Corona und die „neuen Armen“ Wie die Pandemie Bangladeschs Entwicklungserfolge gefährdet

Das Centre for Policy Dialogue (CPD) ist einer der führenden und international anerkannten Think Tanks für Forschung und Dialog zur Förderung einer inklusiven Politik in Bangladesch. Es wurde 1993 gegründet mit der Vision einer Gesellschaft, die auf Gleichheit, Gerechtigkeit, Fairness und guter Regierungsführung basiert. Der Wirtschaftswissenschaftler Professor Mustafizur Rahman forscht als Distinguished Fellow am CPD, von 2007 bis 2017 war er Professor an der Dhaka Universität. Er war im Juni bei einem Treffen des Bangladesch- Forum zu Gast und sprach über die Corona-Lage im Land und erklärte, warum die Pandemie die Ungleichheit verstärkt.
Von Mustafizur Rahman
Bangladesch kann stolz auf viele Errungenschaften seit der Unabhängigkeit 1971 verweisen, wenn man beispielsweise die Armutsbekämpfung oder die Sterblichkeitsrate von Müttern und Kindern unter fünf Jahren betrachtet sowie die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Einschulungsrate bei Kindern. Sogar während der Corona-Krise im Jahr 2020 konnte das Land als eines von wenigen weltweit sein Bruttoinlandsprodukt steigern. Doch die Pandemie bringt neue Probleme und verstärkt bestehende: Aufgrund der pandemiebedingten Verlangsamung der Wirtschaft und den negativen Folgen sind jüngst viele Menschen in Armut geraten, und marginalisierte Menschen wurden weiter ausgegrenzt. Sie sind von der ansteigenden Arbeitslosigkeit und der immer stärkeren Einkommensungleichheit betroffen. Covid-19 hinterlässt einen negativen Fußabdruck auf den Errungenschaften und legt die Herausforderungen offen.
Einkommensungleichheit war bereits ein großes Problem in Bangladesch, selbst in Zeiten rasanten Wirtschaftswachstums. Sie steigt ebenso wie die Konsum- und Vermögens-Ungleichheit. Bereits 2010 bekamen die fünf Prozent der Bevölkerung, die als Spitzenverdiener galten, das 22-fache von jenen fünf Prozent der Gesellschaft mit dem geringsten Einkommen; 2016 war es sogar das 121-fache. Die Corona-Pandemie trifft nun vor allem marginalisierte Gruppen: 60 Prozent der Erwerbstätigen sind nach dem Lockdown von April bis Juni 2020 mit strengen Arbeits-, Ausgeh- und Transportbeschränkungen in mindestens kurzfristige Arbeitslosigkeit geraten. Vor allem der informelle Sektor ist betroffen. Es gab eine Einkommenserosion, viele Menschen mussten ihr Erspartes aufbrauchen und von der Stadt aufs Land und von ihrer Arbeit im Dienstleistungssektor in die Landwirtschaft wechseln. Dabei ist die staatliche Erhebung der Arbeitslosenquote fragwürdig, da auch sehr geringe und unregelmäßige Einkommen wie bei Tagelöhnern und in der Landwirtschaft allgemein als vollbeschäftigt gezählt werden. Tatsächlich ist aber die Zahl derer, die nun geringeres oder gar kein Einkomen haben gestiegen. Nach eigenen Berechnungen des CPD ist der Teil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, infolge von Corona und Lockdowns zuletzt auf 35 Prozent gestiegen – im Vergleich zu 20 Prozent vor der Pandemie.
Steigende Ungleichheit
Das Ergebnis ist eine wachsende Zahl von „neuen Armen”. Zwar hat der Staat ein 15-Milliarden-Dollar-Konjunkturpaket (etwa vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts) auf den Weg gebracht, das zu 80 Prozent aus subventionierten Krediten bestand und zum Teil auch Geldtransfers für Bedürftige umfasste. Der größte Teil dieser Kredite wurde bisweilen und zügig von der Großindustrie in Anspruch genommen. Bei Selbstständigen und Kleinstunternehmern sah das aber anders aus: Nach mehrmaliger Fristverlängerung für die Anträge lagen die Auszahlungen bei nur 60 Prozent der verfügbaren Gesamtsumme. Und die Summe selbst reichte bei Weitem nicht aus, den Betroffenen zu helfen. Das CPD hatte stattdessen direkte Geldzahlungen vorgeschlagen, um die Ärmsten während der Pandemie zu unterstützen: 25 Millionen Menschen sollten über einen Dreimonatszeitraum je 100 US-Dollar erhalten. Es hat sich gezeigt, dass mit einer solchen Maßnahme lokale Wirtschaftskreisläufe gestärkt würden und Arbeitsmöglichkeiten entstehen. Die Regierung hat den Vorschlag zwar in ihr Corona-Maßnahmenpaket aufgenommen. Es wurden jedoch nur knapp fünf Millionen Menschen, also ein Bruchteil der Betroffenen, erreicht. Und diese bekamen lediglich einmal 30 Dollar – zu wenig, um eine nachhaltige Wirkung zu erzielen. Das Programm wurde schließlich gestoppt, nachdem es wegen falscher Zielgruppenauswahl und Korruption kritisiert worden war. Das zeigt auch, dass man die Betroffenen ohne genaue Daten kaum erreichen kann. Immerhin: Obwohl viele Länder in der Pandemie gleichzeitig eine humanitäre, eine wirtschaftliche und eine Nahrungsmittelkrise erlitten haben, leidet Bangladesch unter keiner allgemeinen Nahrungsmittelkrise, weil die Ernte sehr gut war. Auch wenn es einen Preisanstieg gab (beim Reis um rund 20 Prozent) und die Lagerbestände nicht ihre Zielmarken erreichen, hatten die Menschen Zugang zu Nahrungsmitteln. Die Pandemie hat aber gezeigt, dass das Gesundheitswesen in einem schlechten Zustand ist und Schwächen im Gesundheitsmanagement aufgedeckt: Nur ein Drittel des zugewiesenen nationalen Programm- Budgets konnte während der Pandemie ausgegeben werden. Die Gemeindekliniken – ein wichtiger Teil der medizinischen Infrastrutur im ganzen Land – waren nicht gut ausgestattet, und in vielen gab es nicht einmal genügend Personal. Davon war vor allem die einfache, nicht wohlhabende Bevölkerung betroffen. Als die zweite Pandemiewelle Mitte 2021 mit der gefährlichen Delta- Virusvariante kam, breitete sie sich von der Hauptstadt Dhaka aus auch auf den Rest des Landes aus. In der Folge wurde das Defizit in der Gesundheitsversorgung außerhalb der Hauptstadt deutlich sichtbar. Die Regierung hat jedoch inzwischen eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um jene Schwachstellen auszubessern.
Wenig Sozialausgaben
Und was passiert nun? Der Staatshaushalt wurde Anfang Juni verabschiedet. 75 Milliarden US-Dollar, also nur 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, sind für öffentliche Ausgaben vorgesehen (was im südasiatischen Vergleich zu den geringsten zählt). Und das soziale Sicherungsnetz (SSN) mit Unterstützung für bedürftige Menschen wurde nicht in dem Maße gestärkt, wie es für die „neuen Armen“ durch die Corona-Pandemie notwendig wäre. Die Sozialausgaben betragen nur 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und das schließt auch die Renten für Staatsangestellte mit ein. Abzüglich solcher Ausgaben also, die nicht tatsächlich dem SSN zuzurechnen sind, betragen die Ausgaben für jenes nur 1,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – verglichen mit noch 2,1 Prozent im vergangenen Jahr. Die Ausgaben sind also sogar gesunken.
Nach Prüfung durch die UN wird Bangladesch wohl weiterhin wie erwartet von einem „Least Developed Country” (LDC), also einem am wenigsten entwickelten Land, zu einem Land mit mittlerem Einkommen aufsteigen. Das UN-Gremium für Entwicklungspolitik hatte in diesem Jahr empfohlen, diese sogenannte Graduierung 2026 statt (wie noch vor der Pandemie angedacht) bereits 2024 zu vollziehen. Zwar ist diese Graduierung und das Hinter-sich-lassen des Entwicklungsland-Status nach 45 Jahren für Bangladesch nun gewiss ein wichtiger symbolischer Akt. Aber dieser hat eine Reihe von Folgen – und die Auswirkungen der Corona-Pandemie müssen beim Blick auf die künftige Weiterentwicklung sorgfältig im Auge behalten werden.
Es gibt drei Kriterien für die Graduierung: 1. das Einkommen, basierend auf einer durchschnittlichen Schätzung des Bruttonationaleinkommens (BNE) pro Kopf, 2. das sogenannte menschliche Vermögen, das Auskunft über Ernährung, Gesundheit, Kindersterblichkeit, Ausbildungsstruktur und Alphabetisierungsrate der Bevölkerung gibt und 3. den sogenannten Index zur ökonomischen Verwundbarkeit einer Volkswirtschaft. Das Problem dabei: Die Zahlen zur Messung dieser Indikatoren berücksichtigen nicht die strukturellen Schwachpunkte von Entwicklungsländern. Sie sind Durchschnittswerte, die nicht die (ungleiche) Verteilung innerhalb der Gesellschaft und qualitative Aspekte, etwa bei der Bildung oder die Beteiligung von marginalisierten Gemeinschaften betrachten. Die Probleme und die Perspektive jener benachteiligten Menschen werden dadurch ausgeblendet.
Bangladesch hat also noch einen langen Weg vor sich. Gemessen an dem, was das Land in der Vergangenheit erreicht hat, ist es gewiss imstande, die neu entstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Allerdings müssen die „Hausaufgaben“ mit aller Ernsthaftigkeit angegangen werden: der Abbau von Ungleichheiten jeglicher Art. Und den negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie muss mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Gleichzeitig gilt es auch, die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit, Bildung, Ernährung und Entwicklungsinfrastruktur zu erhöhen. Und nicht zuletzt muss eine integrative, von der gesamten Gesellschaft getragene Regierungsführung gewährleistet werden, bei der Rechenschaftspflicht und Transparenz die Politik und Institutionen bestimmen.