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Zwei Seiten eines Sommers

Es ist Sommer in Bangladesch. Bereits im Mai hat die Mango-Saison begonnen. Und bis September werden überall in Bangladesch die Bäume der Mango-Frucht eine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wohin das Auge blickt, sieht man Mangos. Sie hängen an Bäumen, sind an Obstständen pyramidenförmig aufgebaut, oder liegen zum Transport durcheinander in großen Körben, verklebt von süßem Fruchtfleisch und von Fliegen umringt. Kleine Mangos, große Mangos, grasgrüne Mangos, gelbe Mangos, grünschwarze Mangos. Zum Teil aufgeschnitten, so dass man einen Blick auf das tief orangene oder gelbe, saftige Fluchtfleisch werfen kann. Dies kann einem in diesen heißen und schwülen Tagen einen erfrischenden und unglaublich leckeren süßlichen Geschmack im Mund bescheren, den man so leicht nicht vergisst, und der Lust auf mehr macht. Überall werden Mangos gegessen, aufgeschnitten, oder am Stück verzehrt, an den ovalen Steinen gelutscht, bis auch die letzte Faser daran den Weg zum Mund gefunden hat. Wenn man an einem mangoessenden Mitmenschen vorbeiläuft, dringt einem der süße Geruch der Mango in die Nase. Diesen Geruch nur zu erahnen, lässt einem das Wasser bereits im Munde zusammenlaufen.

Die Jagd auf Mangos ist groß. Man kann damit viel Geld verdienen. Noch unreif und sauer werden sie bereits von den Bäumen geholt, dann mit Zwiebeln und Chili zu einem scharf-sauren Salat verarbeitet. Oder es werden Chemikalien benutzt, z.B. Carbid, um die Mangos frühzeitig zum Reifen zu bringen oder Formalin, um sie länger haltbar zu machen. Jedes Jahr sterben Kinder an den präparierten Mangos und im nächsten Jahr wird die gleiche Prozedur von Neuem gestartet. Das Geschäft mit Mangos ist hart. Auch Mangos haben ihre Schattenseiten.

Ein vierzehnjähriger Junge klettert einen Mango-Baum hinauf. Arbeitet er und werden die Mangos, die er dort pflücken wird, später verkauft? Oder pflückt er nur für seine Familie und Freunde? Vielleicht möchte er auch lediglich eine einzige Mango für sich selbst auf den Weg mitnehmen? In dem Moment, in dem er fällt, hat er da schon gepflückte Mangos in der Hand? Fallen sie ihm im Fall aus der Hand? Kommen sie vor ihm auf dem harten Boden an oder fallen sie ihm ins Gesicht, als er schon dort liegt, bewegungslos?

Als ich Mizan das erste Mal begegne, liegt er auf einer Liege, die mit einem fleckigen grünen Tuch bedeckt ist. Er hat ein schönes, liebevolles und trauriges Gesicht. Er trägt ein orangefarbenes Trägerhemd, das er auch all die anderen Male tragen wird, die wir uns treffen. Während ein Physiotherapeut seine teilnahmslosen, schlaffen, dünnen Beine bewegt, redet er mit mir und erzählt mir von seinem Leben, das durch einen Sturz von einem Mango-Baum unweigerlich in zwei Abschnitte geteilt wurde, die unterschiedlicher nicht sein können. Auch sein Körper schein geteilt zu sein. In den einen, gesunden funktionsfähigen Teil, mit dem er sich gerade mit mir unterhält und in den unteren bewegungslosen, gelähmten Teil, an dem der Physiotherapeut sich zu schaffen macht.

Mizan berichtet mir von seinem Leben vor seinem Unfall, von seinem Dorf, in dem er mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester wohnt. Dass er sich für Fußball begeistert hat. Dass er ein bisschen Englisch sprechen kann, was er auf einer Koranschule gelernt hat, die er täglich besucht. Dass er kein Gewitter mag.

Dann erzählt er mir von seinem Leben im Rehabilitationszentrum, das vor zwei Monaten für ihn begonnen hat. Mit einem Auto wurde er hierher gefahren. Während sich alle gerade in einer vollkommenen Weltmeisterschafts-Manie befinden, kann Mizan in seinem neuen Leben nichts mehr mit Fußball anfangen. Als er mir das sagt, wirkt er noch trauriger als sonst.

Mizan hat hier Freunde gefunden, die er vorher nicht gekannt hat und wahrscheinlich auch niemals kennen gelernt hätte. Zusammen können sie gegenseitig ihre Erfolge in der Therapie sehen. Gemeinsam spielen sie Tischtennis oder messen sich beim Basketball. Gegenseitig sehen sie sich neidisch, mitleidig oder traurig und ernst dabei zu, wie manche von ihnen erste Laufversuche starten – mit Bandagen um die Beine, damit diese nicht einknicken und einem Metallgerüst, auf das sie sich stützen können. Jeder Schritt ist eine Qual.

Ende der Woche kommt Mizan in das „Half Way Hostel“. Das ist eine Übergangsstation im Rehabilitationszentrum, in der die Patienten auf die Umgebung in ihren Dörfern und das Alltagsleben vorbereitet werden sollen. In zwei Wochen ist es soweit und er kehrt zurück in sein altes Leben. Zwei Abschnitte sollen wieder zusammenfinden. Ebenso wie Mizans Körper wieder eins werden muss, ebenso wie Mizan wieder eins werden muss. Eine Person.

Es beginnt zu gewittern und ich erfahre, dass Mizan noch immer keinen Regen mag. Wenn der Boden durch den Regen aufgeweicht und matschig wird, wird Mizan es besonders schwer haben, sich in seinem Dorf fortzubewegen.

Wir unterhalten uns darüber, was wir zum Frühstück gegessen haben. Ob er jemals wieder Mangos essen wird?

Während meiner Mitarbeit am Centre for the Rehabilitation of the Paralysed (CRP) im nördlich von Dhaka gelegenen Savar, befinden sich dort 89 Patienten mit Querschnittlähmung. 46 von ihnen stürzten von einem Baum. Dies ist in Bangladesch die zweithäufigste Ursache für eine Querschnittlähmung.

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