Wie ausweglos muss die Situation einer Frau sein
"We are going to a brothel…, you know what that is?" - "Ja, klar!" sage und denke ich, überzeugt davon auch wirklich verstanden zu haben, was Mahmud und Shafiq gemeint haben. Meine zwei Kollegen und ich fahren mit der Rikscha durch die Straßen von Jessore, einer Stadt im Westen Bangladeschs. Seit zweieinhalb Wochen bin ich in Bangladesch, und heute besuche ich das erste Mal die bangladeschische Entwicklungsorganisation "Jagorani Chakra Foundation", eine der Partnerorganisationen von NETZ, bei der ich ab Ende November meinen Freiwilligendienst machen werde. Shafiq und Mahmud wurden ausgesucht mir ein kleines Programm für den heutigen Nachmittag zusammenzustellen.
Und ich staune nicht schlecht: Mein erster Besuch bei meiner Organisation führt mich in ein Bordell!!!
Die "Jagorani Chakra Foundation" ist eine nicht-staatliche Entwicklungsorganisation, die im Westen Bangladeschs verschiedene Entwicklungsprogramme durchführt. Eines davon ist das "Brothel Children's Human Rights Programme", ein Programm, dass die Menschenrechte von Prostituierten und deren Kinder schützen soll. Die Organisation führt in den drei Bordellen von Jessore Aufklärung über die Rechte von Prostituierten durch und unterhält ein Zentrum, in dem die Kinder der Prostituierten wohnen und eine Schulbildung erhalten.
Prostituierte werden von der bangladeschischen Gesellschaft verachtet und leben in extremer Armut. Die Kinder von Prostituierten, die bei ihren Müttern leben, werden stark diskriminiert. Sie können nicht zur Schule gehen und wachsen in einer Umgebung auf, in der physische und psychische Misshandlungen keine Seltenheit sind. In einigen Fällen bleibt den Kindern keine andere Wahl, sie werden von Zuhältern oder ihrer eigenen Mutter für sexuelle Dienste angeboten, manchmal noch bevor sie die Pubertät erreicht haben. Die Mädchen wachsen zu Frauen heran, viele von ihnen bleiben im Bordell.
Ich zwänge mich durch die enge Gasse, meinen zwei Begleitern hinterher. An beiden Mauerseiten stehen, in einer Reihe aufgestellt, stark geschminkte Frauen, schwer einzuschätzen wie alt sie sind oder wie jung. Sie warten auf einen Kunden. Eine Hand streicht mir über die Brust. Lach ich jetzt oder gehe ich ernst schauend weiter? Hoffentlich verstehen alle Leute, dass ich hier nicht zum Vergnügen bin!
Ich gehe allein weiter. Meine zwei Mitarbeiter gehen vor mir, aber ich gehe allein.
Ich komme in einen kleinen Innenhof. In der Mitte unter einem hölzernen Unterstand steht eine alte Frau an einer Feuerstelle und kocht. Drum herum sehe ich die Eingänge zu den engen Zimmern. Müll liegt auf dem schlammigen Boden. Ich sehe alte Frauen und junge, sehr junge. Arbeiten die hier? Der Duft von Marihuana, Kindergeschrei und stark geschminkte Prostituierte. Ein Mann. Ein Freier? Alles ist verwahrlost, aus den Zimmern riecht es muffig. Ausdruckslose Gesichter. Wir unterhalten uns mit zwei Frauen. Die eine Frau hält ein Kind auf dem Arm. Sie erzählt. Aber ich höre nicht richtig zu. Ich sitze hilflos auf einem kleinen Hocker, blicke mich um und hunderte von Gedanken schießen durch meinen Kopf. Und immer kommt mir die gleiche Frage in den Sinn: Wie ausweglos muss die Situation einer Frau sein, dass sie hier her kommt…
Später fahre ich mit Mahmud und Shafiq in das Center, in dem 54 Kinder aus den Bordellen leben und betreut werden. Bis zu 112 weitere "Bordellkinder" kommen täglich hierher und erhalten zusammen mit den anderen eine schulische Ausbildung. Mit dem Programm für Menschenrechte soll gewährleistet werden, dass die Kinder von Prostituierten in einem Umfeld aufwachsen, in dem sie soziale Anerkennung erfahren. Sie sollen die Möglichkeit haben, später ein Leben fernab des Bordells zu führen. Deshalb schicken die Mütter ihre Kinder in das Center. Sie besuchen sie regelmäßig und nehmen an Elternabenden teil. Fast wie in einer richtigen Schule.
Mir wird ein Mädchen vorgestellt, das am Vormittag auf einer regionalen Konferenz zur Reformierung des bangladeschischen Schulsystems anwesend war. Vor Vertretern des Staates, von NGOs und Bildungsinstitutionen hat sie eine leidenschaftliche Rede über die Vor- und Nachteile einer solchen Reform gehalten und gemahnt einen solchen Schritt mit Vorsicht und nicht überstürzt zu tätigen.
Jene 14-jährige Tochter einer Prostituierten steht vor mir und lächelt mich selbstbewusst an…. und macht mir Mut.