Wir sind alle Menschen
Vor einigen Tagen habe ich Mymensingh, eine Stadt etwa drei Stunden nördlich von Dhaka auf einem meiner field visits besucht. Vor der Abfahrt zurück nach Dhaka war noch etwas Zeit und so beschloss ich mit meinem Kollegen Bachchu eine kleine Rundfahrt durch die Stadt zu machen. Es war Freitag morgen und die Straßen wie leer gefegt. Der heilige Freitag im heiligen Ramadan, da trieb es noch keinen aus dem Haus. Mit der Rikscha fahren wir erst zum Alten Brahmaputra, der an der Stadt vorbei fließt. Kleine Boote mit roten Segeln schiffen Menschen hin und her. Auf der anderen Seite blühen die Gräser silbrig-weiß. Das Ufer ist gesäumt von alten, hohen Bäumen. Ein paar Jungs spielen Kricket, ein paar Studenten trinken heimlich hinter den Planen eines Standes heißen Tee. Entlang des Flusses gruppieren sich die alten Verwaltungsgebäude, die noch aus der Kolonialzeit stammen: Das Bezirksgericht, die Stadtverwaltung, die Polizei.
Dass es in Mymensingh während der britischen Herrschaft eine Reihe sehr reicher Hindu-Familien gab, ist heute noch spürbar. Hier und da steht ein von Wind und Wetter umstürmtes Rajbari, das Haus eines reichen Landverwalters. Im Herzen der Stadt werden heute noch hunderten Studenten im Anando Mohan College unterrichtet. Dort stehen um weiße korinthische Säulen hohe Palmen an denen ein Schild hängt: "Ich liebe Bangladesch". Und noch eines: "Bangladesch, ich bin stolz auf Dich". Ein anderes Schild weist an: "Frauen ist der Eintritt in die Studentenwohnheime untersagt".
Noch heute gibt es in Mymensingh eine relativ große hinduistische Bevölkerungsgruppe. Wir fragen ein paar Studenten wo der größte Tempel der Stadt zu finden ist. Der Rikscha-Fahrer bringt uns in eine kleine Nebenstraße unweit vom Bahnhof. Durch einen kleinen Torbogen betreten wir den Hindu-Tempel von Mymensingh. Gleich neben dem Eingang liegt der Nat Mondir, eine kleine, offene Halle, deren Dach von vielen Säulen getragen wird. Der Boden ist bunt bemalt. An den Säulen hängen Bilder der verschiedenen Götter und bunte Girlanden. Die Säulen sind weiß lackiert, ihre Kapitell mit bunten Blumen bemalt. Ein paar Leute sitzen an der Seite der kleinen Halle und unterhalten sich.
Der eigentliche Tempel liegt hinter der Halle. Über ein paar Stufen betritt man eine Vorhalle von welcher der Blick auf das Paar Radha und Krishna in einer großen Nische fällt. Beide Statuen sind klein und gedrungen. Sie erinnern mich an die dicken Puten einer Barockkirche mit dem Unterschied, dass Krishna wie immer ganz blau ist. Die Fassade des Tempels ist weiß und mit farbigen Blumen bemalt. Links vom Tempel liegt eine Reihe kleinster Häuser. Hier leben der Tempelpriester und einige andere. Eine sehr kleine, sehr alte Frau kommt auf uns zu. Sie trägt den weißen Sari der Alten und Witwen. In ihrem faltigen Gesicht lächeln die blauen, transparenten Augen der greisen Menschen. "Namaskar Masi", sagen wir freundlich mit gefalteten Händen, und bitten um Zugang zum Tempel. Die kleine Masi, das heißt Tante, nimmt mich an der Hand und führt mich zu den beiden Figuren im Tempel. Die Schuhe bleiben natürlich vor den Stufen draußen. Sie erzählt vom Liebespaar Radha und Krishna. Dabei hält sie weiter meine Hand und streicht mir über den Arm. Ein paar Leute sammeln sich um uns. Eine junge Frau mit leuchtend rotem Scheitel und weißen Armreifen aus Muschelkalk, den Symbolen der verheirateten Hindu-Frauen, setzt ihren kleinen Sohn auf dem Boden des Tempels ab. Der kleine, keine zwei Jahre alt, legt die Hände vor der Stirn zusammen und verneigt sich vor Radha und Krishna. Alle lachen.
Ein junger Mann kommt hinzu. Neugierig fragt er woher ich komme. Auch mein Kollege Bachchu muss Rede und Antwort stehen. Nachdem die Herkunft geklärt ist, fragt der Mann nach unserer Religion. Na ja, zwei Religionszweifler, einer mit muslimischen Hintergrund und eine mit christlichem, mitten in einem Hindu-Tempel. Doch bevor wir etwas sagen können, fährt ihm die kleine Masi über den Mund: "Was ist das für eine Frage? Das spielt doch keine Rolle!". Trotzdem sagen wir brav, wir seien muslimisch beziehungsweise christlich. Das stört hier niemanden, aber die alte Frau stört sich an der Frage. "Wir sind alle Menschen auf dieser Welt. Wir haben dieselben Rechte und dieselbe Würde! Was soll also diese Frage?" schimpft sie weiter. Alle nicken. Sie philosophiert noch ein bisschen weiter über die Gleichheit der Menschen. Schließlich sagt sie: "Wie auch immer, ich freue mich, dass ihr unseren Tempel sehen wollt". Sie zeigt auf Radha und Krishna und meint: "Bleibt hier und philosophiert ein bisschen, ich bin glücklich, dass ihr da seid".
Nach wenigen Minuten kommt sie wieder. Ob ich nicht ein Bild mit ihr machen mag. Ich krame die Kamera heraus. Die alte Frau beginnt ihren alten Sari neu zu wickeln. Sie knotet das Ende des Saris auf. Hier bewahren die Frauen meist den Hausschlüssel und ein paar Taka auf. Sie hat den halben Hausstand in ihrem Sarizipfel: ein kleines Heftchen, Streichhölzer, den Schlüssel und anderes Zeug. Als sie sich zurecht gemacht hat, stellen wir uns auf. Im Hintergrund müssen Radha und Krishna zu sehen sein. Sie ist kaum halb so groß wir ich. Wieder hält sie meine Hand. Die Kamera blitzt.
Wir bedanken uns bei allen für die freundliche Aufnahme. Masi redet noch immer von der Gleichheit der Menschen. Sie umarmt mich drei Mal. "Ich bin über achtzig und habe das Abitur gemacht", sagt sie lächelnd. Jetzt lebt sie hier. Wir gehen auf den Ausgang zu. Wir bedanken uns nochmals und schlüpfen durch das Tor hinaus auf die Straße. "Namaskar Masi", rufen wir von draußen und gehen davon. "Was für eine weise Frau", sagt Bachchu. Ja, denke ich, von wegen konservativ und intolerant. Die Ältesten sind manchmal einfach die Klügsten.