Lokale Machtstrukturen in Bangladesch
Ein entscheidendes Merkmal der bangladeschischen Gesellschaft ist das
Daya-Konzept. Der aus dem Sanskrit stammende Begriff Daya bedeutet
"Gnade, Gunst, Mitgefühl". Das Daya-Prinzip beschreibt ein
hierarchisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen einem Patron und einem
Klienten. Es bedeutet, dass im alltäglichen Leben jeder Mensch
demjenigen Respekt erweisen muss, der gesellschaftlich über ihm steht,
was sich auch in Form von Arbeitsleistungen und Diensten erweisen kann.
Dafür kann er von seinem Patron Protektion und Hilfe erwarten.
Dies hat unter anderem zur Folge, dass ein Abhängiger bei Wahlen in der
Regel den Empfehlungen seines Patrons folgen wird - aus Angst, die
Patronage zu verlieren. Seine loyalen Klienten versorgt der Patron dafür
mit allem, was zum Lebensunterhalt notwendig ist. Es ist nicht
ungewöhnlich, dass jemand gleichzeitig Klient und Patron ist, dass er
also in der gesellschaftlichen Hierarchie jemanden über und unter sich
hat. Eine Folge des Daya-Prinzips: die Verbundenheit der Menschen mit
ihrem Patron erschwert die Solidarisierung unter den Angehörigen der
unteren Schichten oder verhindert sie sogar ganz. Vertikale
Verpflichtungen beeinträchtigen den horizontalen Zusammenschluss.
Aufgrund der tief verwurzelten Daya-Tradition muss in Bangladesch
vieles anders analysiert werden als in Europa. Dies betrifft auch den
Bereich der Korruption. Dem Patronage-Prinzip folgend erwartet der
Beamte in der Verwaltung besondere Leistungen, die bis hin zur
Bestechung gehen können. Andererseits erwartet der Bürger die Weitergabe
von Daya in Form besonderer Leistungen, etwa den Zugang zu den in
staatlicher Hand befindlichen Teichen.
Damit möchte ich
natürlich nicht das ungeheure Ausmaß, das die Korruption heute in
Bangladesch erreicht hat, verharmlosen. Die Bangladeschis selber halten
die Korruption ja für eines der Hauptübel ihrer Gesellschaft. Aber die
Kenntnis der jahrhundertelangen Traditionen kann doch das Verständnis
der gegenwärtigen Situation erleichtern und zu differenzierten
Bewertungen führen. Und eine differenzierte Darstellung der
Machtstrukturen im ländlichen Bangladesch ist das, was wir uns mit
dieser NETZ-Ausgabe zum Ziel gesetzt haben.
Deutlich wird,
welche enormen Herausforderungen sich den Menschen täglich stellen, die
sich für soziale Entwicklung und Menschenrechte in ihrem Land einsetzen.
Christian Weiß