Worte, die nicht verstanden werden
Heute ist der 3. Dezember. Auf einer zentralgelegenen Grünfläche der Stadt Gaibandha sind um die 120 Menschen zu einer Kundgebung zusammen gekommen, Mitarbeiter verschiedener Institutionen, Journalisten, Angehörige und junge wie alte behinderte Menschen. Sie werden von hier aus entlang der Hauptstraße laufen und gemeinsam auf den Tag der Vereinten Nationen für Menschen mit Behinderung aufmerksam zu machen - und ich mit dabei. Oder besser gesagt, zuerst mittendrin, umgeben von all diesen Menschen, die alle gerne wissen möchten, wie ich heiße, woher ich komme, was ich hier mache, um nach ein paar Vorstellungssätzen meinerseits und vielen geschüttelten Händen weit vorn den Zug anzuführen.
Rollstühle fahren voraus, links und rechts von mir eine Reihe von wichtigen Leuten, die mit mir gemeinsam ein Banner hochhalten. Neben mich gesellt sich der höchstrangigste Politiker des Distrikts Gaibandha, der mich auffordert, ohne sich vorzustellen und in einem Tonfall als spräche er mit einem Soldaten, auch ihm meinen Namen, meine Herkunft und den Grund für meine Anwesenheit zu sagen. Ich denke, während ich ihn betrachte: "Schön, wenn Menschen ihre Seele im Gesicht tragen", antworte ihm aber freundlich.
Der Marsch endet nach knapp 15 Minuten Fußmarsch am Jelaparishad, dem Verwaltungssitz des Distriktes, in dem alle Platz nehmen und eine Rede der anderen folgt. Taube Ohren und geistig Behinderte werden auch hier und heute behindert, sage ich mir leise, als mein Name fällt, ich ans Rednerpult gebeten werde und nun selber zu sprechen beginne. Name, Herkunft, Grund für meine Anwesenheit. Auf Bengalisch, versteht sich. Fürs Wesentliche muss leider aber doch die Weltsprache No.1 herhalten. Eine schmissige Rede zu improvisieren, die sich von den bisherigen Darbietungen abhebt, ist eigentlich nicht schwer, denke ich mir. Aber wer versteht mich, wem ist selbst basic english zu sehr sophisticated?
Möglicherweise verstehen die Menschen nichts. Meine Worte können nicht hier, nicht heute die Wahrheit sprechen. Das verstehen alle. Denn sicherlich zählen sie gerade die noch ganz frischen, jungen Falten der letzten Tage auf meiner Stirn und wissen es. Du da in der ersten Reihe, mein lieber Sojon*, schön dass auch Du über die Felder hierher gebracht werden konntest und Du unter uns bist. Noch, denn auch ich kann Dir leider nicht helfen, wieder ganz der Alte zu werden und deine Muskelkrankheit zu besiegen, niemand kann das. Du atmest nur noch vier, fünf Mal in der Minute und für jeden Atemzug musst Du noch mehr arbeiten als ein Tagelöhner für ein paar Groschen. Und wenn Deine jüngere Schwester Dich einmal vermissen wird und an Deinem Grab ein trauriges Lied singt, sollte sie die Wahl haben Mutter zu werden, denn es ist sehr wahrscheinlich, dass sie als Frau und Mutter Söhne mit derselben unheilbaren Muskeldystrophie zur Welt bringt.
Alle applaudieren. Ich wurde nicht verstanden, ich wurde durchschaut. Ich fühle mich geehrt - und lasse die vielen thank-you's der Politiker einfach wie kalten Wind durch die Furchen meiner jugendlichen Blauäugigkeit fahren.