Wenn Anna-Julia eine SMS verschickt, füttert Fatema gerade eine Ziege
Zwei 13jährige Mädchen in einer Welt
Was sie verbindet und was sie trennt
NETZ und seine Arbeit in Bangladesch / Weg aus dem Teufelskreis von Armut und Kinder-Ehe.
Wetzlar / Netrakona. Anna-Julia ist ein "ganz normales" 13jähriges Mädchen, das im mittelhessischen Wetzlar ihr wohl behütetes Zuhause hat. Ihre Hobbies sind Musikhören und Reiten. Und weil die letzte Mathearbeit nicht ganz schlecht ausfiel, gestatten ihr die Eltern am Wochenende eine zusätzliche Reitstunde. Trockenes Brot für die Pferde, Äpfel, ein Stück Schokolade für den kleinen Hunger zwischendurch und ein wenig Geld für die Limo hinterher sind im Rucksack verstaut. Papa bringt sie in den am Rande der Stadt liegenden Reitstall, drei Stunden später holt sie die Mutter wieder ab. Auf der Heimfahrt verschickt Anna-Julia über ihr Handy noch eine Nachricht (neu hochdeutsch SMS) an ihre Freundin Lena und verabredet sich mit ihr für Sonntagnachmittag ins Kino.
Alles im grünen Bereich ...
Knapp 8000 Kilometer Luftlinie von Hessen entfernt lebt Fatema. Sie ist ebenfalls 13 Jahre jung, wohnt im bengalischen Distrikt Netrakona und lebt für ihre Verhältnisse wie Anna-Julia "ganz normal". Fatemas Alltag in einer der ärmsten Regionen Bangladeschs (hier können nur 28 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben) sieht so aus: Um 5 Uhr morgens muss sie die Ziege füttern, Hütte und Vorplatz fegen, die jüngeren Geschwister waschen. Kurz vor 9 Uhr holt sie Wasser für die Familie von der gut einen Kilometer entfernten Quelle. Bis in den Nachmittag sind für Fatema Hausarbeiten und das Versorgen der Familie angesagt, danach hat sie Zeit für die eigene Körperpflege. Spielen kommt selten vor; denn sie muss wieder Wasser holen, beim Essen-Zubereiten helfen und die Geschwister versorgen. Auch alles im grünen Bereich?
"Eher nein," weiß Peter Dietzel, Koordinator der in Wetzlar ansässigen Bangladesch-Organisation NETZ zu berichten: "Fatemas Lebensweg ist vorgezeichnet. Ihr Vater ist Tagelöhner auf den Feldern der reichen Bauern. In der siebenköpfigen Familie gibt es nie genug zu essen. Was liegt näher, als die Tochter früh zu verheiraten?"
An der Tagesordnung: Heirat mit 13, 14 Jahren
Obwohl das gesetzlich festgelegte Mindestalter für die Heirat bei 18 Jahren liegt, ist es an der Tagesordnung, dass die Hälfte der Mädchen in Bangladesch vor ihrem 18 Lebensjahr heiraten, im ländlichen Norden viele bereits mit 13, 14 Jahren. Die Ursachen sind Tradition und Unkenntnis - vor allem aber wirtschaftlicher Druck, der auf den Familien lastet. Mit 18 sind sie mehrfache Mutter, deren Gesundheitszustand meist miserabel ist: jeder 12. Säugling stirbt.
Im Distrikt Netrakona sind Zehntausende von Mädchen in der gleichen Situation wie Fatema. Und deren Chancen, selbst Einfluß zu nehmen, dem Teufelskreis von Armut und Kinder-Ehe zu entkommen, war eher gering - bis zu Beginn des letzten Jahres.
Seitdem unterstützt die Bangladesch-Organisation NETZ vor Ort die Organisation SABALAMBY (zu deutsch Selbständigkeit). Sie bietet den jungen Frauen eine sinnvolle Alternative zur Frühehe. Sie organisiert Selbsthilfe, Alphabetisierungskurse, sie verhilft den Mädchen zu einer Ausbildung.
Alternativen zur Frühehe
In den Kursen werden freilich nicht nur grundlegende Kenntnisse in Schreiben und Rechnen vermittelt. Die Mädchen besprechen ihre Lebenssituation und Möglichkeiten der Veränderung. Ihre gesetzlich verankerten Rechte, Sparen, Gesundheit und Familienplanung sowie die soziale Diskriminierung der Frauen werden intensiv erörtert. Projektleiterin Rokeya Begum (sie selbst war mit 13 an einen dreimal so alten Mann verheiratet worden) schildert, dass die jungen Frauen Lösungsansätze zu den Problemen selbst gestalteten, neues Selbstbewusstsein entwickelten und in der Gesellschaft aktiv würden. SABALAMBY und NETZ ermöglichen mittlerweile Mädchen aus den ärmsten Familien der Region eine berufliche Ausbildung: Sie lernen Batik-Techniken, Bambus-Flechten, Nähen, Kunst-Sticken oder das Verarbeiten von Lebensmitteln. Schließlich wird geholfen, die Produkte persönlich zu vermarkten. Nach Auskunft von Rokeya Begum ist die Nachfrage groß. So werden Fatema und ihre Freundinnen bald finanziell auf eigenen Beinen stehen - und die Väter keinen Grund mehr haben, ihre Töchter an den Mann zu bringen.
"Unsere Zusammenarbeit packt das Übel der Kinder-Ehen angemessen und wirkungsvoll an der Wurzel," unterstreicht NETZ-Koordinator Peter Dietzel. 393 Mädchen aus 40 Dörfern im Norden des Landes wurden im vergangenen Jahr durch das Programm direkt erreicht - und über 5000 Familien mit einer Kampagne gegen Kinder-Ehen.
Frauen müssen Armut überproportional ertragen
In Bangladesch, dem 144.000 Quadratkilometer großen Staat am Golf von Bengalen, leben 129 Millionen Menschen, die Hälfte unter der Armutsgrenze. Bangladesch ist unter den am wenigsten entwickelten Ländern jenes mit den meisten Armen. Die Hälfte der extrem Armen weltweit lebt in Südasien - und dort ist der Anteil wiederum in Bangladesch am höchsten. Frauen müssen einen überproportional hohen Grad der Armut ertragen. Repressive Traditionen und erdrückende soziale Normen, wirtschaftliche Abhängigkeit, finanzielle Ängste, Analphabetismus und rechtliche Zurücksetzung sind die Gründe für die Benachteiligung von Frauen in den Familien, im öffentlichen Leben und in der Politik.
Auf dem Land: Wochenlohn 3 Euro
Dennoch treten immer mehr Frauen in die Arbeitswelt ein. Aber ihre Arbeit ist unterbezahlt. So liegt der wöchentliche Durchschnittslohn für Frauen bei etwa 3 Euro im ländlichen Bereich, zwischen 2 und 8 Euro in der Stadt. 68 Prozent aller Beschäftigten in Bangladesch arbeiten in der Landwirtschaft. Aktuelle Statistiken belegen, dass der Lohn der Frauen nur 42 Prozent des Lohns der Männer beträgt. Ausführlich auf die Unterdrückung von Frauen in dem Land geht die Bangladesch-Zeitschrift NETZ in ihrer aktuellen Ausgabe ein. Die Themen des bundesweit erscheinenden Magazins: Rechtsverletzungen an Frauen, häusliche und familiäre Gewalt gegen Frauen, Mitgift, Polygamie und Prostitution, nicht zuletzt der Handel mit Frauen und Kindern in Südasien.
Armut wirksam und nachhaltig bekämpfen
Die in Wetzlar ansässige Organisation knüpft Verbindungen zwischen Menschen, Gruppen und Institutionen mit dem Ziel, zur Überwindung von Ungerechtigkeit und Armut in Bangladesch beizutragen. NETZ ist ein eingetragener Verein.
Koordinator Peter Dietzel: "Um Armut wirksam und nachhaltig zu bekämpfen, stärkt unsere Entwicklungsarbeit vor allem Frauen und Mädchen. Deshalb tritt NETZ mit seinen Partnerorganisationen für die Rechte der Frauen ein."
Ein Land in der Zerreißprobe
Das vorwiegend islamische Bangladesch befindet sich in der Zerreißprobe: Seit den Parlamentswahlen im Oktober 2001 ist die fundamentalistische Jamaat-e-Islami an der Regierung beteiligt, die von der Bangladesh Nationalist Party unter Premierministerin Begum Khaleda Zia angeführt wird. Menschenrechtler berichten von der Inhaftierung und Folterung von Oppositionspolitikern. Mitarbeiter von Entwicklungsorganisationen werden in vielen Teilen des Landes gewalttätig angegriffen. Unmittelbar nach den Wahlen starben 200 Menschen bei Übergriffen gegen Minderheiten. Doch Frauen-Organistionen fordern öffentlich die Gleichberechtigung, eine größere Mitsprache von Frauen an Entscheidungen und die Eindämmung von Gewalt.
Ein Handy für Fatema?
Zurück zu Fatema: Seit Beginn ihrer Ausbildung verdient sie ihr eigenes Geld, so dass es zu Hause jetzt öfter mal Gemüse als Beilage zum täglichen Reis gibt. Den Großteil ihres Einkommens spart sie, um sich selbständig machen zu können. Einen Apfel, wie ihn Anna-Julia nach ihrer Reitstunde genüßlich gegessen hat, hat sie sich noch nicht geleistet. Und bis sie ein Handy hat, wird es noch lange dauern. Denn dann könnte sie ihrer unbekannten Altersgenossin in Deutschland eine SMS senden. Fatema würde bestimmt schreiben, dass jener Pulli, den Anna-Julia in einem bekannten Wetzlarer Textilgeschäft ins Auge gefaßt hat, von ihren Freundinnen genäht wurde, die 50 Stunden pro Woche in der Textilfabrik arbeiten, völlig unterbezahlt.
Wie sagte doch Bundespräsident Johannes Rau: "Die nächste Generation wird uns daran messen, wie weit wir der wichtigsten Aufgabe gerecht geworden sind: Weltweit eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit zu schaffen."
Hoffentlich lernen sich Fatema und Anna-Julia irgendwann und irgendwo auf dieser Welt einmal kennen!
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Frauenrechte ...
... sind Menschenrechte. Die Organisation SABALAMBY führt in Bangladesch öffentliche Kampagnen gegen Kinder-Ehen durch. Sie unterstützt zusammen mit NETZ aus Deutschland Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt oder Rechtsverletzungen geworden sind. Leiterin von SABALAMBY ist Rokeya Begum. Sie wurde mit 12 von der Schule genommen, mit 13 an einen dreimal so alten Mann verheiratet. Sie erlebte schreckliche Ehejahre der Demütigung und Gewalt, weil sie "nur" eine Tochter zur Welt brachte. Aus der unerträglichen Ehe brach sie aus und gründete die Organisation SABALAMBY. Rokeya Begum hat sich zum Ziel gesetzt, Früh-Ehen und frühe Schwangerschaften zu verhindern, die die körperliche und seelische Gesundheit der Mädchen in einem der ärmsten Länder der Welt gefährden.