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NETZ setzt sich mit kolonialen Kontinuitäten auseinander Kolonialgeschichte und Entwicklungszusammenarbeit

NETZ ist eine Organisation mit Mitarbeitenden aus Bangladesch und Deutschland, die vornehmlich in diesen beiden Ländern arbeitet. Eines dieser Länder wurde kolonisiert, das andere Land hat kolonisiert. Heute noch gibt es koloniale Kontinuitäten, die gesellschaftliches Zusammenleben sowie ökonomische und politische Rahmenbedingungen sowohl in Bangladesch und Deutschland als auch zwischen den beiden Ländern prägen. NETZ ist sich dieser historisch gewachsenen Strukturen bewusst. Denn Organisationen wie NETZ laufen Gefahr, koloniale Strukturen und Bilder zu reproduzieren, zum Beispiel im Rahmen der Kooperation mit Partner*innen im Süden, durch die Art der Darstellung des Globalen Südens in der deutschen Öffentlichkeit oder gegenüber politischen Entscheidungsträger*innen in Europa. Wie das historisch herzuleiten ist und warum Kritiker*innen Entwicklungszusammenarbeit als Fortführung kolonialer Strukturen begreifen, wird im ersten Teil dieses Beitrags erläutert. Welche Veränderungen NETZ aktuell eingeleitet hat, um kolonialen Kontinuitäten zu begegnen, ist im zweiten Teil dargestellt.


Von Dirk Saam

Im Rahmen vor allem nichtstaatlicher Entwicklungszusammenarbeit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Armut zum größten Teil durch den Menschen verursacht ist und Machtstrukturen verantwortlich zu machen sind. Daher setzen viele Programme darauf, lokale Machtstrukturen in den Ländern des Globalen Südens, bestehend aus Politik, Wirtschaft, Militär und Polizei sowie lokalen Eliten, die durch Landraub und Ressourcenausbeutung Menschen in Armut treiben, zivilgesellschaftliche Strukturen entgegen zu setzen. Bestehende Machstrukturen sollen durch die Schaffung von Parallelstrukturen herausgefordert und perforiert werden. Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen, die in der Projektarbeit im Globalen Süden tätig sind, schauen hauptsächlich in die Länder des Südens und analysieren, wie den lokalen Herausforderungen begegnet werden kann. Selten thematisieren sie globale Macht- und Ungerechtigkeitsstrukturen und machen diese nur vereinzelt zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Dabei sind diese Strukturen unter anderem eine direkte Folge des Kolonialismus und bieten wichtige Erklärungen, zum Beispiel für die globale Verteilung von Reichtum und Armut. Länder des Globalen Nordens profitieren auch heute von der Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskräften ehemals kolonisierter Länder wie Bangladesch. Die Ursachen von Armut sind komplex und multidimensional, koloniale Kontinuitäten spielen dabei eine wichtige Rolle.

Zerstörung von Ökonomien im Globalen Süden

Im Entwicklungsdiskurs besteht auch heute noch das dominierende Bild eines „entwickelten“ Globalen Nordens gegenüber eines „weniger entwickelten“ und „rückständigen“ Globalen Südens. Basierend auf dieser Einteilung wird angenommen, dass der Globale Süden die „Entwicklung“ des Globalen Nordens aufholen sollte und der Norden in diesem Prozess als Vorbild fungiert. Diese Einteilung der Welt ist auf koloniale Weltbilder zurückzuführen. Um die koloniale Vorgehensweise europäischer Staaten vor allem in Asien und Afrika zu legitimieren, wurden kolonisierte Gesellschaften als „unzivilisiert“ und „rückständig“ gegenüber den „zivilisierten“ kolonisierenden Gesellschaften dargestellt. Der Blick in die koloniale Vergangenheit Europas offenbart wichtige Ursachen für die heutigen globalen Machtstrukturen. Der Blick zeigt auf, dass die Gründe für Spaniens, Frankreichs, Englands oder Deutschlands heutigen Status als Global Player in der westlichen Expansion zu finden sind und auf der Ausbeutung der Länder des Globalen Südens basiert. Er zeigt, dass die Kolonialmächte vielfältige und komplexe Gesellschaftsformen gewaltvoll und nachhaltig verändert, Gesellschaften gespalten und Menschen in ihre Abhängigkeit getrieben oder funktionierende regionale Wirtschaftssysteme zerstört und zur eigenen Gewinnmaximierung umfunktioniert haben. So existierten beispielsweise vor der Zeit Britisch-Indiens komplexe Handelsstrukturen im südasiatischen und arabischen Raum, die durch europäische Handelskompanien nachhaltig und zum Nachteil der südasiatischen Region verändert wurden. Hierdurch kam es zu einer Umkehrung der Handelsströme, die in weiten Teilen eine „DeIndustrialisierung“ des indischen Subkontinents zur Folge hatte.

Der Blick in die koloniale Vergangenheit offenbart eine Zwangsintegration des Südens in ein globales kapitalistisches Wirtschaftssystem. Dieses spiegelt sich in der Privatisierung von vormaligen Gemeingütern und der Zerstörung von kooperativem und kollektivem Arbeiten wider und schuf so die Grundlage für die Kolonialmächte, zu ökonomischen, politischen und militärischen Schwergewichten aufzusteigen. Die grobe Aufteilung in einen reichen Globalen Norden und einen armen Globalen Süden sowie die Festsetzung weltweiter Handelspraktiken durch den Globalen Norden zu Lasten der Menschen im Süden ist eine Kontinuität des Kolonialismus und eine zentrale Ursache für globale Armut. Während der Kolonialzeit wurden somit gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle Machtstrukturen etabliert, die unsere Gesellschaften bis heute durchziehen und von denen der Globale Norden bis heute profitiert.

Eingriffe in gesellschaftliche Strukturen prägen das Heute

Die Zusammenarbeit der Kolonialmächte mit Eliten in den kolonisierten Ländern zur Beherrschung der jeweiligen Bevölkerung und die daraus resultierende Verfestigung von Machtpositionen für lokale Eliten, prägen bis heute Hierarchisierungen in Gesellschaften und durchdringen gesellschaftliches Zusammenleben. Regularien zur Festlegung von Landbesitz sowie die Einführung von Pachtsystemen zugunsten der Eliten sind Beispiele für Strukturen, die eingeführt wurden, um Machtpositionen für lokale Eliten zu verfestigen. So konnte diese durch Repression der lokalen Bevölkerung die Landwirtschaft nach den Bedürfnissen der Kolonialmächte ausrichten. Einheimische Sorten wurden zerstört und Agrarprodukte angebaut, die den Kolonialmächten dienten, die aber für die lokale Bevölkerung wenig Nutzen boten. Als koloniale Kontinuität lässt sich heute die ausgedehnte Aneignung von Land durch transnationale Großkonzerne und Staaten benennen, einhergehend mit Landvertreibungen und -enteignungen marginalisierter Gruppen. Lokale Eliten sind auch heute relevante Akteur*innen zur Umsetzung einer solchen Politik.

Das Bewusstsein für bestehende globale Machtstrukturen und deren historische Herleitung werden für NETZ verstärkt Bestandteil des Selbstverständnisses sein, im Rahmen dessen Entwicklungszusammenarbeit betrieben wird. Dazu gehört, sich kontinuierlich globale Ungerechtigkeitsstrukturen und deren Auswirkungen auf Menschenrechte und Armut weltweit bewusst zu machen, sich zu positionieren und diese zu bekämpfen. Die weitere Auseinandersetzung mit und die Durchbrechung von kolonialen Kontinuitäten bei NETZ beinhaltet unter anderem die Weiterentwicklung des Partnerschaftsverständnisses entlang machtkritischer Richtlinien und die Überprüfung organisationsinterner Strukturen bezüglich der Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden im Bangladesch-Büro sowie mit Partner*innen und Menschen vor Ort. Dazu gehören auch die Überprüfung der Inhalte und Methoden mit denen entwicklungspolitische Bildungsarbeit in Deutschland geleistet, der Freiwilligendienst umgesetzt und der Dialog mit politischen Entscheidungsträger*innen in Europa geführt wird. Zudem gilt es, die Spendenwerbung und Öffentlichkeitsarbeit kontinuierlich auf koloniale Kontinuitäten hin zu überprüfen und entsprechend weiterzuentwickeln. Für alle Arbeitsbereiche ist die Verwendung rassismusfreier Darstellungen zentral, die keine kolonialen Strukturen und Stereotype reproduzieren.

Überprüfung von sprachlichen und bildlichen Darstellungen in allen Arbeitsbereichen

Da Menschen im Globalen Süden sowie Schwarze Menschen und People of Color, die im Globalen Norden leben, von der hiesigen weißen Mehrheitsgesellschaft heute noch mit Vorurteilen und Rassismen diskriminiert werden, ist es Aufgabe von Organisationen wie NETZ, mit Bildern und Sprache solche Stereotype nicht zu bedienen. Häufig werden Menschen aus dem Globalen Süden sowie Schwarze Menschen und People of Color mit rassistischen Zuschreibungen markiert, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit haben. Die Stigmatisierung der Menschen im Süden als „unzivilisiert“, „uneigenständig“ oder „ungebildet“ diente den Kolonialmächten als Legitimation, Menschen zu „zivilisieren“ und zu „bilden“ und Gesellschaften derart zu verändern, dass diese beherrschbar waren und den eigenen Politik- und Wirtschaftsinteressen dienten. Die erzeugte „Andersartigkeit“ der Menschen in den Ländern des Südens fungierte als Begründung für koloniale Fremdherrschaften.

Das Bild der „ungebildeten“ und nicht unseren Vorstellungen von „entwickelt“ entsprechenden Menschen aus dem Süden ist als koloniale Kontinuität in Gesellschaften des Globalen Nordens stark verankert. Auch Entwicklungsorganisationen greifen auf diese Bilder zurück, um Menschen dazu zu bringen, für die „unterentwickelten“ Projektteilnehmenden zu spenden. Ein kaum erträgliches Spannungsfeld für Organisationen wie NETZ, mit Sprache und Bildern für Engagement und Spenden zu werben, um Menschen in Bangladesch zu unterstützen, damit aber gleichzeitig Gefahr zu laufen, kolonial-rassistische Machtstrukturen zu reproduzieren und somit Vorurteile in deutschsprachigen Gesellschaften zu perpetuieren.

NETZ befindet sich daher in einem Prozess in allen Arbeitsbereichen auf solche Darstellungen zu verzichten. Dies ist nicht einfach, denn wann ist beispielsweise eine Darstellung von Lebenssituationen in Bangladesch etwas rein Deskriptives und als Information für Interessierte relevant und wann ist es eine Reproduktion kolonialer Bilder? Ist es deskriptiv, die Häuser von Menschen in Bangladesch als Hütten zu benennen, in den Frauen auf Lehmböden sitzen? Und inwieweit kann dies bei den Lesenden dazu beitragen, stereotype Bilder von Bangladesch zu bestätigen? Bilder von einem Land, das „rückständig“ und „unterentwickelt“ ist, obwohl die Hütte und der Lehmboden in Bangladesch nicht notwendigerweise Armut bedeuten, sondern Bestandteil der gewöhnlichen Infrastruktur sind. In der weißen Mehrheitsgesellschaft ist der Impuls verbreitet, die Hütte und den Lehmboden mit Häusern und gefliesten oder mit Teppich bedeckten Böden zu vergleichen und somit die eigene Lebenssituation als Norm und als „entwickelt“ zu begreifen. Wertende Gegenüberstellungen sollten jedoch vermieden werden. Das heißt Menschen in Bangladesch oder deren Lebensverhältnisse sollten nicht als „anders“ im oben genannten Sinne oder in ihrer Kultur verhaftet beschrieben und somit eine Abgrenzung zum „modernen“, „entwickelten“, „wissenden“ oder „kultivierten“ Dasein des Globalen Nordens geschaffen werden. Es klingt selbstverständlich, sich nicht wertend und hierarchisierend gegenüber Menschen in Bangladesch positionieren zu wollen. Doch gibt es in der Entwicklungszusammenarbeit unzählige Bilder, die weiße Mitarbeitende oder Projektbesucher*innen agierend und erklärend im Zentrum eines Fotos zeigen, umringt von passiven Projektteilnehmenden und die somit genau oben genannte Gegenüberstellung und ein Abhängigkeitsverhältnis suggerieren, das an die Kolonialzeit erinnert.

Weitere Schritte

Es ist ein wichtiges Anliegen von NETZ, sich weiter selbstkritisch in einem kontinuierlichen Reflexionsprozess mit diesen Themen zu beschäftigen, zum Beispiel in Fortbildungen und Arbeitstreffen. Dieser Prozess soll auch öffentlich vermittelt werden, unter anderem mit Blick darauf, welche Dinge warum geändert werden. Die politische Positionierung von NETZ, die Außendarstellungen und die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen und Menschen in Bangladesch sollen künftig die Sensibilisierung von NETZ zu diesem Thema noch deutlicher widerspiegeln. Wir laden alle ein, Teil des Prozesses zu sein und diesen mit Ideen und Anregungen zu bereichern.

Dirk Saam ist Leiter Politischer Dialog bei NETZ.

Der Beitrag erschien in der Bangladesch-Zeitschrift NETZ 1/2-2018 Koloniale Kontinuitäten Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei NETZ anfordern.

Lakshmibai war Herrscherin von Jhansi in Nordindien und eine Anführerin des großen indischen Aufstands gegen die britische Kolonialherrschaft von 1857. Statuen von ihr stehen heute an vielen Orten Indiens, beispielsweise in Agra, Ahmedabad und – wie hier zu sehen – in Solapur. Sie wird in Liedern und Gedichten erwähnt. Foto: Dharmadhyaksha; CC BY-SA 3.0

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