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Die Pandemie als doppelte Krise für Arbeiter*innen Schockierende Gleichgültigkeit

Die Auswirkungen der Corona- Pandemie auf die Textilindustrie Bangladeschs haben das eklatante Machtgefälle zwischen internationalen Modefirmen einerseits und den nationalen Lieferanten in Bangladesch andererseits und die schlimmen Folgen dessen offenbart. Vor allem aber hat die Pandemie gezeigt, wie prekär die Lage von Frauen aus Bangladesch im Gefüge globaler Lieferketten ist und wie wenig sie als Arbeitskräfte anerkannt sind. Angesichts der nationalen Lockdowns infolge der Pandemie und der sinkenden Verbrauchernachfrage haben europäische und nordamerikanische Einkäufer im März 2020 Zahlungen für bangladeschische Produkte im Wert von 1,44 Milliarden Dollar gestrichen oder verschoben. Presseberichten zufolge hat das Unternehmen Primark, das im vergangenen Jahr einen Betriebsgewinn von 1,07 Milliarden Dollar erzielte, zunächst alle Bestellungen bei seinen Zulieferern storniert, einschließlich der Bestellungen aus Bangladesch und der „Bestellungen, die bereits in den Fabriken produziert wurden“, wie es hieß. Viele Käufer*innen weigerten sich, für Waren zu zahlen, die bereits verschifft worden waren, in Häfen lagen oder bereits in Geschäften waren, und „verhandelten“ stattdessen Verträge neu und senkten die Preise um bis zu fünfzig Prozent. Die Käufer*innen verlangten nicht nur hohe Preisnachlässe, sondern bestanden auch auf einen Zahlungsaufschub, manchmal weit über die vertraglich festgelegte Frist von neunzig Tagen hinaus.

Die Einzelhändler*innen setzten sich einseitig von den verbindlichen Verpflichtungen der formellen Verträge ab, indem sie sich auf „höheren Gewalt“ beriefen, eine wenig bekannte Klausel des internationalen Handelsgeschäfts. Die bangladeschischen Lieferant*innen hielten sich nachvollziehbarerweise mit rechtlichen Schritten zurück, aus Furcht, die Käufer*innen zu verprellen, von deren Wohlwollen künftige Aufträge abhängen. Entsprechend der gegenwärtigen Lieferkettenmechanismen sind Hersteller*innen für alle Kosten verantwortlich, bis die Endprodukte versandt werden. Für kleine Fabriken, die oft mit hauchdünnen Gewinnspannen arbeiten, macht diese Regelung eine rechtzeitige Bezahlung ihrer Arbeiter*innen selbst in den besten Zeiten schwierig. Die Pandemie hat diese Anfälligkeit noch vergrößert, sodass kleine Unternehmen nur über geringe oder gar keine Barmittel verfügen. Zwar gibt es innerhalb der Branche im Land beträchtliche Unterschiede was Größe und Rentabilität angeht – doch sind viele Fabriken nicht in der Lage, pünktlich zu zahlen.

Die Folge jener stornierten, aufgeschobenen und mit Preisnachlässen versehenen Aufträgen zwang Hunderte von Fabriken in Bangladesch, ihre Produktion zu minimieren oder ganz zu schließen. Die meisten taten dies abrupt, ohne die Beschäftigten zu informieren oder ausstehende Löhne zu zahlen. Zum Zeitpunkt dieser Erhebung (September 2020) waren Exportaufträge im Wert von rund 3,8 Milliarden Dollar entweder ausgesetzt oder storniert, wovon etwa 2,2 Millionen Beschäftigte in 1150 Fabriken betroffen waren – also mehr als die Hälfte der schätzungsweise 4,1 Millionen Beschäftigten in der Branche, von denen die meisten Frauen sind.

Seit Beginn der Pandemie wurden bis dahin mehr als eine Million Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie entlassen, unter Bedingungen, die äußerst ungleiche Machtverhältnisse zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen widerspiegeln. Diese Asymmetrie wurde durch die Pandemie noch verschärft. Gewerkschaftsaktivist*innen und Medien berichteten, dass das Fabrikmanagement die Beschäftigten zur Kündigung gezwungen haben, anstatt sie direkt zu entlassen, wodurch den Beschäftigten das Recht auf eine Abfindung verweigert wurde. Trotz anderslautender Regierungsanweisungen wurden in den ersten Monaten der Pandemie vor allem Beschäftigte mit weniger als einem Jahr Berufserfahrung entlassen. Schwangere Arbeitnehmerinnen waren die nächsten, die zur Kündigung gezwungen oder wegen Fehlern entlassen wurden, wodurch ihnen Mutterschaftsgeld und andere Abfindungen vorenthalten wurden. Da Fabriken Kosten einsparten, indem sie die Zahl der Beschäftigten am Fließband reduzierten, verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen für die zurückbleibenden Arbeiterinnen – durch Erhöhungen der individuellen Produktionsquoten und mehr erzwungener und unbezahlter Überstunden als zuvor.

Die Angst vor willkürlichen Entlassungen ist in der Branche allgegenwärtig. Ende April 2020 eilten Arbeiter*innen, die die Hauptstadt Dhaka während der landesweiten Lockdowns verlassen hatten, zurück. Sie waren informiert worden, dass die Fabrikproduktion wieder aufgenommen werden sollte. Da pandemiebedingt aber keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren, legten sie Hunderte von Kilometern zu Fuß zurück. Viele hatten seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten und befürchteten, dass das Fabrikmanagement einen Vorwand hätte, sie ohne Bezahlung zu entlassen, wenn sie nicht pünktlich zur Arbeit erscheinen würden. In Dhaka angekommen, wurde den Arbeiter*innen gesagt, sie seien falsch informiert worden und sollten in ihre Dörfer zurückkehren.

Dieses Szenario spielte sich zweimal ab und verdeutlichte die schockierende Gleichgültigkeit der politischen Entscheidungsträger*innen und Interessenvertreter* innen gegenüber dem Leben der Arbeiter*innen. Die Bangladesh Garment Manufacturers and Employers Association (BGMEA), eine mächtige Industrielobby, weigerte sich, die Verantwortung für die „Verwirrung“ zu übernehmen und schob die Schuld stattdessen auf eine regierungsseitige Fehlkommunikation. Die Textilarbeiter*innen wurden überdies als potenzielle Corona- Verbreiter*innen stigmatisiert – ihre erzwungene Mobilität wurde als unverantwortlich moniert. Von Vermietern abgewiesen und von Verwandten gemieden, wurden sie als Querulant*innen dargestellt, die Lockdowns absichtlich ignorierten.

Die Auswirkungen der Pandemie auf die nationale Wirtschaft erinnern an den hohen Preis dafür, Teil einer außerordentlich asymmetrischen globale Produktionskette geworden zu sein – das gilt nicht nur für Bangladesch, sondern für alle Bekleidungsexportnationen. Es ist ein globales Problem, das eine globale Antwort erfordert. Als die Bekleidungsindustrie in Bangladesch davor im Rampenlicht stand – beim Einsturz des „Rana Plaza“-Gebäudes –, folgten zwar Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Arbeiter*innen. Diese ließen das Lieferkettenproblem allerdings unangetastet. Entscheidend ist, das Machtungleichgewicht in der Lieferkette zu beseitigen, damit Risiken gerechter verteilt werden. Transnationale Arbeitnehmervertreterinnen, internationale Organisationen wie die Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (IAO), Verbraucher*innen und politische Entscheidungsträger*innen müssen Einkaufspraktiken überdenken und so gestalten, dass die Arbeitnehmer*innen geschützt werden. Dies erfordert eine kollektive Zusammenarbeit.

Auch auf nationaler Ebene gibt es viel zu tun. Die Regierung muss sicherstellen, dass Fabriken die nationalen Arbeitsgesetze nicht ignorieren. Die BGMEA sollte in der Lage sein, ein System der kurzfristigen Finanzierung für kleinere und gefährdete Unternehmen zu organisieren. Die politischen Entscheidungsträger müssen auch die Idee eines universellen Grundeinkommens wieder aufgreifen – nicht nur für Krisenzeiten.

Text: Dina Siddiqi. Die Autorin ist Professorin und unterrichtet an der New York University in den USA und der BRAC University in Dhaka.

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