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Zwei Jubiläen des Nobelpreisträgers „Eine Spur blieb, eine leuchtende, in den Herzen der Menschen“

Tagore in Darmstadt

von Heiko Herold

Der heute vor 80 Jahren verstorbene Rabindranath Tagore gilt bis heute als der bedeutendste bengalische Dichter. In Deutschland ist er unvergessen, in Bangladesch und Indien genießt er Kultstatus. Tagore reiste mehrfach nach Europa. Sein erster Besuch im Deutschen Reich vor 100 Jahren erregte große Aufmerksamkeit. Legendär geworden ist sein mehrtägiger Aufenthalt in Darmstadt im Juni 1921, der als „Tagore-Woche“ in die Geschichte eingegangen ist.

Als Graf Hermann von Keyserling auf seiner Weltreise im Januar 1912 Rabindranath Tagore in Kolkata besuchte, war der bengalische Dichter außerhalb Bengalens noch kaum bekannt. Während der musikalischen Abendgesellschaft im Hause Tagore versenkte sich der deutsch-baltische Kulturphilosoph in den Kosmos der indischen Musik, die er als „Dimension der reinen Intensität“ gewahrte. In seinem bis heute lesenswerten Reisetagebuch eines Philosophen, das kurz nach dem Ersten Weltkrieg erschien und schnell ein internationaler Bestseller wurde, widmete er diesem Erlebnis mehrere Seiten. „Es war eine denkwürdige Nacht“, resümierte er. „In den hohen Saal, von altertümlichen Gemälden behangen, paßten die edlen Gestalten der Tagores, mit den feinen, durchgeistigten Gesichtern, in den malerisch gefalteten Togas, prachtvoll hinein.“ Einer faszinierte ihn ganz besonders: „Rabindranath, der Poet, beeindruckte mich gar wie ein Gast aus einer höheren, geistigeren Welt. Nie vielleicht habe ich so viel vergeistigte Seelensubstanz in einem Manne verdichtet gesehen.“

Als der bengalische Dichter im Sommer 1913 einige Monate in London weilte, kam es zu einem zweiten Treffen, bei dem Keyserling sich ihm als Kulturvermittler in Europa empfahl. Anschließend entwickelte sich ein langjähriger Briefwechsel. Im Dezember 1913 erlangte Tagore, von dem mittlerweile drei Gedichtbände in englischer Übersetzung erschienen waren, schlagartig Weltruhm: überraschend erhielt er als erster Nicht-Europäer den Nobelpreis für Literatur. Zwar verhinderte der heraufziehende Erste Weltkrieg eine Vortragsreise in Europa, aber zahlreiche seiner Werke wurden nun ins Englische und viele andere Sprachen, auch ins Deutsche übersetzt.

Während Tagore in den Kriegsjahren zu Vorträgen nach Japan und in die Vereinigten Staaten reiste, zog sich Keyserling auf sein Familiengut im estnischen Rayküll zurück. Im Sommer 1918 musste er vor den Bolschewiken fliehen und fand schließlich, nach der Hochzeit mit Goedela von Bismarck, in Darmstadt ein neues Domizil. Als er im Februar 1919 das Reisetagebuch eines Philosophen veröffentlichte, gelang ihm damit ein großer Wurf, der ihn über Nacht berühmt machte. Seine kosmopathische Sinn- und Kulturphilosophie stand in scharfem Gegensatz zu Oswald Spenglers kulturpessimistischer Hypothese vom „Untergang des Abendlandes“. Keyserling sah in der Hinwendung zu fernöstlicher, vor allem indischer Weisheit den Schlüssel zur geistigen Erneuerung des Westens. Besonders im Deutschen Reich traf er damit den Nerv der Zeit. Nach dem verlorenen Krieg und dem Zusammenbruch der alten Ordnung suchten viele Menschen nach neuen Werten. Aufbauend auf seinem Bucherfolg und mit großzügiger Unterstützung des ehemaligen Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein gründete er schließlich im November 1920 in Darmstadt ein lebensphilosophisches Projekt: die Schule der Weisheit.

Unterdessen reiste Tagore im Sommer 1920 erstmals seit der Verleihung des Nobelpreises wieder nach Europa. Neben Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden stand auch Deutschland auf dem Reiseplan. Allerdings versäumte er, rechtzeitig ein deutsches Visum zu beantragen, so dass er den Aufenthalt verschieben musste. Nachdem er die Wintermonate in den Vereinigten Staaten verbracht hatte, kehrte er im Frühjahr 1921 nach Europa zurück. Auf dieser Reise, die Tagore nach Großbritannien, Frankreich, Österreich, der Schweiz und Skandinavien führte, machte er nun auch in einigen deutschen Städten Station, um dort Vorträge zu halten und mit wichtigen deutschen Persönlichkeiten zusammenzutreffen. In München etwa traf er Thomas Mann und seinen Verleger Kurt Wolff, in Hamburg seine Übersetzerin Helene Meyer-Franck, und in Berlin den bekannten Kulturphilosophen und Theologen Ernst Troeltsch.

Im Vorfeld der Deutschland-Reise hatte Keyserling dem bengalischen Dichter angeboten, sich um alles Organisatorische zu kümmern, und ihm nahegelegt, seine Vorträge und Treffen ausschließlich an einem Ort zu absolvieren: in Darmstadt. Die deutschen Geistesgrößen sollten zu Tagore, nicht er zu ihnen reisen. Als Plattform sollte die neu gegründete Schule der Weisheit dienen. Tagore lehnte dieses Angebot ab. Er wollte sich nicht von Keyserling monopolisieren lassen. Allerdings erklärte er sich bereit, für eine knappe Woche in die südhessische Residenzstadt zu kommen, um dort mehrere öffentliche Vorträge und Gesprächsrunden zu halten. Sein Aufenthalt in Darmstadt vom 9.-14. Juni 1921 erregte unter den Zeitgenossen großes Aufsehen. Das Ereignis ist als „Tagore-Woche“ in die Geschichte eingegangen und bis heute Legende.

Offiziell kamen Tagore und seine Begleiter als Gäste des ehemaligen Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein nach Darmstadt, der im Winter 1902/03 selbst Indien bereist und sich für das Land begeistert hatte. Vor ihrer Ankunft rührte Keyserling kräftig die Werbetrommel. Er schickte Einladungen an namhafte Vertreter vor allem aus Philosophie, Theologie, Wissenschaft, Kultur und Literatur, von denen viele tatsächlich nach Darmstadt kamen, um Tagore persönlich zu begegnen und sich mit ihm auszutauschen. In Zeitungsannoncen kündigte Keyserling verschiedene öffentliche Veranstaltungen an. Geschickt nutzte er den Aufenthalt des weltbekannten Nobelpreisträgers auch, um seine Schule der Weisheit reichsweit und darüber hinaus bekannt zu machen.

Tagore logierte bei der großherzoglichen Familie im Darmstädter Neuen Palais. Im Garten ihrer Stadtresidenz sprach und diskutierte er vom 10.-14. Juni täglich vormittags und wiederholt auch nachmittags mit den Menschen, die sich dort versammelten. Hinzu kamen weitere Gesprächsrunden im kleinen Kreis, Begegnungen mit Schulkindern und größere öffentliche Veranstaltungen, unter anderem im Städtischen Saalbau und im Gewerkschaftshaus. Für ungeübte Ohren war Tagores südasiatisches Englisch oft nur schwer zu verstehen. Deshalb übersetzte Keyserling bei fast allen Veranstaltungen ins Deutsche. In seinen Vorträgen und Diskussionen widmete Tagore sich überwiegend sozialen, kulturellen und philosophischen Fragen. Letztlich standen sie alle unter einem Leitmotiv, dem großen Thema seines Lebens: der geistigen Annäherung zwischen Orient und Okzident zum Wohle der Menschheit.

Den Höhepunkt der „Tagore-Woche“ markierte zweifellos eine von Keyserling inszenierte Großveranstaltung auf dem Herrgottsberg am 12. Juni. Bei strahlendem Sonnenschein versammelten sich tausende Menschen an jenem Sonntag nachmittags auf dem bewaldeten Hügel im nordwestlichen Odenwald, der seit dem 18. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugsziel für die Darmstädter Stadtbevölkerung ist. Ernst Ludwig hielt eine Eröffnungsansprache, dann stimmten die begeisterten Massen einen Reigen deutscher Volkslieder an. Tagore war sichtlich bewegt. In seiner Ansprache griff er die Darbietung auf und bekundete, dass er die Seele des deutschen Volkes in dessen Wäldern und Liedern gefunden habe.

Bei vielen Zeitgenossen, die Tagore in Darmstadt persönlich erlebten, hinterließ er einen tiefen Eindruck. Seine inspirierende Wirkung ist in zahlreichen Briefen und Veröffentlichungen dokumentiert. Besonders großen Einfluss hatte er auf die deutsche Reformpädagogik und Jugendbewegung in der Weimarer Republik. Bei der persönlichen Begegnung waren die Menschen weniger von seinen Worten als seiner imposanten Gestalt und seiner Ausstrahlung fasziniert. „Das aber war für mich in Thakkur das schier unbegreifliche Wunder“, reflektierte der Marburger Philosoph Paul Natorp, „wie restlos diese geründete Ausdruckseinheit sich in ihm erfüllte, […] zusammengefaßt in einer wahrhaft königlichen Gestalt und Gesamthaltung, in unsäglich feiner Abstufung durch alle Register von der süßesten Weichheit bis zum erschütternden tragischen Ernst sich entfaltete.“

Bei aller Begeisterung gab es natürlich auch Kritik. Sie richtete sich vor allem gegen die messiashafte Inszenierung des bengalischen Dichters, für die Keyserling verantwortlich war. Manche Kritiker spotteten über sein orientalisches Erscheinungsbild, warfen ihm Substanzlosigkeit vor und monierten seinen für westliche Zuhörer ungewöhnlichen Vortragsstil. Zweifellos jedoch hat Tagore den Großteil der Menschen begeistert und inspiriert. Erwin Rousselle bilanzierte die Stimmung nach Tagores Abreise aus Darmstadt am 14. Juni in einem pathetisch-mythologisierenden Beitrag für die von Keyserling herausgegebene Zeitschrift Der Weg der Vollendung. „Als nun der Erhabene den leiblichen Augen der Menschen des Westens entschwunden war“, schrieb er, „da ging in der Tat im Westen die Sonne unter. Aber eine Spur blieb, eine leuchtende, in den Herzen der Menschen, die voll Ehrfurcht das Wesen des Erhabenen geschaut hatten, getröstet, daß solche Vollendung auf Erden möglich.“

Tagore besuchte das Deutsche Reich noch zwei weitere Male, 1926 und 1930. Allerdings war die Tagore-Euphorie zu dieser Zeit schon deutlich abgeklungen. Nach Darmstadt kehrte er nicht zurück. Auch Keyserling traf er nicht wieder, stand jedoch mit ihm bis 1938 in brieflichem Kontakt.

Inzwischen sind 100 Jahre vergangen, seit der bengalische Dichter nach Darmstadt reiste. Welche Bedeutung hat die „Tagore-Woche“ heute noch? Zweifellos ist sie eine wichtige Wegmarke in den deutsch-indischen und deutsch-bangladeschischen Beziehungen. Die Darmstädter gedenken ihr alljährlich als einem herausragenden Ereignis der Stadtgeschichte. Seit den 1990er Jahren wächst auch das Interesse der historischen Forschung. Besonders hervorzuheben sind hier die verdienstvollen Studien von Martin Kämpchen und Dietmar Rothermund. Einen wichtigen Beitrag zur Erinnerung an Tagore und seinen Besuch in Darmstadt leistet auch die dort ansässige Merck-Gruppe: Seit 2011 verleiht der Weltkonzern alle zwei Jahre den Tagore-Merck-Preis, mit dem besondere Beiträge zum kulturellen Austausch zwischen Indien und Deutschland gewürdigt werden.

Anlässlich des 100. Jahrestages der „Tagore-Woche“ sind im Sommer dieses Jahres einige Gedenkveranstaltungen geplant. Dazu zählt ein Philosophischer Salon am 20. Juni, den das Darmstädter Institut für Praxis der Philosophie, das sich als Nachfolge-Institution von Keyserlings Schule der Weisheit versteht, in Kooperation mit der Deutsch-Indischen Gesellschaft organisiert. Im Rahmen dieser Tagung werden Ute Gahlings und Martin Kämpchen in Vorträgen an die „Tagore-Woche“ erinnern und sie aus heutigem Blickwinkel in den historisch-philosophischen Zusammenhang einordnen.

Im deutschsprachigen Raum ist das Interesse an Tagore und seinem Werk in den letzten Jahren wieder gewachsen. Das belegen zahlreiche Publikationen und Veranstaltungen. Seine progressiven Ideen und spirituelle Lyrik haben ihren Zauber bis heute nicht verloren. Gleichwohl: Wer sich mit Tagore und seinem Werk auseinandersetzt, muss sie zunächst von den umrankenden Mythen befreien. Das ist mühsam, aber es lohnt sich! Dann eröffnen sich ganz neue Perspektiven. Tagore selbst wollte nie ein Mythos sein, und er wusste warum: „Faßt die Flügel des Vogels in Gold, und er wird sich nie wieder in die Lüfte schwingen.“

Zu den Fotos:

Oben: Rabindranath Tagore mit Graf Hermann und Goedela von Keyserling in Darmstadt im Juni 1921. (ULB Darmstadt, Nachlass Hermann Keyserling, 228.01)

Unten: Tagore und Graf Keyserling bei einer öffentlichen Veranstaltung im Darmstädter Palaisgarten. (Großherzogliches Familienarchiv im Staatsarchiv Darmstadt, D 27 A Nr. 66/91)

Tagore in Darmstadt Öffentlichkeit

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