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„Einkommensungleichheit ist ein großes Thema“

Der Wissenschaftler Mustafizur Rahman spricht von Millionen Menschen in Bangladesch, die durch die Corona-Pandemie ihre Existenzgrundlage verlieren und zu „neuen Armen“ werden. Im Interview mit dem Bangladesch-Forum erklärt er, warum diese Menschen dennoch ignoriert werden – und was das mit Bangladeschs wirtschaftlichem Aufstieg zu tun hat. 

Frage: Das künftige Budget für das soziale Sicherheitsnetz in Bangladesch ist gesunken, der Finanzminister bestreitet eine neue Armutswelle durch die Corona- Pandemie – obwohl Sie und andere Forscher einen deutlichen Anstieg und eine Generation der „neuen Armen“ durch die Pandemie- Folgen feststellen. Besteht die Gefahr, dass die Armutsbekämpfung auf der Strecke bleibt, während Bangladesch zu einem „Land mit mittlerem Einkommen“ aufsteigt? 

Mustafizur Rahman: Die Existenz der „neuen Armen“ abzustreiten, ist fernab der Realität. Unsere Erhebungen – und die vieler anderer Organisationen – zeigen, dass es eine nun zusätzliche große Anzahl „neuer Armer“ durch die Folgen der Corona- Pandemie gibt, dass es Verschiebungen der Arbeit vom Dienstleistungssektor zur Landwirtschaft gibt und das Einkommen vieler Menschen dadurch deutlich gesunken ist. Vor der Pandemie war Bangladeschs Weg zur Graduierung zum „Staat mittleren Einkommens“ stark und selbstsicher aufgrund der Entwicklung seit der Unabhängigkeit. Nun kommen durch die Pandemie viele Herausforderungen zu den bereits existierenden hinzu. Der Anstieg der Zahl „neuer Armer“ wird nach der Pandemie zwar wohl wieder etwas zurückgehen, aber es werden viele Menschen arbeitslos bleiben oder in prekären Situationen leben, anders als noch vor der Pandemie. Auch wird das Land – sofern sich die Wirtschaft erholt – wohl auch künftig die für eine Graduierung relevanten Schwellenwerte überschreiten. Aber wir müssen bedenken: Die wichtigen Indikatoren für das sogenannte menschliche Vermögen (Human Assets Index) und die ökonomischen Verwundbarkeit einer Volkswirtschaft (Economic Vulnerability Index) sind in Bangladesch pandemiebedingt geschwächt worden. Überdies wurden sie 2015 international fixiert, was eine Graduierung von Entwicklungsländern einfacher möglich macht. Nach dieser Änderung der Indikatoren sind plötzlich zwölf der am wenigsten entwickelten Länder (Least Developed Countries, LDC) für die Graduierung infrage gekommen, während in den 40 Jahren zuvor nur fünf LDCs aufstiegen. Doch für mich ist vor allem wichtig, dass es eine nachhaltige Graduierung Bangladeschs geben wird. Dafür sind eine gute Vorbereitung und das Gewappnet-sein für Herausforderungen sehr wichtig. 

Welche Herausforderungen bringt die Graduierung mit sich? 

Rahman: Der Verlust internationaler Unterstützung und Zugangsmöglichkeiten zu internationalen Märkten werden große Themen sein. Bis 2029 werden die zoll- und quotenfreien Marktzugänge zur Europäischen Union aufgehoben sein, in anderen Ländern sogar schon 2026. Es wird zu stärkeren Konkurrenzsituationen kommen, bei denen auch die bangladeschische Textilindustrie betroffen sein wird. Der Pharmasektor wird wegen eines Handelsübereinkommens ebenso stark von der Graduierung betroffen sein. Bangladesch wird hier künftig für Lizenzen und Patente zahlen müssen, was derzeit noch nicht der Fall ist. Der endende Status als Entwicklungsland wird ebenso Auswirkungen bei Arbeitsrechten oder Sicherheitsrichtlinien der Industrie haben, die bis dahin verbessert sein müssen. Zudem hat die Corona-Krise gezeigt, dass die digitale Wirtschaft die Beschäftigungsmöglichkeiten zwar zu erhöhen vermag. Doch entsprechend braucht es dafür nun Richtlinien und Regularien. Bangladesch muss sich jetzt vorbereiten – und all das im Schatten der Pandemie. 

Die Corona-Lage in Bangladesch ist vergleichsweise besser als in Indien. Wie vertrauenswürdig ist die Datenlage in Sachen Infektionszahlen? Wie sehr ist das Gesundheitssystem durch die Pandemie belastet? 

Rahman: Die Regierung veröffentlicht regelmäßig Daten zu Infektionen, Genesenen und Todesfällen. Auch die Zeitungen berichten über die Situation und stützen sich auf unabhängige Quellen. Viele Menschen lassen sich jedoch zu Hause behandeln und gehen nur ins Krankenhaus, wenn es unbedingt notwendig ist. Die tatsächliche Zahl der Covid-Fälle könnte also höher sein, auch da es nicht genügend Tests gibt. Während die Infektions- und Todesraten in der Anfangsphase der Pandemie niedriger waren als in Indien, ist dies jetzt nicht mehr der Fall. Die Impfrate ist in Bangladesch immer noch niedrig, obwohl die Regierung ihr Bestes tut, um Impfstoffe zu beschaffen, die den Bürgern kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Bislang wurden etwa sechs Prozent der Bevölkerung geimpft. Bedauerlicherweise sind die öffentlichen Ausgaben für die Gesundheitsfürsorge hierzulande gering; sie sind sogar die niedrigsten in Südasien. Das Meiste muss aus eigener Tasche bezahlt werden. Die Behandlung einer Covid-Infektion ist insbesondere für arme Menschen teuer, wenn sie nicht in öffentlichen Krankenhäusern behandelt werden. Bereits nach der ersten Welle der Pandemie stand das Gesundheitssystem unter großem Druck. Viele Intensivstationen waren nicht ausreichend ausgestattet, um die Situation zu bewältigen. Die Regierung hat zwar versucht, zusätzlichen Betten und Intensivstationen zu schaffen, aber der Druck ist nach wie vor sehr hoch. Das Auftreten der aggressiven Delta-Virusvariante hat die Situation noch schwieriger gemacht. Trotz der Abriegelung blieb die Grenze zwischen dem indischen Bundesstaat Westbengalen und Bangladesch ziemlich durchlässig, und die Grenzbezirke haben am meisten unter Delta gelitten. Es sind dringend Initiativen im Gesundheitssektor erforderlich, um die Effizienz zu verbessern und die Qualität der Dienstleistungen zu erhöhen, insbesondere für die marginalisierten Gemeinschaften und abgelegenen Gebiete.

 Rund um die Covid-Impfungen gibt es inzwischen Patentdiskussionen: Würden Industrieländer Impfstoffpatente freigeben, könnten Entwicklungsländer selbst Vakzine produzieren. Hätte Bangladesch Kapazitäten, in einem solchen Fall schneller Impfstoff selbst herzustellen?

 Rahman: Indien, Südafrika und andere Staaten haben das bei der Weltgesundheitsorganisation angestoßen. Und ja, es hätte eine positive Wirkung, wenn die Patente für die Impfstoffe weltweit aufgehoben würden. Aber eine andere Option wäre die Erteilung von Lizenzen. Bangladesch verfügt über einen dynamischen Pharmasektor, der fast die gesamte Inlandsnachfrage deckt und auch auf den Weltmarkt exportiert. Drei große Pharmaunternehmen haben erklärt, dass sie in der Lage wären, Impfstoffe zu produzieren, sobald die Lizenzen öffentliches Eigentum sind. Es wird einige Zeit dauern, aber sie haben die Kapazitäten, um zu produzieren, vielleicht gemeinsam mit ausländischen Partnern. Ein Unternehmen hat zuletzt bereits eine Vereinbarung über eine gemeinsame Produktion mit China unterzeichnet.

 Die Kennzahl der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) ist in Bangladesch bemerkenswert und höher als in Indien. Trotzdem sprechen Sie von einer großen Einkommensungleichheit. Wie kann diese überwunden werden? 

Rahman: Die Einkommensungleichheit ist aus sozialer und politischer Sicht ein großes Thema. Manche Experten sagen,sie werde erst zu- und dann im Laufe der Entwicklung und des Aufschwungs automatisch wieder abnehmen. Studien haben aber gezeigt, dass Länder, die mit weniger sozialer Ungleichheit starten, mittel- und langfristig schneller wachsen. Die Einkommensungleichheit hemmt also akut das Wachstum, weil die Nachfrage im Land geringer ist, wenn es keine schnell wachsende Mittelschicht gibt. Was kann also getan werden? Wir sollten uns in Richtung einer universellen Sozialversicherung, eines universellen Gesundheitssystems und einer Arbeitslosenversicherung bewegen und das Sozialsicherungsnetz stärken. Das könnte die Ungleichheit von Einkommen und Konsum reduzieren. Der beste Weg, Einkommensungleichheit zu beheben, ist, ein inklusives Wirtschaftswachstum und somit besser bezahlte Jobs zu schaffen. Auch die ausländischen Direktinvestitionen waren in den vergangenen Jahren zu gering 

Wie ist angesichts der Einkommensungleichheit die Situation von Frauen und indigenen Gruppen, die als besonders benachteiligt gelten?

 Rahman: Während der Corona-Pandemie hat sich die Lage der Frauen leider verschlechtert. Mädchen werden verheiratet, weil sie nicht zur Schule gehen. Es wird von zunehmender häuslicher Gewalt berichtet. Mehr Kinder müssen arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen. Einkommensschwache Gruppen sind von all diesen Entwicklungen stärker betroffen. Eine CPDStudie hat ergeben, dass die Arbeit von Frauen nur unzureichend anerkannt und kompensiert wird. Wir haben errechnet, dass Frauen mit ihrer häuslichen und informellen Arbeit, die nicht erfasst und bezahlt wird, eine Leistung von bis zu 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts stellen. Entscheidend ist außerdem, gleichwertige Lebensbedingungen für indigene Gruppen zu schaffen. Genauso sind ethnische Minderheiten beziehungsweise indigene Gruppen durch die Folgen der Pandemie umso härter getroffen. Hier muss die Entwicklung Bangladeschs inklusiver werden.Das gilt besonders auch für die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung und den Anspruch „leave no one behind“, also niemanden zurückzulassen. 

Ein Thema, das Indigene besonders betrifft, sind Landrechte. Um attraktiv für ausländische Investoren zu sein, richtet Bangladesch derzeit Sonderwirtschaftszonen (SEZ) ein. Sind diese nicht eine potenzielle Quelle für Landkonflikte? 

Rahman: Landrechte insbesondere der Bergbevölkerung und der Indigenen sind ein wichtiges Thema und geben in Bangladesch weiterhin Anlass zur Sorge. Obwohl einiges zur Verbesserung getan wurde, weisen Gemeindevorsteher*innen und Minderheitenvertreter *innen auf Fälle hin, in denen ihr Eigentum angegriffen wurde und ihre Landrechte verletzt und gemeinsame Ressourcen von einflussreichen Gruppen in Besitz genommen wurden. Jene mit ihren ganz eigenen Interessen nutzen oft die Unklarheiten bei der Auslegung von Gesetzen aus und üben Macht und Einfluss aus, um diese Gemeinschaften ihrer in der Verfassung und in den Gesetzen verankerten Rechte zu berauben. Die Regierung verfügt über Gesetzesgrundlagen, nach denen Sonderwirtschaftszonen (von denen gerade 100 in Planung sind, zusammen mit ausländischen Investoren) nur auf staatlichem Land errichtet werden können. Und dass bestimmte Landwirtschaftsflächen nicht für industrielle Zwecke genutzt werden dürfen. Bei den Zonen an sich sehe ich kein Problem. Aber es braucht politische Maßnahmen, um den Anliegen der womöglich lokal betroffenen marginalisierten Gemeinschaften Rechnung zu tragen. Und die müssen ernsthaft umund durchgesetzt werden. 

Wie hat sich die Pandemie insgesamt auf die Lage extrem armer Menschen ausgewirkt? 

Rahman: Es gibt eine allgemeine und eine extreme Armutsgrenze. Vor der Pandemie lebten neun Prozent der Menschen unter der extremen Armutsgrenze, 20 Prozent unter der allgemeinen Armutsgrenze. Das sind die Menschen, die in sehr abgelegenen Gebieten wohnen und saisonal in der Landwirtschaft arbeiten. Die Regierung versuchte, sie mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und dem Sozialsicherungsnetz zu unterstützen, doch die Integration der extrem Armen erfordert besonderen Einsatz und besondere Maßnahmen wie Aus- und Fortbildung. Diese Menschen können nicht ohne weiteres vom Wirtschaftswachstum und den Marktmechanismen profitieren. Während der Pandemie haben diese Menschen noch viel mehr gelitten. Zivilgesellschaftliche und kommunale Wohlfahrtsorganisationen, die in solchen extremen Fällen immer eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Betroffenen spielen, wurden während der Corona-Krise nicht ausreichend einbezogen. Die Regierung hat in der Krise entschieden, eigenständig zu handeln. Erst jetzt wird versucht, NGOs und lokale Initiativen einzubeziehen – was hoffentlich zu mehr Erfolg führt. 

Was sind für Sie aktuell die größten Herausforderungen für Bangladesch?

 Rahman: Die Wirtschaft wird sich irgendwann von den Folgen der Pandemie erholen. Aber der Schaden, der entstanden ist, wird noch viele Jahre eine Belastung bleiben. Eine große Sorge ist der Bildungsbereich: Kinder gehen seit knapp 18 Monaten nicht mehr zur Schule. Diejenigen, die in ländlichen und abgelegenen Gebieten leben, waren kaum in der Lage, die Online-Angebote zu nutzen. Wir müssen gezielte die Schäden und negativen Auswirkungen der Pandemie auf die Bildung von Kindern beseitigen. Andernfalls wird die Ungleichheit weiter zunehmen, was sich langfristig negativ auf Wirtschaft, Gesellschaft und das Gemeinwesen auswirkt. Wir müssen diesen Herausforderungen genügend Aufmerksamkeit schenken, die ihnen leider noch nicht zukommt. Die Bedürfnisse von Kindern aus marginalisierten Gemeinschaften müssen besonders berücksichtigt werden. Bangladesch hat sich verpflichtet, die UN-Ziele für eine nachhaltige Entwicklung umzusetzen und dabei niemanden zurückzulassen. 

Professor Rahman, vielen Dank für das Gespräch.

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