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„Keinen Flickenteppich mehr“ Einflüsse auf die komplexe Bildungslandschaft in Bangladesch

Der Sozialwissenschaftler, Essayist und Kritiker spricht mit NETZ über Mängel des bangladeschischen Bildungssystems und den Einfluss der kolonialen Vergangenheit. Der 58-Jährige ist Direktor des Zentrums für Moderne Theorie an der Universität der freien Künste in Dhaka und gehört zahlreichen Kulturvereinigungen an.

Im Gespräch: Prof. Dr. Salimullah Khan


NETZ: Wie ist es um die Bildungssituation in Bangladesch bestellt?

Salimullah Khan: Unter Bildung verstehen wir meist lediglich Schulbildung. Denn Schule wird mit Bildung gleichgesetzt. Aber es gab immer schon viel mehr und ganz andere Bildung, auch ohne Schule. Das Problem in Bangladesch und vielen anderen Ländern ist: Wie gebildet man ist, wird nur daran gemessen, wie viele Jahre man in der Schule verbracht hat. Und das wird dann als unsere Lebensleistung, als unser Produkt bewertet. Menschen in Produkte zu verwandeln, ist leider die Folge davon, wie Bildung heutzutage verstanden und umgesetzt wird.


NETZ: Was sind die Herausforderungen des staatlichen Bildungssystems?

Khan: Das Bildungssystem Bangladeschs gliedert sich in drei Ebenen, wie in anderen Ländern auch: primär, sekundär und tertiär. Aber die Definition der primären, also der Grundbildung, verwirrt. In Artikel 26 der UN-Menschenrechtserklärung ist Grundbildung als obligatorisch und frei definiert, jedoch ohne eine Dauer. Wie viele Schuljahre reichen aus, um genug Grundbildung zu erhalten? Als ich in den 1960er Jahren zur Schule ging, waren es fünf Jahre. Inzwischen sind es zwar acht Jahre. Doch meiner Meinung nach sollten zwölf Schuljahre, also auch die weiterführende Schulbildung, in Bangladesch als obligatorische und freie Grundbildung angesehen werden, die jedem zusteht.


NETZ: Warum?

Khan: Weil das eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, mehr im Leben zu erreichen. Hochschulbildung sollte gleichermaßen für alle und frei zugänglich sein. Dennoch ist der Zugang gegenwärtig nur jenen vorbehalten, die auch dafür zahlen. Hochschulbildung ist eine Frage des Einkommens und daher nicht für alle Menschen in Bangladesch zugänglich. Dies ist eine grobe Menschenrechtsverletzung. Und die so genannte nicht-formale Bildung von NGOs zementiert und verstärkt das Ganze sogar.


NETZ: Was kritisieren Sie an nicht-formaler Bildung?

Khan: Unter der Herrschaft Mussolinis in Italien entstand ab 1923 ein Bildungssystem, welches in vielen Ländern, auch in Bangladesch, weiterhin Anwendung findet: nach fünf Jahren Grundschule kann man entweder nach dem Leiter-rauf-Prinzip eine weiterführende Schule und dann die Universität besuchen, oder gleich aus dem Bildungssystem ausscheiden und schnell in einfache Arbeit kommen. Doch dann ist es vorbei mit dem Lernen und ein Leben in harter Arbeit folgt. Gerade die Ärmsten der Gesellschaft haben diese Möglichkeit immer wahrgenommen – weil sie dazu gezwungen waren.

In Bangladesch wird genau das praktiziert und es wird suggeriert, dass fünf Jahre nicht-formale Schulbildung durch NGOs für die ärmsten Kinder ausreichen. Um mich nicht falsch zu verstehen: Ich bin nicht dagegen, dass diese Kinder aus extrem armen Familien Bildung erhalten. Ich bin aber dafür, dass sie wie alle anderen auch eine umfassende Schulbildung mit Sekundarstufe und der Chance auf die Hochschule bekommen.


NETZ: Was muss sich Ihrer Meinung nach an dem derzeitigen Bildungssystem ändern?

Khan: Bildung bedeutet, jemanden in die Welt hinaus zu bringen. In Bangladesch bringt Bildung viele Heranwachsende aber nicht in die Welt hinaus, sondern in die Fabrik an einen Arbeitsplatz. Was fehlt, ist das bewusstseinsschaffende Element in der Bildung. Das Kritische fehlt, der Sinn für Rechte und Pflichten. Das gegenwärtige Bildungssystem ist vielmehr ein System der Einfuhr von Wissen mit sturem Auswendiglernen. Das reduziert den Menschen zu einem Objekt, zum Untertan. Bildung ist aber eigentlich dazu da, uns zu befähigen, Höheres anzustreben.


NETZ: Was ist unter Einfuhr von Wissen zu verstehen?

Khan: Das Bildungssystem will uns eine Fremdsprache beibringen, während wir in der eigenen noch nicht mal vollständig ausgebildet sind. Immer mehr Kinder werden an Englische Mittelschulen (English Medium Schools) geschickt, an denen die Unterrichtssprache Englisch ist. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile viele Kinder die englische Sprache besser beherrschen als ihre eigene Muttersprache Bengalisch. Es scheint, dass durch solche Institutionen ein kultureller Imperialismus der westlichen Welt befördert und die bangladeschische Kultur unterdrückt wird. Ist das nicht eine Art neuer Kolonialismus?


NETZ: Welche Rolle spielen im Hinblick darauf die koloniale Vergangenheit Bangladeschs und der Kontext als Entwicklungsland?

Khan: Koloniale Bildung ist in unserer Gegenwart verankert. Das bangladeschische Bildungssystem ist noch immer stark geprägt von dem Einfluss der über 200 Jahre dauernden britischen Kolonialherrschaft. Nicht nur die vielen Englischen Mittelschulen sind ein Beispiel dafür. Die kulturelle Homogenisierung des Bildungssystems durch zentralisierte Lehrpläne und den daraus resultierenden Ausschluss von Kindern indigener Gemeinschaften und religiöser Minderheiten ist eine weitere Folge der kolonialen Vergangenheit Bangladeschs. Sie zerstört noch immer die kulturelle Vielfalt dieses Landes.


NETZ: Gibt es in Bangladesch Möglichkeiten, den Bildungssektor eigenständig voranzubringen? Immerhin unterstützen auch westliche NGOs den Staat wesentlich dabei, seinem Bildungsauftrag nachzukommen

Khan: Es heißt immer, dass Bangladesch nicht die finanziellen Mittel habe. Aber warum sollten wir uns das nicht leisten können? Weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts wurden 2016 für Bildung ausgegeben. Das Wirtschaftswachstum ist in Bangladesch in den Vordergrund gerückt und es wird vollkommen vernachlässigt, dass Bildung dabei ein entscheidender Faktor ist und gefördert werden muss.


NETZ: Also mehr Budget für Bildung und keine Unterstützung mehr durch NGOs, ist das realistisch?

Khan: NGOs bringen Bildung zu vielen, die sonst keine bekommen. Aber was wir brauchen ist mehr Kommunikation zwischen NGOs, Regierung und internationaler Gemeinschaft. Die Beteiligung von NGOs an staatlichen Programmen sollte gefördert werden, damit diese nicht isoliert arbeiten und die Bildungslandschaft kein Flickenteppich bleibt.

NETZ: Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Anastasia Rau

Das Interview erschien in der Sonderausgabe 2017 "Lernen fürs Leben" der Bangladesch-Zeitschrift NETZ zum Projekt Jedes Kind braucht Bildung Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei uns anfordern.

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