Von Wahlen, Fahrrädern und Heuschrecken
Zusammen mit Saba und Monir, meinen Kollegen von Ain-o-Shalish-Kendro, fahre ich in den Norden nach Netrakona. Die ganze Stadt ist im Wahlkampffieber. Es gibt nur ein einziges Thema: Die kommende Bürgermeisterwahl. An jedem Laden, an der Teebude um die Ecke oder im Gespräch mit Freunden geht es um nichts anderes. Tagsüber ist es noch relativ ruhig. Ich wundere mich nur Tag für Tag aufs Neue, wo die nächtlichen Plakatiertrupps wieder überall die Poster der Kandidaten aufgehängt haben. Kein Haus und keine Palme scheint ihnen zu hoch zu sein. Dabei ähneln sich die Plakate alle. Sie zeigen das Gesicht des Kandidaten oder der Kandidatin, deren Namen und ein Symbol. In Bangladesch kann noch immer über die Hälfte der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. Daher wird jeder Person ein bestimmtes Symbol zugeordnet. Bei der Wahl machen die Leute dann hinter dem jeweiligen Symbol ihr Kreuz. Die Symbole reichen von einer Leiter und einer Blume über ein Fahrrad oder eine Kerze bis hin zu einem Elefanten, einem Wassereimer und einem Fisch.
Abends ändert sich die Stimmung in der Stadt. Nun beginnt der heiße Wahlkampf. Unzählige Rikschas fahren mit zwei großen Lautsprechern bestückt durch die Straßen. Sie verkünden die Botschaften, Programme und Namen der Kandidaten. Jeden Abend marschieren diese, begleitet von ihren Anhängern, auf unterschiedlichen Routen durch Netrakona. An der Spitze des Umzuges ist das Symbol des jeweiligen Kandidaten deutlich zu sehen. Ich sehe eine einen Meter hohe Kerze, einen riesigen Stoff-Elefanten und einen Wassereimer, der eher einer Badewanne gleicht. In Gesängen loben die Anhänger ihren Kandidaten. Sie rufen immer wieder den Namen in Verbindung mit dem Symbol, damit jeder weiß, was er zu wählen hat. Einer der witzigsten Rufe ist: "Mostafas Seele ist rein wie eine Blume." Sein Symbol ist ein Lotus. "Ha - ti. Ja - be!" ist der einprägsamste Ruf. Frei übersetzt heißt es soviel wie: "Der Elefant wird siegen!" Die Rufe und Gesänge schallen allabendlich durch Netrakona. Die Anhänger eines Kandidaten versuchen, die Symbole der anderen Kandidaten zu stehlen oder zu beschädigen. Am Vorabend der Wahl ist Netrakona in ein schwarz-weißes Meer aus Kandidatenplakaten getaucht. Der Lärm aus den krächzenden Lautsprechern der Rikschas ist fast unerträglich. Das alles geht bis tief in die Nacht hinein. Sieger der Wahl ist schließlich das Fahrrad. Oder vielmehr der Kandidat dahinter. Wahrscheinlich konnte er die meisten Rikschas für seinen Wahlkampf mobilisieren.
Eines Abends sitze ich auf der Veranda meiner Unterkunft und lese in einem Buch. Als die Abenddämmerung einsetzt, kommt ab und an eine Heuschrecke angeflogen und bleibt auf mir sitzen. Sie scheinen sich irgendwie festzusaugen. Immer wieder muss ich sie fest mit dem Finger wegschnippen, um sie los zu werden. Noch tue ich dies ohne große Beachtung. Eine Stunde später fahre ich mit einer Rikscha durch Netrakona. Die Situation hat sich urplötzlich geändert. Die Luft lebt. Ein riesiger Heuschreckenschwarm ist in Netrakona eingefallen. Unzählige Heuschrecken fliegen umher. Es müssen Millionen von ihnen sein. Immer wieder fliegen mich große Heuschrecken mit voller Wucht an. Und das tut richtig weh. Die Straßen verwandeln sich in einen Teppich aus Heuschrecken. Ich kann das Knirschen unter den Rädern der Rikschas und Reifen der Autos hören. Mit den Heuschrecken kommt auch eine Herde kleiner schwarzer Käfer. Diese Gesellen sind äußerst lichtempfindlich. Das stelle ich fest, als ich meine Zimmertüre öffne. Der Raum ist voller Insekten. Heuschrecken springen umher. Ich hebe meinen Rucksack und mindestens zwanzig schwarze Käfer rennen zum nächsten Versteck. In der Nacht liege ich lange wach. Ich hoffe, dass ich kein Loch beim Stopfen des Moskitonetzes übersehen habe. Am nächsten Morgen ist der Spuk zum Glück vorbei.