Wenn einer eine Reise tut
Eine knappe Stunde einen Weg bahnen zwischen freilaufenden Hühnern und Ziegen, bunten Rikschas, Kühen, die an Nachbars Grün nippen, hupenden Motorrädern und Bussen, denen man besser die Vorfahrt gewähren sollte, die ihrer Größe obliegt, dann steht man an ihrem Ufer. Ihre Form verändert sich täglich, sie sucht sich ihren Weg und ist nie dieselbe, die man gestern noch besucht hat, nie dieselbe Jamuna.
Rhein, Donau, Elbe, Weser, Oder – das sind deutsche Vorzeigegewässer. Mit einer mittleren Abflussmenge von rund 2.300 m3/s ist der Rhein der größte „deutsche“ Fluss, zudem der größte Nordseezufluss, eine der verkehrsreichsten Wasserstraßen und auf einer langen Strecke für die Großschifffahrt zugelassen. Das Rheintal wird mit Kultur und Wein verbunden. Wer seine Mündung das Rheindelta kennt, ist sicher beeindruckt. Wer an der Jamuna steht, glaubt, er steht an einem Meer. So geht es mir. Wasser soweit das Auge reicht, die Füße auf sandigem Boden. Sie fließt in keinem Tal und ist nicht sehr tief, aber sie nimmt sich den Platz, den sie braucht. Mit rund 21.000 m3/s Wasser, die sie führt, ist der Rhein nicht einmal mehr ein kleiner Bruder. 15 Kilometer ist sie derzeit an der Anlegestelle der Boote breit. Vor ein paar Tagen war diese noch weiter draußen. Die Jamuna hat sich breit gemacht.
Boote fahren täglich zu ihren Schwemmlandinseln, den Chars. Es sind einfache Kähne, ein paar Holzbretter, ein Dieselmotor, ein Mann, der den Weg kennt. Auch wir sind auf dem Weg – zu einer Schule auf einer Char. Auf den Booten wird alles mitgenommen, was ein Leben braucht. Einmal mehr gesellt sich ein Huhn zu mir und mir drängt sich die Frage auf, ob Ziegen seekrank werden können.
Meine Kollegin fragt mich: „Kannst Du schwimmen?“ „Warum?“, erwidere ich. „Naja, gelegentlich könnte es von Vorteil sein!“. Ich beschließe darauf zu vertrauen, dass wir alle doch recht gerne wieder heil nach Hause kommen wollen und ich es nicht schaffen würde, an das nächste Ufer zu schwimmen, auch wenn immer einmal wieder eine Sandbank hervorschaut.
Zwei Stunden dauert die Fahrt. Wir sitzen dicht nebeneinander auf den Außenwänden des Bootes, in der Mitte Ziegen, Hühner, Gemüse, ein Motorrad, Abflussrohre, eine Toilette. Drei Frauen zwischen endlich vielen Männern. Zusammen auf dem gleichen Weg und mit so unterschiedlichem Ziel.
Ein Bullenwagen bringt uns trockenen Fußes an Land. Zwei Stunden haben wir Zeit, unsere Schule zu besuchen, dann fährt das Boot zurück. Einmal am Tag, bei gutem Wetter pendelt das Boot. Autos gibt es keine auf der Insel. Strom? Ein paar wenige Dieselaggregate oder Solarzellen eines Hilfsprojektes, grade genug um ein Handy aufzuladen oder am Abend eine Glühlampe oder einen kleinen Ventilator zu betreiben.
Auf dem Rückweg ist das Boot fast leer. Was soll man schon ans Festland bringen wollen? – Festland? Das ist es nicht. Keines der beiden Ufer ist festes Land. Es ist Sand, aus dem die Jamuna immer wieder das formt, was viele Menschen ihre Heimat nennen, manche auch nennen müssen. Die Sonne schenkt uns ein letztes Lächeln. Die stillen Momente des Zwielichtes, des Sonnenuntergangs begleiten uns an das heimatliche Ufer. Hinaus aus einer Zeit, in der gleichen Zeit wie der unseren, doch mit einer ganz anderen Zeit. Der Zeit von Wasser und Sand.