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Von Wasser und Sand

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Regen trommelt auf das Wellblechdach. Es hämmert und kracht. Alles an der Szenerie kündigt den nahenden Weltuntergang an. Palmen biegen sich im stürmischen Wind, Blitze zucken über den Himmel, das Wasser vor der Hütte steigt. Ich stehe in der Tür und sehe zu. Neben mir steht Labuni. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter wohne ich seit einer Woche auf der Schwemmlandinsel Patilbari, im Norden Bangladeschs.

Schwemmlandinseln, im Bengalischen char genannt, gibt es unzählige in Bangladesch. Und wenn man von den ärmsten Gebieten des Landes spricht, ist es sehr wahrscheinlich, dass man diese im selben Atemzug nennt. Versorgung mit Nahrung, Medizin, Baumaterialien: alles wird zu einem Problem, wenn ein Fluss Menschen und Festland trennt. Brücken gibt es zu keiner von ihnen. Denn jährlich verschwinden große Teile der Schwemmlandinseln im Fluss, neue bilden sich. Dazu kommen Überschwemmungen in der Regenzeit. Flusserosion. Arbeitsmangel. Kaum einer der älteren Menschen auf Schwemmlandinseln kann Lesen oder Schreiben. Aus diesem Grund arbeiten lokale NGOs mittlerweile verstärkt vor allem in solchen Regionen. Auch USS unterstützt sechs Schulen auf Patilbari - damit den Kindern die Grundbildung ermöglicht werden kann.

Vom Büro aus starte ich mit dem bhan, dem Rikscha ähnlichen Wagen. Um an das Flussufer des Jamuna zu kommen, fahre ich bis nach Shagatha. Dieser kleine Markt befindet sich ungefähr 5 km entfernt. Dort treffe ich meine Kollegin Moyna, die mich nach Patilbari begleiten wird. Wir besteigen ein nussschalenförmiges Boot und der Bootsmann steuert auf das Wasser hinaus. Der Jamuna ist sehr breit und tief, an einigen Stellen gibt es sogar Flussdelphine. Die Fahrt dauert etwa 30 Minuten. Auf Patilbari gibt es keine Anlegestelle, deshalb springen Moyna und ich ins knietiefe Wasser und waten bis zum Ufer. Schwemmlandinseln haben ein zum Festland unterschiedliches Aussehen. Große Sandflächen wechseln sich ab mit Chilifeldern, Maisfeldern und grünen Wiesen. Die Sonne brennt auf unsere Köpfe. Moyna zieht sich ihren Schal über das Gesicht, während ich meines in die warmen Strahlen halte.

Bevor wir zum Haus des USS- Mitarbeiters Reza, bei dem ich eine Woche wohnen werde, gehen, besuchen Moyna und ich noch eine der so genannten shomity, eine Frauengruppen von USS. In den ärmsten Dörfern werden von USS diese Gruppen gebildet und ihnen unter anderem Kühe, Hühner und Pflanzensamen zur Verfügung gestellt. Mit diesem Startkapital sollen die Frauen Geld erwirtschaften und sich so eine Existenz für sich und ihre Familie aufbauen. Wenn genügend Gewinn (mit dem Verkauf vom Milch, Eiern oder Fleisch) erzielt wurde, wird das Startkapital in bar an USS zurückgezahlt. Die Frauengruppen treffen sich wöchentlich, um Erfahrungen und Erfolge auszutauschen. Reza ist für diese und einige andere Gruppe auf der Insel zuständig.

Über den Sand laufen wir Moyna, Reza und ich nach dem Treffen zu seinem Haus. Bei einem Schulbesuch war ich bereits einmal in diesem zu Besuch und wurde so auch in die Gepflogenheit eingeweiht, vor allem den Kindern eine Kleinigkeit mitzubringen. So habe ich auch Tamana, der 5-jährigen Tochter von Reza und Labuni eine besondere Süßigkeit aus Shagatha mitgebracht.

Moyna unterhält sich indessen mit Reza, denn Sorgen werden sich natürlich schon gemacht, was man dem Gast eine Woche zu Essen kochen sollte. Meinem Erachten nach wird dem ganzen Thema ein wenig zu viel Bedeutung beigemessen, denn ich bin mit allem zufrieden, was fisch- und fleischlos ist. Auch Sicherheitsfragen werden geklärt. Ich versuche mich so weit wie möglich einzumischen, dass man sich keine Sorgen machen müsse und werde gleichzeitig das Gefühl eines "rohen Eies" nicht los. Anschließend gibt es Mittagessen. Die gute Labuni hat extra für mich ein besonderes Curry gekocht und ich esse den wahrscheinlich leckersten Reis, den ich in Bangladesch jemals gegessen habe. Die Reiskörner sind im Vergleich zum Festland eher klein, aber im Geschmack intensiver. Anschließend begleite ich Moyna zurück zum Boot, denn sie verlässt Patilbari wieder, im Gegensatz zu mir. Während ich Moyna noch nachwinke, fühlt sich das "rohe Ei" tatsächlich ein wenig mulmig - denn mit Moyna verlässt der letzte englisch sprechende Mensch Patilbari. Die einzigen technischen Geräte in meinem Rucksack sind mein Handy und meine Kamera. Ich laufe die Düne schnellen Schrittes hoch: Ab jetzt sechs Tage!

Etwas Weiches streift mich am Kopf. Wo bin ich? Ich blinzele ein wenig und finde mich Auge in Auge mit einem rot-braun-farbenen Huhn wieder. Eine Sekunde blicken wir uns an, das Huhn und ich, wägen ab, wer eher zurückschreckt und versuchen, die Situation einzuordnen. Schließlich setze ich mich auf und das Huhn springt vom Bett. Ein Glück! Wenn auch keine ernsthafte Bedrohung, habe ich doch ein wenig argwöhnisch den spitzen Schnabel des Huhns beäugt.

Ich schlüpfe aus dem Bett und begebe mich zu meiner morgendlichen Kurzwäsche - es ist üblich, im shalwar kameez - ein dreiteiliges Kleidungsstück bestehend aus Hose, langem Oberteil und Schal, zu schlafen und anschließend erst am Mittag in ganzer Montur zu duschen. Dann kann man seinen alten shalwar kameez auch gleich waschen - auf diesem Weg fällt im Sommer langfristig nicht so viel Wäsche an. Ich trete aus dem Haus und treffe Labuni in Begleitung mehrerer Frauen aus den Nachbardörfern an. Seit meiner Ankunft hat sich die Nachricht von einem Neuankömmling auf Patilbari rasend schnell verbreitet und schon gestern Abend kamen viele Nachbarn, um sich mit mir zu unterhalten und - das gehört in Bangladesch eben auch dazu - mich zu begutachten. Aber die Menschen sind sehr freundlich und interessiert. "Was isst man in Deutschland, welche Sachen trägt man, welchem Glauben gehört man an?" und noch viele andere Sachen werde ich gefragt. Ich unterhalte mich, während Labuni extra für mich Brot backt.

Dann geht es für mich auf zu einer Dorfschule. Ich folge Reza und betrete 20 Minuten später ein Steingebäude, vor dem sich kleine Sandalen türmen. Ein Schulgebäude aus Stein habe ich selten gesehen, die meisten sind aus Wellblech gebaut. Die Lehrerin kenne ich bereits aus einem der zahlreichen Trainings, die USS zur Weiterbildung der Lehrkräfte organisiert. Mukta und die Kinder begrüßen mich ebenfalls sehr herzlich. Ich werde gleich in den Unterricht eingebunden, in dem ich Teile der Englischstunde übernehmen soll. Zum Glück kenne ich auch das Lehrbuch aus den Trainings und so bekomme ich schnell zu den Kindern eine gute Beziehung, denn wir lachen gemeinsam über meine Übersetzung ins Bengalische. Allerdings bekomme ich so auch diverse Schwierigkeiten mit, mit denen die Lehrer täglich zu kämpfen haben. Ich habe nur eine Gruppe mit den besseren Schulkindern übernommen, trotzdem sind 15 durcheinander rufende Mädchen und Jungen nach einer Stunde ganz schön anstrengend. Und selbst das Englisch dieser Gruppe ist doch auf einem sehr einfachen Niveau. Ich bin froh, als ich den Unterricht für die anderen Fächer wieder voll an Mukta übergeben kann. Gleichzeitig bin ich trotzdem ein wenig stolz auf mich, den Kindern die englische Uhrzeit ein bisschen näher gebracht zu haben.

Mukta und ich verstehen uns gut und so verabreden wir uns für den Nachmittag auf dem Bazar. Auf Patilbari gibt es nur einen einzigen Markt, auf welchem Lebensmittel vom Festland erhältlich sind. Mukta nimmt mich auch in der restlichen Woche mit zu besonderen oder schönen Plätzen auf Patilbari. So sehen wir den Sonnenuntergang am Flussufer, laufen über grüne Reisfelder, essen Mais oder Eis, bestehend aus einem gefrorenen Wasser-Zucker-Gemisch, duschen im sprudelnden Wasser der Wasserpumpen und überqueren riesige Sandflächen. Abends kehre ich zu Rezas Familie zurück, helfe Labuni beim Kochen und erzähle ihr über meinen Tag. Sie selber kümmert sich den tagsüber um den Hof und die Tiere, kehrt, wäscht, fegt, kocht und besucht Nachbar oder redet mit Nachbarinnen die sie besuchen kommen. Tamana rennt mit den anderen Kindern, die noch zu jung für die Schule sind, über Felder, bastelt Wurfgeschosse und spielt im Sand. Labuni andere Tochter wohnt in Shagatha auf dem Festland, wo sie eine weiterführende Schule besucht. Ihre Mutter und ihren Vater sieht sie nur einmal im Monat, wenn sie an einem freien Freitag mit dem Boot nach Patilbari kommt.

In dem Feiertag, der in der Woche liegt, fahren Mukta und ich nach Shagatha zum Einkaufen. Wir nehmen das 9 Uhr Boot. Nach etwa zehn Minuten springen alle Menschen plötzlich auf eine Seite des Bootes. Ich habe Angst, dass wir kippen, aber das Objekt der Aufmerksamkeit erregt ebenfalls meine Neugier. Es ist ein Fischotter, der am Ufer einer anderen Schwemmlandinsel entlangläuft. Dann tauscht er ins Wasser ab und man sieht nur noch ab und zu zwischen den kleinen Wellen seinen Kopf heraus schauen. Die weitere Fahrt verläuft ohne spannende Vorkommnisse und gegen 10 Uhr erreichen wir das Festland. Mukta und ich erklimmen einen kleinen schlammigen Aufstieg und machen uns auf den Weg zum Bazar. Den Vormittag verbringen wir damit, Stoffgeschäfte zu besichtigen und ich entdecke auch viele andere Geschäfte, die ich vorher noch nicht kannte. Unser Mittagessen nehmen wir in einem kleinen Restaurant ein. Dann müssen wir uns auch schon wieder auf den Weg machen, denn zum Nachmittag sind wir bei einer weiteren Lehrerin auf Patilbari eingeladen. Das 14-Uhr-Boot zurück ist voller Menschen. Ich zähle grob 60 Menschen, die zwischen Baumaterialien und Lebensmitteln sitzen oder hocken. Trotzdem erreichen wir sicher die Schwemmlandinsel.

So geht meine Zeit auf Patilbari schnell vorbei. Den letzten Abend verbringe ich mit einem "Strandspaziergang" im hellen Mondlicht. Noch denke ich, das ferne Wetterleuchten ist eine Täuschung meiner Augen, doch bald zieht das Unwetter heran. Ich bin kaum bei Labuni angekommen, da fängt auch schon das Gewitter an. Mit Tamana auf dem Arm stehe ich im Hof, bis der Regen einsetzt. Innerhalb einer Minute gießt es wie in Strömen. Zusammen mit dem Wind und den zuckenden Blitzen kommt mir alles sehr gespenstisch vor. Das Wasser sammelt sich auf dem Hof - ein Glück sind die Wellblechhütten ein Stückchen höher gebaut! Unter dem Trommeln und Krachen des Regens nehmen wir unser Abendbrot ein. Zum letzten Mal gibt es für mich den leckeren Reis mit den verschieden gewürzten Gemüsesorten. Am nächsten Morgen, als ich über die schlammigen Wege zum Fluss gehe, bedauere ich bereits, dass die Zeit so schnell verflogen ist. Aber Patilbari ist für mich eine bleibende Erinnerung - von Wasser, Sand und Menschen, die jeden Tag damit zurechtkommen müssen.

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