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„Literatur macht uns mutig“ – „Sie zeigt, was es heißt, Mensch zu sein“

NETZ: Weltliteratur wird von Männern dominiert, Rabindranath Tagore – ein Mann – ist der bekannteste bengalische Dichter. Warum sind und waren Frauen auf dem globalen Lesemarkt so unterrepräsentiert?

Nazia Yeasmin: Unsere Gesellschaft, Kunst, Kultur und Literatur wurden schon immer von männlich dominierten Herrschaftssystemen kontrolliert. Der gesellschaftliche Blick auf die Rolle und die Verdienste von Frauen hat sich erst in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich verändert. Es ist klar, dass aufgrund fehlender Bildung und Möglichkeiten zu schreiben Frauen lange nicht am literarischen Leben teilhaben konnten. Schriftsteller*in, war früher zudem kein Beruf, mit dem man ein sicheres Auskommen hatte. Die Leute waren abhängig von der Förderung durch vermögenden Menschen, Kirchen und Tempel. Ihre Werke handelten von Macht, Tapferkeit und Kraft der Götter, Könige und Kriegsherren. Die Literatur jener Zeit und vieler weiterer Jahrhunderte war von Männern, über Männer und für Männer. Rabindranath Tagore war einer der vielseitigsten Schriftsteller aller Zeiten; er schuf Lieder, Gedichte, Kurzgeschichten, Theaterstücke. Er gehörte einer adligen Familie an, als Sohn eines einflussreichen Großgrundbesitzers, weswegen er Zeit zum Schreiben hatte, die ein einfacher Bürger nicht hatte. Das schmälert zwar nicht die Leistung dieses großen Schriftstellers, sagt aber viel über seine Situation. Bildung zu erhalten, ein Buch zu schreiben und zu veröffentlichen war keine Angelegenheit für das einfache Volk. Man kann sich vorstellen, wie schwer es für Frauen gewesen sein muss. Wenn diese nicht aus einer einflussreichen Familie stammten, war es fast unmöglich. Letztendlich ist Literatur nicht nur etwas Abstraktes und Künstlerisches, sondern auch ein Teil des Verlagsgeschäfts und der Weltpolitik. Nicht nur die Qualität der Schriftsteller*innen oder der Geschmack der Leser*innen entscheidet, wer die Literatur und den globalen Lesemarkt beherrscht. Es ist das Ergebnis sozialer Normen und Ungerechtigkeiten, die seit Tausenden von Jahren existieren.

NETZ: 1905 veröffentlicht Rokeya Sakhawat Hossain die Kurzgeschichte Sultanas Traum. In dieser feministischen Utopie werden die Geschlechterrollen vertauscht: Frauen haben durch eine hochtechnisierte und friedvolle Gesellschaft geschaffen, sie kontrollieren Politik und Wirtschaft. Männer dürfen das Haus nicht verlassen. Welche Reaktionen löste Sultanas Traum in der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts aus? Erlangte die Kurzgeschichte Berühmtheit, weil die Menschen sie mochten oder verabscheuten?

Nazia Yeasmin: Sultanas Traum wurde veröffentlicht, als Südasien noch unter britischer Kolonialherrschaft stand und die Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen aufgespalten war. Nur eine geringe Anzahl an gebildeten Menschen besaß liberale Einstellungen, während der Rest der Bevölkerung aufgrund von Religion, Traditionen und sozialen Normen Gleichberechtigung ablehnte. Diese liberal gesinnten Inder*innen, vor allem die Frauen unter ihnen, schätzten die Kurzgesichte. Doch der männliche chauvinistische Teil der Gesellschaft hasste sie zutiefst. Die Popularität, die Sultanas Traum erlangte, war wohl ein Ergebnis des Hasses.

Lucky Akter: Unterstützer der männlich dominierten Gesellschaft, haben diese Art von literarischem Werk nicht gemocht. Aber wer die Fesseln dieser patriarchalischen Normen sprengen wollen, liebte es. Rokeya Sakhawat Hossain war eine große Kämpferin, sie hat hart gearbeitet und die Gesellschaft auf eine immense Weise verändert. Die Anhängerschaft von Rokeya wächst heute.

NETZ: Auch wenn geschlechtsspezifische Diskriminierung noch tief in der modernen Gesellschaft Bangladeschs verankert ist, die Stellung der Frau verändert sich. Wie zeigt sich dieser Wandel in der Literatur?

Nazia Yeasmin: Die sich wandelnde Rolle der Frau hat einen bedeutenden Einfluss auf die Literatur. Heutzutage sind sich die Frauen ihrer Rechte mehr bewusst, wodurch sie sich laut gegen Ungerechtigkeit und Gewalt aussprechen. Außerdem haben wir zahlreiche vielversprechende Schriftstellerinnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die Frauen sind. Und das Gute ist, es werden von Tag zu Tag mehr. Doch es gibt auch eine Schattenseite: Leser*innen be-zeichnen Schriftstellerinnen und Kolumnistinnen manchmal als „zu feministisch” oder „zu weiblich”. Wenn ihnen Texte „zu feministisch“ erscheinen, werfen die Leser*innen den Autorinnen sogar vor, dass die Thematik nicht relevant für unsere Kultur sei.

Lucky Akter: Nach wie vor stellt die Mehrheit der Schriftsteller Frauen als Sexualobjekte dar. Und Frauen bleiben machtlos. Aber viele der Drehbuchautor*innen oder anderen Schriftsteller*innen schreiben jetzt über geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen. Diese Art von Diskussion ist jetzt auch in den Mainstream-Medien zu hören. Es gibt einen Kampf die frauenfeindliche Darstellungen in den populären und etablierten Medien.

NETZ: Was ist Frauenliteratur, was ist feministische Literatur?

Nazia Yeasmin: Das sind zwei völlig unterschiedliche Begriffe. Feministische Ansätze in der Literatur unterstützen die feministischen Ziele: gleiche zivile, politische, wirtschaftliche und soziale Rechte für Frauen anerkennen und durchsetzen. Feministische Literatur untersucht und hinterfragt männliche Privilegien, den ungleichen Status, das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern und plädiert für eine Veränderung. Diese Darstellung kann jedoch von Schriftsteller*innen aller Geschlechter stammen. Frauenliteratur und das Schreiben von Frauen ist ein Studiengebiet, das sich seit den 1970er-Jahren entwickelt, und von Verleger*innen als eine Kategorie für Werke von Frauen angesehen wird. Ich finde diese Definition reduzierend, da ich mich frage, ob wir die Verdienste der Frauen nur aufgrund ihres Geschlechts abbilden.

NETZ: In vielen Schulen Bangladeschs führen Kinder Theaterstücke auf, um die negativen Auswirkungen von Kinderehen oder Gewalt gegen Frauen zu thematisieren. Was bewirken diese Kulturveranstaltungen gesellschaftlich?

Lucky Akter: In einer Bildungseinrichtung sind die außerschulischen Aktivitäten sehr wichtig, Theateraufführungen beispielsweise. Sie entfalten eine große Wirkung. Sie spielen eine bedeutende Rolle dabei, auf die Mentalität der Menschen einzuwirken. Und das kann die Menschen von altem und patriarchalischem Gedankengut befreien. Die Theaterstücke schaffen ein Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit und fördern eine positive Einstellung der Landbevölkerung gegenüber dem Thema.

Nazia Yeasmin: Sensibilisierungskampagnen durch Theateraufführungen in Schulen sind der effektivste Weg für die Menschen, einen Bezug zu ihrem realen Leben herzustellen. Doch trotz erheblichen Fortschritts in den letzten Jahren gehört Bangladesch weltweit zu den zehn Ländern mit der höchsten Rate an Kinderverheiratungen und hat zugleich die höchste in Südasien. Die Corona-Pandemie und die daraus resultierenden Schulschließungen und Einkommensverluste von sehr vieen Familien drohen leider, den bedeutenden Fortschritt zunichtezumachen, der bisher beim Kampf gegen Kinderverheiratung erreicht wurde.

NETZ: Welche Rolle spielen Theater und Literatur für Ihr Engagement als Menschenrechtsaktivistinnen?

Nazia Yeasmin: Literatur hilft mir, meine Ziele und meinen Zweck zu verstehen. Sie verdeutlicht in und durch ihre vielfältigen Erzählungen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Sie erinnert mich auch an meine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, dass jede*r von uns die Möglichkeit hat, sozialen Wandel zu bewirken. Da ich mich für das Recht auf Bildung einsetze, liegen mir der Schutz von Kinderrechten besonders am Herzen. Es ist wichtig, die Würde der Kinder zu achten, die Stärken jedes Kindes anzuerkennen alle einzubeziehen - ungeachtet der Unterschiede in der Kultur, der familiären Situation, der Sprache, der Herkunft, des Geschlechts. Ich betrachte Literatur als ein Kraftwerk für Veränderung. Der eine nutzt Literatur als Fluchtweg, der andere nutzt sie zur Heilung. Es ist unmöglich, die Bedeutung von Literatur in einem Satz zu definieren. Das Wichtigste ist, dass Literatur uns zum Nachdenken anregt. Sie lädt ein, unser Leben zu reflektieren, und im Austausch mit anderen, unsere Stimme zu erheben, die uns über Raum und Zeit verbindet.

Lucky Akter: Literatur hat einen großen Einfluss. Manchmal inspiriert Literatur die Menschen dazu, sich zu äußern. Manchmal können Menschen dank der Literatur tiefgründig, logisch oder emotional denken. Sie verbindet die Seele mit realistischen Ansätzen. Manchmal gibt uns Literatur die Kraft zu sprechen, unsere Gefühle auszudrücken. Sie macht uns mutig.

NETZ: Frau Yeasmin, Frau Akter, vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Louise Sellmair

Nazia Yeasmin

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