. Wenn es Verluste gibt, wird ihnen gesagt, es gibt Verlust und man müsse härter arbeiten. Werden aber große Gewinne gemacht, erfahren Arbeiter*innen nichts davon – und sie bekommen auch nichts davon ab. Dann muss man sich aber fragen: Was ist in den vergangenen 40 Jahren des Textilbooms passiert? Wo ist denn das ganze Geld hin? Fabrikbesitzer nehmen es und bauen eine neue Firma. Aber stirbt ein Arbeiter, zahlen sie Verwandten keine Entschädigung. Es gibt keinen bezahlten Mutterschaftsurlaub, Kosten für medizinische Behandlungen werden nicht übernommen, langjährig Beschäftigte erhalten keine Pension. Wir müssen das aber fordern, wir Arbeiter*innen. Und dazu müssen wir vereint sein, nur so geht es.
Interview: Max Stille