Startseite
Jetzt spenden

„Geht zu den Menschen. Dort ist die Lösung.“ Notizen eines Praktikers zum postkolonialen Diskurs

Koloniale Kontinuitäten dominieren die internationale Entwicklungszusammenarbeit. Schaut man auf die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen, wird das Bild komplexer. Dem Betrachter offenbart sich auch ein Reichtum an Organisationen, die ihre Wurzeln in antikolonialen Befreiungsbewegungen haben, an Innovationen, die im Süden entstanden sind, und an Projekten, die – allen Repressionen zum Trotz – die Menschenrechte hochhalten. 

Von Peter Dietzel

In der Zivilgesellschaft Bangladeschs gibt es zum Beispiel Entwicklungsansätze, die auf dortige Widerstandsbewegungen gegen das britische Empire zurückgehen. Viele bangladeschische nichtstaatliche Organisationen, die nach 1971 gründet wurden, entstanden aus Initiativen der Bevölkerung, in denen der Traum der Unabhängigkeit von besseren, gerechten Lebensbedingungen für alle Menschen weiterlebte. Wieder andere NGOs zeichnen sich dadurch aus, dass sie die emanzipatorische Selbstbestimmung besonders benachteiligter Gruppen stärken. 

In Deutschland gibt es zum Beispiel Entwicklungsorganisationen, die aus zivilgesellschaftlichen Bewegungen hervorgegangen sind, welche gegen die wirtschaftliche Ausbeutung des Südens und die politische Einflussnahme des Nordensin diesen Ländern protestierten. Andere Organisationen haben ihre Wurzeln in religiösen Gemeinschaften, für die die Gleichheit aller Menschen ein leitendes Prinzip ist und politische Forderungen einer gerechteren Reichtumsverteilung einschließt. Wieder andere entstanden aus Solidarität mit Befreiungsbewegungen in Ländern des Südens. In den meisten nichtstaatlichen Entwicklungsorganisationen besteht ein Konsens darüber, dass das westliche Entwicklungsmodell mit seinem gigantischen Ressourcenverbrauch überwunden werden soll. Viele Aktive schätzen und achten die Lebensweisen und Kulturen des Südens und ihren Reichtum, lassen sich davon infrage stellen, herausfordern und zu gesellschaftspolitischem Engagement motivieren.

Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung

Manche bangladeschische NGO, die ihre Ursprünge in einer südasiatischen Befreiungsbewegung hat, folgt heute Entwicklungskonzepten, die eher von Profitinteresse angetrieben zu sein scheinen als von ihrem Ursprungsgeist. Oft liegt dies darin begründet, dass sie der Forderung des Nordens entsprechen, finanziell unabhängig zu werden. Andere, die von ausländischen Hilfswerken gegründet wurden, fördern politische Bewusstseinsbildung und unterstützen indigene Gemeinden dabei, ihr Recht auf politische Mitbestimmung einzufordern. Viele NGOs agieren im Mittelfeld. Manche davon verfolgen die Strategie, sich durch wirtschaftsorientierte Projekte eine gewisse Größe und Bedeutung in ihrer Arbeitsregion zu erhalten, um auch massivem politischen Druck standhalten zu können, wenn sie auf der Seite der Ärmsten gegen Menschenrechtsverletzungen einschreiten. Nicht wenige NGOs greifen undogmatisch das Beste aus Erfahrungen des Südens und des Nordens auf und integrieren dies in ihren Konzepten. Größte Herausforderung für NGOs ist die Agenda der internationalen wie staatlichen Entwicklungspolitik, die der Integration des Südens in globale Beschaffungs- und Absatzmärkte höchste Priorität einräumt oder vorwiegend technokratische Lösungen propagiert. Fördermittel für menschliche und gesellschaftliche Entwicklung, für Empowerment mit all ihren kulturellen, politischen, spirituellen und ökologischen Dimensionen, sind rar. Jede NGO, die an den Machtstrukturen als Ursache von Armut und Analphabetismus rütteln will, investiert viel Kreativität und Herzblut, um dafür Mittel zu mobilisieren.

Gewaltfreie Traditionen

Die Sensibilisierung, die aktuell durch antirassistische und postkoloniale Trainings stattfindet, führt dazu, dass zivilgesellschaftliche Akteure wieder verstärkt ihre politische Vision reflektieren. Wertvolle Anregungen bietet dabei die Auseinandersetzung mit dem gewaltfreien Widerstand gegen den Kolonialismus:

  • Diese Beschäftigung ebnet einer unmittelbaren Wertschätzung der Leistungen von Menschen aus dem Süden den Weg, die sie im Kampf für ihre Menschenrechte, Freiheit und Selbstbestimmung erbracht haben und erbringen.
  • Die Auseinandersetzung eröffnet ein Gespür dafür, dass auch die Kolonialmächte vom Kolonialismus befreit wurden, dass es um die Befreiung aller von der Gewalt-Ideologie und von den Spuren des Kolonialismus geht.
  • Gewaltfreier Widerstand thematisiert stets den Umgang mit Macht, mit der eigenen wie der des politischen Gegners, und sucht Mittel, Machtasymmetrien zu transformieren.
  • Die dokumentierten Erfahrungen der Akteurinnen und Akteure im Widerstand bieten vielfältige Anregungen für politische Aktionen wie für neue Rollenmodelle.
  • Die Besinnung auf gewaltfreie Traditionen weckt ein tieferes Verständnis der Freiheit des Geistes und des Wortes.
  • Das Andocken an Erfahrungen des Widerstandes mobilisiert Kräfte. Es eröffnet den Zugang zu neuen Denkmustern. So finden entwicklungspolitische Akteure leichter und fast beiläufig die Ressource, die siezur Lösung ihrer komplexen Aufgaben brauchen.
  • Die Auseinandersetzung mit gewaltfreien Formen des Widerstands gegen Kolonialismus beinhaltet auch vitale Anregungen, was wir für ein gutes Leben alles nicht benötigen, und was sozial, materiell und geistig für uns essentiell ist.

Das Mandat von NETZ

Eine kleine Gruppe von Menschen aus Deutschland, die am entwicklungspolitischen Lerndienst oder an Besuchsprogrammen in Bangladesch teilgenommen hatten, gründete 1989 den Verein NETZ. „Wenn ihr gekommen seid, um zu helfen, dann setzt euch ins nächste Flugzeug und geht nach Hause zurück. Wenn ihr gekommen seid, Solidarität zu lernen, dann bleibt“, waren sinngemäß – und manchmal auch wörtlich von bangladeschischen Partnern artikuliert – die Leitlinien für den Freiwilligendienst und die Bangladesch- Besuche. Darauf basierte das Mandat von NETZ: zivilgesellschaftliche Akteure in Bangladesch baten Freunde in Deutschland um Unterstützung in ihrem gewaltfreien Kampf gegen die strukturellen Ursachen von Armut. Heute werden die Anfragen und Erfahrungen der Zivilgesellschaft in Bangladesch vor allem durch bangladeschische NETZMitarbeiterinnen und Mitarbeiter in strategische Entscheidungen und Projektkonzeptionen von NETZ eingebracht. 

Die Menschen in jedem Slum, in jedem Dorf Bangladeschs, in jeder benachteiligten Bevölkerungsgruppe, leisten alltäglichen Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Er kann innerlich sein oder offenkundig, legal oder illegal, spontan oder organisiert. Er kann sich darin äußern, gegen unfaire Bezahlung lautstark aufzubegehren, aus den Vorräten des arbeitgebenden Landwirts ein Kilo Reis zu entwenden, als misshandelte Frau den Ehemann zu verlassen. Oder er zeigt sich darin, mit anderen Dorfbewohnern einen Gerichtsprozess gegen die einflussreiche Familie anzustreben, die sich mit Unterstützung eines bezahlten Schlägertrupps den Dorfteich unter den Nagel gerissen hat. Alle Menschen verfügen über Bewältigungsstrategien, wie sie in Armut und Not überleben. Sie sind vielfältig und spannend, sie können darin bestehen, eine Kuh zu pachten, wenn man sich eine eigene nicht leisten kann, zeitweise das Heimatdorf zu verlassen und in der Stadt Rikscha zu fahren, die Hoffnung und alle Ersparnisse auf die Schulbildung der Kinder zu setzen, und so weiter. Dieser alltägliche Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung, die Überlebensstrategien, die Kraft und das soziale Kapital, die darin liegen, interessieren NETZ. Die Entwicklungsprojekte nehmen konstruktive Elemente dieser Strategien auf, um sie zu nutzen, zu systematisieren, effektiv zu verstärken und Unrecht zu wenden. 

Paul Charua Tigga (1943-2011) war einer der Initiatoren der Partnerschaft zwischen Menschen in Bangladesch und Deutschland, aus der NETZ hervorging. Als Führungspers.nlichkeit in NGOs in Bangladesch leitete er viele junge Menschen an, die in Entwicklungsprojekten arbeiteten. Wenn die Diskussionen nicht enden wollten, wie denn diese oder jene Komponente der Projekte gestaltet und umgesetzt werden soll, sagte er: „Geht zu den Menschen. Dort ist die Lösung.“ Unweigerlich hatte dies für Mitarbeiterinnen und deutsche Freiwillige zur Folge, eigene Annahmen und Einstellungen infrage zu stellen, die Welt mit den Augen der Ärmsten zu sehen, sich ihre Perspektive zu verinnerlichen, zumindest partiell. Diese Haltung, dass die Essenz der Ideen und Bedürfnisse der Bevölkerung entscheidend ist für die Gestaltung von Entwicklungsaktivitäten, ist NETZ eigen. 

NETZ nimmt erfreut die finanzielle Unterstützung von Institutionen entgegen, mit denen es die Emanzipation der Menschen und die Transformation von Unrechtsverhältnissen unterstützen kann. Keine Zuschüsse nimmt die Organisation von internationalen Institutionen an, die offenkundig in die Innenpolitik Bangladeschs eingreifen. Entwicklungsprojekte von NETZ und seinen Partnern thematisieren Machtstrukturen als Ursache von Armut und Unrecht. Auch im Dialog mit Förderinstitutionen, die eher technokratische Lösungen zu Überwindung von Armut bevorzugen, behält NETZ diese Ausrichtung und nimmt unter Umständen in Kauf, dass eine Projektförderung abgelehnt wird. Kritische Analysen und konstruktive Vorschläge, die im Rahmen einer Projektumsetzung eingebracht werden, heißen die lokalen Partner und NETZ willkommen. Doch einer direktiven Einmischung durch Förderinstitutionen widersetzen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Als Mitglied des Verbandes Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe (VENRO) tritt NETZ dafür ein, dass NGOs das Vorschlagsrecht für Projekte haben und dies durch das deutsche Entwicklungsministerium nicht eingeschränkt wird.

Postkoloniale Sichtweisen

Die Diskussion postkolonialer Sichtweisen eröffnet NETZ die Chance, versteckte Rassismen aufzudecken. Mitarbeitende reflektieren unter anderem stärker, wer spricht, wer als handelnde Person dargestellt ist, wie interne Entscheidungsprozesse ablaufen, und thematisieren verstärkt politische Handlungsmöglichkeiten. Der große Fundus an Erfahrungen innerhalb der Organisation bietet viele Anknüpfungspunkte. Das Engagement vieler ehren- und hauptamtlich Aktiver in Deutschland beruht auf einer Wertschätzung der vielfältigen, dynamischen Kulturen Bangladeschs. Manche stellen durch die Konfrontation mit dem Land ihre Privilegien infrage, andere setzen Anregungen, die sie aus Entwicklungsprojekten in Bangladesch mitgenommen haben, in Deutschland um. NETZ setzt Stereotypen ein vielseitiges Bangladesch- Bild entgegen, durch Vorträge, Veröffentlichung bangladeschischer Literatur, die Präsentation zeitgenössischer Kunst, eine differenzierte Information über die Gesellschaft und die Motivierung von Menschen, sich langfristig mit dem Land zu beschäftigen. Die selbstkritische Reflexion, welche der postkoloniale Diskurs auslöst, liefert wertvolle Anregungen für dieses vielfältige Engagement. 

Die entwicklungspolitische Bildung von NETZ in Deutschland hat das Ziel, für Unrecht zu sensibilisieren, Ursachen zu benennen, Auswirkungen aufzuzeigen, Empathie anzuregen, zu Solidarität zu ermutigen. Sie bezieht Emotionen und Intellekt ein, Körper und Seele, Aktion und Reflexion. Bestandteil dieses Lernens ist es, Stereotype aufzudecken und unterschiedliche Perspektiven anzubieten. Der postkoloniale Diskurs hat zur Folge, dass die Bildungsarbeit stärker reflektiert, welches Wissen sie verwendet und wer dieses vermittelt. Künftig wird sie noch stärker Widersprüche der Entwicklungszusammenarbeit und eurozentrische Muster, die dem Denken des Kolonialismus zuzuordnen sind, benennen. 

Mitfreude und Mitleid sind wertvoll. Sie sind eine evolutionsgeschichtliche Errungenschaft. Nichts ist dagegen einzuwenden, einem Mitmenschen aus Mitgefühl zu helfen, ganz gleich, ob er im selben Haus wohnt oder in einem entfernten Land. Für den Empfänger der Hilfe macht es einen Unterschied, ob dies in einer Haltung als Wohltäter geschieht, auf Augenhöhe oder aus einer Überzeugung materiellen Umverteilens – und für die Geberin auch. Einstellungen sind wandelbar. Neue Perspektiven gewinnt man häufig dadurch, dass man sich auf Begegnungen einlässt. NETZ lädt dazu ein. Zum Beispiel kommen jedes Jahr Vertreterinnen der Zivilgesellschaft Bangladeschs nach Deutschland, um in Vorträgen und persönlichen Gesprächen über ihre Erfahrungen und Perspektiven zu berichten. In den vergangenen Jahren waren auch Vertreterinnen aus Entwicklungsprojekten darunter. Alle Interessierten sind zu den Gesprächen eingeladen. Eine größere Sensibilisierung für Kolonialgeschichten und ihre aktuellen Fortschreibungen werden diese Begegnungen bereichern. Elend in Miniaturform Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verschärft. Die sprachliche und bildliche Sensibilisierung durch die postkoloniale Kritik verläuft parallel zur Brutalisierung der ökonomischen und politischen Verhältnisse. Wie soll mit dem Spannungsfeld umgegangen werden? Die Gefahr besteht zumindest, dass globale Probleme nur in Miniaturform dargestellt werden. Im Diskurs über koloniale Kontinuitäten wird oftmals die Darstellung von Leid als skandalös empfunden und kritisiert, nicht mehr das Leid und die ursächliche Gewalt selbst. Die Diskussion wandert auf die Ebene der Benennung. Dadurch können Probleme entpolitisiert werden. Mütter, die ihre Kinder hungrig zu Bett bringen, Jungs, die arbeiten gehen statt in die Schule, und indigene Gruppen, deren Häuser angezündet werden, haben anderen Sorgen – und ihr Recht, dass diese adressiert werden. Die scheinbare Brutalität der Darstellung dieser Gewalt kann durchaus warmherzigen Respekt gegenüber den betroffenen Menschen zum Ausdruck bringen, auf einer fundierten Analyse der Ursachen fußen und auf kolonialgeschichtlichem Bewusstsein. Dass jeder Mensch ein Recht auf eine würdevolle Darstellung hat, dürfte Konsens für alle Akteure der Entwicklungszusammenarbeit sein. Wie werden NGOs dies künftig definieren und umsetzen? Hier eröffnen sich neue Räume für Kreativität in der Gestaltung der Öffentlichkeitsarbeit.

Lernen und Handeln

Die Analyse einer Entwicklungsorganisation, welche kolonialen Spuren in ihr wirken, verläuft kontrovers und ist mitunter schmerzhaft. Doch auch hier gilt: was einfach zu haben ist, ist meist nicht viel wert. Die Veränderungen, die die Diskussionen innerhalb von NETZ auslösen, verlaufen in einem Prozess aus Reflexion und Aktion. Der Verein ergreift die Chance der postkolonialen Sensibilisierung, blinde Flecken in seiner Arbeit anzuschauen. Umgekehrt kann auch für die postkoloniale Bewegung eine Chance in der Auseinandersetzung mit NGOs wie NETZ liegen, die sich dezidiert an den Rechten marginalisierter Gruppen orientieren.

Peter Dietzel ist gelernter Schreiner, seit 40 Jahren entwicklungspolitisch in der Partnerschaft zwischen Bangladesch und Deutschland aktiv und bis März 2020 Geschäftsführer von NETZ. Der Beitrag erschien in der Bangladesch-Zeitschrift NETZ 1/2-2018 Koloniale Kontinuitäten Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei NETZ anfordern.

Welches Bild bildet soziale Realität ab? Welche Bilder haben die Kraft zur Kritik an der Gesellschaft? Was vermitteln sie über die Ursachen von Reichtum und Armut? Mitglieder eine Hindu- Gemeinschaft im Süden Bangladeschs haben darum gebeten, ein Bild von ihrem Tempel zu machen. Sie hätten keine Ressourcen mehr, ihn zu erhalten. In ihrer Region werden auf ehemals fruchtbaren Reisfeldern tonnenweise Krabben für den Export gezüchtet. Foto: Peter Dietzel

Mehr BeiträgeAlle Beiträge

Ihre Spende kommt an.

Alle Projekte ansehen
Jetzt spenden

Sichere SSL-Verbindung