Land der Widersprüche
Von René Holenstein
Die britische Kolonialherrschaft in Südasien endete 1947 mit der Gründung Indiens und Pakistans als unabhängigen Staaten. Die Region Bengalen wurde geteilt: Westbengalen wurde ein indischer Bundesstaat und Ostbengalen Teil Pakistans (Ostpakistan, das spätere Bangladesch). Die Zentralregierung in Westpakistan benachteiligte aus Sicht der bengalischen Bevölkerungsmehrheit Ostpakistan jedoch in politischer, wirtschaftlicher und institutioneller Hinsicht. Für die bangladeschische Politikwissenschaftlerin Rounaq Jahan begann nach 1947 eine Zeit der neuerlichen Abhängigkeit, Unterdrückung und des „internen Kolonialismus“.
Als Reaktion darauf formierte sich in Ostpakistan eine Protestbewegung, die sich vor allem an der Sprachfrage (Soll das Urdu Pakistans oder Bengalisch als Staatssprache gelten?) entzündete. Im Verlauf der 1960er-Jahre radikalisierten sich die Proteste und mündeten schliesslich in die Proklamation der Unabhängigkeit des „Landes der Bengalen“ (Bangla-Desch) am 26. März 1971. Was folgte, war ein blutiger Krieg, der vom 25. März bis zum 16. Dezember dauerte, in den insbesondere Indien auf der Seite der Unabhängigkeitsbewegung eingriff. Der Krieg endete schließlich mit der Niederlage Pakistans und der Anerkennung der Ostprovinz als unabhängigen Staat Bangladesch. Erster Regierungschef wurde der Unabhängigkeitsführer Sheikh Mujibur Rahman.
Als Sheikh Mujibur Rahman nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges am 10. Januar 1972 ins befreite Bangladesch zurückkehrte (er war zuvor inhaftiert und nach Pakistan gebracht worden), kannte die Begeisterung seiner Anhängerinnen und Anhänger keine Grenzen. Die „Neue Zürcher Zeitung“ schrieb damals: „In der Landeshauptstadt reissen die Rufe ‘Joy Bangla – Sieg für Bengalen’ – und ‘Mujib zindabad – Lang lebe der Sheikh’ (…) nicht mehr ab.“ Hundertausende feierten die Geburt jener neuen Nation. In einer emotionalen Rede skizzierte der 51-jährige Mujibur Rahman seine Vision für das befreite Bangladesch: „Meine Unabhängigkeit wird vergeblich sein, solange sich das Volk meines Bengalen nicht von Reis ernähren kann (…), solange die Mütter und Schwestern dieses Landes keine richtige Kleidung tragen, [und] meine Jugend keine Arbeit findet.“ Mit seinem Charisma personifizierte Sheikh Mujibur Rahman (er wird in Bangladesch „Bangabandhu“, also „Freund der Bengalen“ genannt) die Hoffnungen der Menschen, die sich seit 1947 als Bürger zweiter Klasse gefühlt hatten. Dass das Land überlebte, sei wesentlich der „unvorstellbaren Überlebenskraft des Vol kes sowie der Persönlichkeit von Sheikh Mujibur Rahman“ zu verdanken, kommentierte damals eine Zeitung.
Als Unabhängigkeitsführer kämpfte Mujibur Rahman mit seiner Awami-Liga für nationale Selbstbestimmung und die Anerkennung der bengalischen Kultur. Bis 1970 hatte es die Awami-Liga geschafft, einen Konsens über vier Prinzipien herzustellen: Nationalismus, Sozialismus, Säkularismus und Demokratie, die 1972 in der Verfassung verankert wurden. Nach Ansicht von Iftekhar Zaman, der damals in der studentischen Bewegung an der Universität Dhaka aktiv war und heute die NGO Transparency International Bangladesch leitet, beinhaltete der Unabhängigkeitskampf „nicht nur die Idee eines eigenen Staates, sondern auch Werte wie Redefreiheit, Menschenrechte, Anerkennung der Minderheiten, Bürgerbeteiligung, Gerechtigkeit und Säkularismus.“
Nach nur dreieinhalbjähriger Amtsdauer wurden Sheikh Mujibur Rahman und der grösste Teil seiner Familie am 15. August 1975 in der Hauptstadt Dhaka ermordet. Nur seine beiden Töchter Sheikh Hasina und Sheikh Rehana überlebten, weil sie sich seinerzeit im Ausland aufhielten. Die Ermordung Mujibs stellte eine Zäsur dar und veränderte die politische Situation im Land grundlegend. Es folgte eine 15-jährige Phase der Militärherrschaft. Erst 1991 fand unter dem Druck einer Volksbewegung erneut ein Wechsel hin zu einem parlamentarischen Regierungssystem statt.
Danach bestand jahrelang praktisch ein Zweiparteiensystem, in dem sich die beiden größten Parteien des Landes an der Macht abwechselten. Die Politik wurde seitdem von der erbitterten Rivalität zweier Frauen dominiert: Sheikh Hasina Wajed, die Tochter des Staatsgründers Sheikh Mujibur Rahman von der Awami-Liga, und Khaleda Zia, die Witwe von General Ziaur Rahman von der Bangladesh Nationalist Party (BNP). Beide amtierten seit 1991 zu verschiedenen Zeiten jeweils als Premierministerinnen. Nach einer Zeit der Übergangsregierung (von 2006 bis 2008) hat die Awami- Liga die Parlamentswahlen dreimal in Folge gewonnen – seit 2009 ist Sheikh Hasina Premierministerin.
„Um Bangladesch wirklich zu verstehen, muss man ins Jahr 1971 zurückgehen, als wir unabhängig wurden und eines der ärmsten Länder der Welt waren – überall herrschte massive Armut“, sagt Zafar Sobhan, Chefredakteur der englischsprachigen Zeitung „Dhaka Tribune“ heute. Die Wirtschaft Bangladeschs hat in den letzten fünf Jahrzehnten einen tiefgreifenden Strukturwandel erfahren. Zur Zeit der Unabhängigkeit war das Land geprägt durch eine bäuerliche Agrarwirtschaft. Seit den 1990er-Jahren hat Bangladesch stark von der Globalisierung profitiert, sagt der Ökonom Debapriya Bhattacharya vom Centre for Policy Dialogue in Dhaka. Zusammen genommen machten Exporte, Importe, Auslandsmigration und Geldtransfers, ausländische Direktinvestitionen sowie öffentliche Entwicklungshilfegelder inzwischen mehr als fünfzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Landes aus. Die exportorientierte Bekleidungsindustrie habe Arbeitsplätze v. a. für Frauen geschaffen und zur Verringerung der Armut beigetragen.
Bangladesch gehört noch immer zu den ärmeren Ländern der Welt. Aber das Land hat bei der Armutsbekämpfung, der demografischen Entwicklung und der menschlichen Entwicklung beachtliche Erfolge erzielt. Der Anteil der Menschen, die unterhalb der nationalen Armutsgrenze leben, konnte in den Jahren zwischen 2000 und 2016 halbiert werden, von 48,9 Prozent auf 24,3 Prozent 2016, basierend auf der internationalen Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag. Diese Entwicklung ging einher mit einer höheren Lebenserwartung, einem verbesserten Zugang zu Elektrizität, sau berem Wasser und sanitären Einrichtungen sowie einem anhaltenden Rückgang der Geburtenrate. Mitte der 1950er-Jahre betrug die Lebenserwartung vierzig Jahre, seitdem hat sie sich um gut 30 Jahre gesteigert. Die Situation der Frauen hat sich insgesamt ebenfalls verbessert, obschon massive Ungleichheiten weiter bestehen und die Gewalt an Frauen zugenommen hat. Nichtregierungsorganisationen haben gemeinsam mit der Regierung zu diesen Erfolgen beigetragen. Den unbestreitbaren Errungenschaften und Erfolgen Bangladeschs stehen eine Vielzahl von Herausforderungen und Aufgaben gegenüber. Manche Fortschritte sind aufgrund der Coronakrise bedroht. Die Armut nimmt wieder zu. Eine nur unzureichende Infrastruktur sowie die ineffiziente Bürokratie und verbreitete Korruption werden als hauptsächliche Wachstumshemmnisse angesehen. Für den Wirtschaftsprofessor Rehman Sobhan stellt Bangladesch zwar eine „wirtschaftliche Erfolgsgeschichte“ dar. Aber die Entstehung einer „elitären Welt der Reichen“ betrachtet er mit Sorge. „Diese Elitegesellschaft steht im Widerspruch zu der grundlegenden Philosophie der Gründerväter dieses Landes. Der Vater von Premierministerin Sheikh Hasina entstammte einer bescheidenen Familie. Er selber hatte nie ein Auto, er besaß nichts ausser einem Haus in Dhanmondi (Viertel in der Hauptstadt Dhaka, Anm. d. Red.). Eine echte demokratische Ordnung müsste repräsentativ für die gesamte Bevölkerung sein. Wir sollten sicherstellen, dass Geld und Beziehungen nicht länger der Schlüssel für den Zugang zu einem gewählten Amt sind.“
Ungeachtet der erzielten Fortschritte sind die Zukunftsaussichten Bangladeschs ungewiss. Die derzeitige Regierung setzt erfolgreich auf die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung. Gleichzeitig ist es ihr gelungen, die Ausbreitung des islamischen Terrorismus zu stoppen und die gemäßigten islamischen Kräfte durch Zugeständnisse zu integrieren. Allerdings würden die Grundrechte auf Meinungs-, Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit zusehends eingeschränkt, bemängeln kritische Stimmen aus der Zivilgesellschaft. Aussenpolitisch setzt die Regierung die von Sheikh Mujibur Rahman formulierte Politik der Äquidistanz zu den Grossmächten fort, was jedoch immer schwieriger wird. Seit die chinesische Regierung vor Jahren ihr Seidenstrassenprojekt gestartet hat, konkurrieren China, Indien und Japan um den Zugang zum nördlichen Golf von Bengalen. Aus Sicht des Politologieprofessors Ali Riaz ist Bangladesch ein Land der Widersprüche und Paradoxien: Wirtschaftliche Entwicklung finde zwar statt, aber sie wird nicht begleitet von einer politischen Liberalisierung und der Verfestigung der Demokratie. Es ist offen, ob und wie lange Bangladesch den wirtschaftlichen Aufholprozess unter diesen Bedingungen fortsetzen kann.
Der Autor ist promovierter Historiker und Entwicklungsexperte. Er war von 2017 bis 2020 Schweizer Botschafter in Bangladesch. Gerade ist sein Buch „Mein goldenes Bengalen - Gespräche in Bangladesch“ im Chronos Verlag erschienen. Darin beschreibt er die Entwicklung des Landes seit der Unabhängigkeit. Gebunden, 256 Seiten, mit Abbildungen.