Die letzte Reise
Hinter allen Zahlen und Statistiken zur Corona-Pandemie stehen reale Opfer und Angehörige, die großes Leid erfahren. Unser Autor schreibt über eine persönliche Begegnung – und deren trauriges Ende.
Von Sven Wagner
Offiziellen Statistiken zufolge sind seit Beginn der Corona- Pandemie mehr als 20.000 Menschen in Bangladesch an oder mit einer Corona-Infektion gestorben. Und womöglich erfassen diese Statistiken bei Weitem nicht alle, die durch das Virus gestorben sind. Was ist etwa mit Menschen in abgelegenen ländlichen Gegenden, die zuvor nicht einmal eine Testmöglichkeit hatten. Oder jene, die in keinem Krankenhaus unterkommen konnten – weil es keinen Platz gab oder sie sich die Fahrt dorthin nicht leisten konnten? Corona hat so wohl auch viele „unsichtbare“ Tote gefordert, um die es zu trauern gilt, wenn man über die Opfer spricht.
Zu den Opfern zählen derweil auch prominente Menschen des Landes. So löste etwa der Tod des amtierenden Religionsministers Sheikh Abdullah im Juni 2020 Aufsehen aus. Mehrere Minister sind durch Corona verstorben, ebenso Kulturschaffende und Wissenschaftler wie der Maler Murtaja Baseer, die Philosophin Hasna Begum oder der Journalist und einstige Leiter der nationalen Shilpakala- Akademie Kamal Lohani.
Eine gleichfalls in Bangladesch bekannte und geschätzte Persönlichkeit, die nach einer Corona-Infektion gestorben ist, habe ich wenige Monate zuvor noch für eine Reportagereise im Land getroffen: den Erzbischof der Erzdiözese Chittagong, Moses Costa. Wir haben Anfang März gemeinsam das Kutupalong- Camp besucht, eine der größten Auffangstellen für geflüchtete Rohingya in der Nähe des südöstlichen Touristenziels Cox’s Bazar. Es war eine der letzten Reisen des Bischofs. Häufig haben schon hohe Repräsentanten der Regirung Bangladeschs oder von internationalen Organisationen sowie Prominente das riesige Geflüchteten-Camp mit bis zu einer Million Menschen besucht. Meist zwängt sich bei solchen Besuchen ein großer Tross von Menschen – inklusive Personenschützer, Berater und Medienteams – durch die engen und stickigen Gassen zwischen den Zelten der Bewohner hindurch. Das hinterlässt allzu häufig den Eindruck von Schaulaufen und Scheinwerferlicht. Es entstehen gute Bilder, die das Image der wohltätigen Besucher stärken.
Moses Costa war das Gegenteil davon. Bei seinem Besuch war er oft abseits des Geschehens anzutreffen – weil er so auf unkomplizierte Weise mit den Menschen ins Gespräch kam. Er hörte vor allem zu und wollte all die Geschichten der Geflüchteten erfahren: Von der jungen Mutter, die mit ihrem Neugeborenen unterwegs tagelang im Dschungel umhergeirrt ist. Von der durch Krankheit geschwächten Witwe. Vom Familienvater, der sein ganzes Hab und Gut verloren hatte. Und der Bischof fühlte mit, spendete Trost und gab Zuversicht – etwas, das diesen Menschen seit langer Zeit nicht mehr zuteil geworden war.
Selbst nach einem langen, anstrengenden Tag in dem Camp bat er auf der Rückfahrt mitten durch eine abgelegene ländliche Gegend, kurz anzuhalten. Er führte mich, den Journalisten aus Deutsch-land, auf ein kleines Stück Land neben einem Feldweg und sagte: „Hier möchte ich noch in diesem Jahr eine Schule bauen. Denn weit und breit gibt es für Kinder aus den umliegenden Dörfern keinen Ort zum Lernen.“ Moses Costa steckte voller Visionen, die er auch in die Tat umsetzte. Er suchte den Dialog, auch abseits seines kirchlichen Engagements.
Die letzte Textnachricht schickte mir der Bischof im April 2020 nach Deutschland. Auf die Frage, wie sich die Corona-Situation im Südosten Bangladeschs entwickelt habe, antwortete er: „Das Virus breitet sich aus. Lasst uns um den Segen Gottes bitten. Du bist in meinen Gedanken und in meinen Gebeten.“
Drei Monate später, am 13. Juli, erreichte mich die Nachricht, dass Moses Costa an den schweren Folgen einer Covid-19-Erkrankung gestorben ist. Er wurde 69 Jahre alt – und wird für immer in meiner Erinnerung bleiben.
Der Autor ist Redaktionsleiter von NETZ