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Bangladesch im Aufbruch

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Kommentar von Peter Dietzel

Hingebungsvoll legen Studentinnen und Studenten leuchtend orange Blütenteppiche auf den Asphalt. Ein paar Schritte weiter stimmt eine Gruppe, auf dem Boden sitzend, ein bengalisches Volkslied an. Eine junge Frau rezitiert Gedichte über die Freiheit. Eltern sind mit ihren Kindern auf dem Platz; Geschäftsleute kommen nach Büroschluss; Freiheitskämpfer des Unabhängigkeitskrieges von 1971 sind am Abzeichen an ihrem Revers zu erkennen; doch vor allem strömen junge Menschen auf den Shahbag-Platz. Ein Jugendlicher hämmert mit aller Kraft rhythmisch auf die Trommel vor seinem Bauch, andere tanzen dazu. Theater wird gespielt. Großformatige Farbbilder hängen an einer Mauer. Eine Bangladesch-Fahne in der Größe eines Handballfeldes weht über der Menschenmenge. In den Nächten ist der Platz von hunderten Kerzen erleuchtet. Mit allen Ausdrucksformen ihrer reichen Kultur tun täglich zehntausende Menschen ihren Protest gegen den islamistischen Fundamentalismus kund, rund um die Uhr. Nach 20 Tagen wird die Kreuzung erstmals wieder teilweise für den Verkehr geöffnet. Auch danach versammeln sich immer wieder Tausende auf Shahbag sowie in den Distrikt-Städten. Während der letzten zwei Jahrzehnte hatten sich Intellektuelle, Frauenrechtlerinnen, Künstler stets mutig gegen den Einfluss der Islamisten in Bangladesch auf die Rechtsprechung, das Bildungssystem, die Kultur gestellt. Die Mehrheit hat geschwiegen. Shahbag ist die Expression dieser Mehrheit - gegen Gewalt, die im Namen des Islam ausgeübt wird. Es ist der Aufstand der jungen städtischen Mittelschicht gegen eine rigide Vorstellung von Religion, welche die Vielfalt der bengalischen Kultur einschränken will, oder vermutlich treffender: zerstören.

Eine Bühne sucht man vergeblich auf dem Platz. Alle sind gleich, begegnen sich auf Augenhöhe, lautet die Botschaft der Internet-Blogger, die den Protest initiiert haben. Inoffiziellen Schätzungen zufolge sind 40 Prozent den Menschen auf Shahbag Frauen. Übereinstimmend berichten sie, hier nicht von Männern belästigt zu werden, auch nachts nicht. Frauen wie Männer greifen zum Megafon. Doch Parteipolitiker, die auf dem Platz reden wollen, werden von den Demonstranten nicht geduldet. Plötzlich existiert eine immense Bewegung jenseits der Parteien, die größte seit der Unabhängigkeit des Landes.

Aktivisten zeigen auf dem Platz Multimedia-Präsentation über Gräuel, die von Mitgliedern und Unterstützern der Jamaat-e-Islami während des Unabhängigkeitskrieges begangen wurden. Junge Menschen schauen sich die geschichtlichen Dokumente an, welche an einer Zufahrtsstraße kurz vor dem Shahbag-Platz ausgehängt wurden: über Kriegsverbrechen der pakistanischen Armee und der Kollaborateure, entsetzliche Vergewaltigungen, die Exekution bengalischer Intellektueller. Die Demonstranten rufen Slogans aus der Befreiungsbewegung während der pakistanischen Herrschaft, etwa "Joy Bangla!" - es lebe die bengalische Sprache! Vor allem jedoch skandieren sie lautstark "Fashi! Fashi!" - hängt die Kriegsverbrecher! Ein Gerüst ist aufgebaut: Stoffpuppen baumeln am Strick. Shahbag ist emotionale Eruption einer vielfach verdrängten Geschichte und gibt ihr öffentlichen Raum.

Es ist unmöglich, eine friedliche Zukunft in Bangladesch aufzubauen, ohne die grausige Vergangenheit von 1971 aufzuarbeiten. Es gibt Millionen Opfer - Tote, Verwundete, Menschen, die traumatisiert sind, einschließlich der großen Zahl der Hinterbliebenen. Wenigstens fünf Schritte sind erforderlich, damit Menschen mit solch furchtbaren Gewalterfahrungen leben können. Die Tatsachen müssen bekannt sein. Die Täter müssen benannt sein. Die Leiden der Opfer müssen angemessen anerkannt sein. Es muss eine Handlung geben, die der Gerechtigkeit Genüge tut, etwa ein Schuldeingeständnis der Täter oder deren Strafe. Und fünftens: die Taten dürfen sich nicht wiederholen.

Lebenslange Haft für Abdul Quader Mollah wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit: hätte der stellvertretende Jamaat-Generalsekretär am 5. Februar 2013 seine Schuld eingestanden und gesenkten Hauptes den Gerichtssaal verlassen, wäre es nicht zu Massenprotesten gekommen. Doch er trat mit den zum Victory-Zeichen gespreizten Fingern vor die Kameras.

Die drei erstgenannten Elemente sind zumindest teilweise in Bangladesch realisiert. Die beiden anderen nicht. 1973 gab es einen Versuch, Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Doch 1976, ein Jahr nach dem Militärputsch, wurde die Jamaat-e-Islami wieder zugelassen. Ihr Vorsitzender Ghulam Azam, der nun ebenfalls als Kriegsverbrecher angeklagt ist, kehrte aus Pakistan zurück. Die großen Parteien machten die kleine, radikale Jamaat hoffähig. Von 1991 bis 1996 war sie als Koalitionspartner an der Regierung beteiligt, ebenso von 2001 bis 2006. Die Täter blieben nicht nur straffrei, sondern nahmen einflussreiche Positionen in der Gesellschaft ein. Sie brachten ihre Gefolgsleute in der Verwaltung und Justiz unter, im Bildungs- und Gesundheitswesen, in der Armee.

Untersuchungen zufolge sind landesweit 50 Organisationen am Werk, um die politische Agenda der Jamaat umzusetzen. Der Tod von Journalisten und Rechtsanwälten in den letzten beiden Jahrzehnten wird damit in Verbindung gebracht, Brandanschläge auf Tempel und Häuser der Hindus und Buddhisten, Bomben in Kinos, Angriffe auf Schulen von Entwicklungsorganisationen. Ebenso der Tod des Bloggers Rajib Haider, der am elften Tag der Shahbag-Proteste an grausamen Verletzungen stirbt. Nach der Verkündung des dritten Gerichtsurteils ruft die Jamaat-e-Isami zu Gewalt auf: in vielen Städten explodieren Molotow-Cocktails, brennen Züge und Polizeistationen, werden Häuser und Tempel der Hindus zerstört. Menschen sterben, hunderte werden verletzt. Die Demonstranten auf Shahbag wollen vermeiden, dass sich die Taten der Jamaat wiederholen - wie in den letzen 42 Jahren. Deshalb fordern die Aktivisten das Verbot der Partei und die Todesstrafe für die Kriegsverbrecher aus ihren Reihen. Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass Haftstrafen binnen kurzer Zeit aufgehoben werden, unabhängig davon ob die Jamaat-e-Islami wieder an einer Regierung beteiligt werden würde. Sie haben die Einflussmöglichkeiten. Eine strikte Trennung zwischen richterlicher Gewalt und Politik gibt es in Bangladesch nicht.

Ohne Todesstrafe kann davon ausgegangen werden, dass die Kriegsverbrecher nach den nächsten Parlamentswahlen frei gelassen werden und weiterhin Hass säen, Gewalt ausüben, massiv politisch Einfluss nehmen. Das ist die gegenwärtige politische und rechtliche Realität. Doch die Menschenrechte gelten für alle - auch für jenen, der sie ablehnt! Jeder hat das Recht auf Leben. Wie löst man solch ein scharfes Dilemma?

Hier sind alle gefragt, die an der Zukunft des Landes Interesse haben. Bangladesch braucht viele optimistische Gedanken, kreative Ideen und konstruktive Vorschläge. Dazu gehört die Aufarbeitung der Geschichte, die Verbesserung des Rechtssystems, die Weiterentwicklung der Demokratie. Doch die notwendigen Veränderungen gehen weit darüber hinaus. Junge Menschen aus armen Verhältnissen etwa sollten andere Perspektiven für ihre Zukunft erhalten als Stipendien von Islamisten. Schulen müssen unterstützt werden, die eigenständiges Denken fördern - und die Freude an der Vielfalt der Menschen und ihrer Kulturen. Bengalische Musik und Poesie darf gefördert werden. Eine Zivilgesellschaft muss gestärkt werden, die für Menschenrechte eintritt, gerade auch unter indigenen und religiösen Minderheiten.

Gewiss: zur Shahbag-Bewegung und zum Kriegsverbrecher-Tribunal, zur bangladeschischen (Macht-)Politik und zum Umgang mit der Geschichte gibt es weit mehr zu sagen als in diesem Beitrag darstellbar. Doch: je breiter das Spektrum der möglichen Lösungen ist, desto mehr Alternativen zur Gewalt gibt es. Wenn das Ausland dies unterstützen möchte, dann mit sehr viel Einfühlungsvermögen und hoffentlich mit fundierten gewaltfreien Methoden zur Überwindung der Konflikte. Es geht darum, Raum zu schaffen für eine neue Wirklichkeit: für die absolute Achtung eines jeden Menschen.

Peter Dietzel ist Geschäftsführer von NETZ.

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