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Von der Analphabetin zur Geschäftsfrau

Die letzte Woche verbrachte ich zusammen mit drei Trainerinnen und fünfundzwanzig Bengalinnen in einer dörflichen Grundschule. Dort fand ein Workshop mit folgender Grundidee statt: wenn die Familien ausreichend Einkommen haben, können sie ihre Kinder besser vor Verschleppung und Ausbeutung beschützen, dem Schicksal von jährlich etwa zehntausend Altersgenossen. Durch den Aufbau eines (Kleinst-)Geschäftes sollen die Eltern der Arbeitslosigkeit entgehen. Die Entwicklungsorganisation "Tarango" führt im Moment zwölf dieser Geschäftstrainings im Rahmen eines Projekts gegen Kinderhandel durch.

Ich lernte eifrig mit, über betriebswirtschaftliche Grundbegriffe, die Schritte von der Idee zu Verwirklichung eines Kleinstunternehmens und Probleme, die sich speziell für arme Frauen in Bangladesch dabei ergeben. Dass ich trotz meiner mangelhaften Bengalisch-Kentnisse beinahe alles verstand, verdanke ich der einfachen Sprache der Trainer und besonders den vielen Bildern, mit denen alles Gesagte zusätzlich visualisiert wurde, um den Teilnehmerinnen, die meist nicht lesen und schreiben können, eine Orientierung zu bieten.

Zusammen mit den Frauen in dem Backsteinraum ohne Fenster - leider auch Ventilator - zu sitzen und der mit ganzen Gruppe Mittag zu essen, bleibt euch leider ebenso versagt wie Gespräche mit den Frauen und das direkte Wahrnehmen der Veränderung in der Gruppe. Doch ich lade ein, ein bisschen in meinen Eindrücken und Beobachtungen zu stöbern, obgleich ich bestimmt nicht annähernd die Gastfreundschaft und Offenheit der Menschen erreichen werde:

Der Workshop beginnt mit einer Vorstellungsrunde, bei der jede Frau, das immer weitergeworfene Wollknäuel fangend, ihren Namen, den ihres ältesten Kindes und ihre Geschäftsidee mitteilt. Nähstuben, Gemüsestände oder kleine Restaurants werden häufig genannt.

Da man sich die Namen von vielen Personen nur schwer so schnell merken kann, bekommen alle ein Namensschild. Die meisten Teilnehmerinnen können wie gesagt nicht lesen und schreiben, weshalb auf den Schildern leicht zu erkennende Symbole abgebildet sind: ein Baum, ein Fisch, eine Brille, etc.

Jetzt werden noch Formalien wie Dauer des Trainings, Zeiten für Pausen und Mittagessen sowie kleine Geldstrafen für Verspätungen geregelt. Drei Frauen werden ausgewählt, die bei Problemen anzusprechen sind. Die Trainer betonen noch einmal, dass man beim Training, wie bei der Medizineinnahme, nicht einfach einen Tag auslassen kann, sondern nur geheilt werden kann, also versteht, wenn man die ganze Zeit da ist.

Nun äußert erst einmal jeder Wünsche und Erwartungen an das Training: von sehr allgemeinen Äußerungen wie "aus der Armut kommen" oder "ein Geschäft führen können" bis zu "ein Kredit bekommen" oder "nähen lernen" reicht die Palette. Offensichtlich sind sich die Frauen noch nicht im Klaren über das, was sie erwartet.

Endlich kommt es zum Business: anhand von fünf Bildern werden Voraussetzungen und Schritte zum erfolgreichen Geschäftsstart erklärt. Diese stellen gleichzeitig auch den Ablauf des Trainings dar. Die nächste Übung soll den Teilnehmerinnen die Wichtigkeit von sowohl Quantität als auch Qualität vor Augen führen. Auch müssen die Frauen planen und Risiken eingehen, wenn sie für einen imaginären Abnehmer Halsbänder mit einer bestimmten Perlenanordnung anfertigen. Sie sind gezwungen, das Rohmaterial zu kaufen und später nur qualitativ hochwertige Stücke zu verkaufen. Dabei bleibt nur wenig Zeit zum Knüpfen. Tatsächlich stellt sich bei der Auswertung heraus, dass nur zwei Gewinn gemacht haben, viele sogar Verlust. In einer kurzen Diskussion werden die Gründe dafür in Bildern zusammengefasst.

An imaginäre Hühnchen und den heutigen, sechsten Tag pirschen wir uns im "Aufwecker" erst vorsichtig heran. Wir übertragen die Ausgabenberechnungen für einen Monat auf alle zwölf. Dazu werden für jeden Monat die gleichen Kategorien benutzt, aber einmalige Kosten fallen schon im zweiten Monat weg. Nebenbei lernen die Frauen noch Zahlen zu schreiben, indem sie zunächst die Formen nachzeichnen und dann in Tabellen eintragen. Um Grundlegende Rechenkünste zu erwerben und im Umgang mit Geld sicherer zu werden, zählt jede Teilnehmerin einige Bündel Spielgeld.

Jetzt, wo sie fertige und anhand von Bildern nachvollziehbare Planungen der Einnahmen und Ausgaben aufgestellt haben, werden diese im letzten Schritt in einer Tabelle gegenübergestellt und der zu erwartende Gewinn/Verlust berechnet. Die Trainer füllen für jedes Geschäft und jeden Monat eine Buchführungstabelle aus. Die Frauen merken selbst, dass dies jedoch nur Richtwerte sind und werden auch von den Trainern darauf hingewiesen, dass sie für unvorhergesehene Fälle immer etwas sparen sollten. Jetzt können sie Entwicklungen ganz konkret nachvollziehen, wenn sie z.B. die Nähmaschine, deren Anschaffung im ersten Monat noch zu Verlust führte, schon nach drei Monaten "wieder raus" haben.

Nachdem die finanziellen Planungen ja gestern abgeschlossen waren, geht es am letzten Tag noch um die konkreten Arbeitsplanungen für die zunächst folgenden drei Monaten. Die Frauen zählen noch mal auf, was sie alles machen wollen, ein zunächst undurchsichtiges Gewirr der verschiedensten Aufgaben. Die Trainer führen nun zu einer Anordnung in einzelne Schritte und fragen, was am Anfang und was erst später wichtig wäre. Somit werden die Aufgaben wie Geld und Marktplatz organisieren oder mit wichtigen Leuten, wie Lokalpolitiker oder religiöse Führer reden, chronologisch aufgeschrieben und die dafür benötigte Zeit erfragt. Wie ja auch ihre Kinder langsam, Stückchen um Stückchen wachsen, sollen die Frauen auch ihr Geschäft schrittweise aufbauen und vergrößern. Das Planen langfristiger Aufgaben ist auch nicht grundsätzlich verschieden von dem, was sie sich schon immer überlegt haben, wenn sie beispielsweise Einkaufen gingen.

Als alle mit ihrem Plan ausgestattet sind, beginnen die Besuche von Gastreferenten, wie etwa ein Tierarzt. Der berichtet detailliert über die verschiedenen Impfstoffe, -techniken und -zeitpunkte bei Hühnern, Ziegen und Kühen und erklärt, wo diese Stoffe erhältlich sind. Er gibt einen kleinen Überblick über Krankheitsanzeichen, was verfüttert werden sollte und in welchem Alter die Tiere zu schonen sind. Außerdem bietet er seine Hilfe und Konsultation bei zukünftigen Problemen an.

Der wichtigste Bezugspunkt in Krisen ist für die Frauen natürlich ihre Familie; ohne die Unterstützung - vor allem der männlichen Mitglieder - wäre ein Geschäftsaufbau für sie nur schwer möglich. Deshalb wurden von jeder Frau der Ehemann, Bruder, Vater oder der älteste Sohn eingeladen. Ihnen wird noch einmal ein Überblick über das Training gegeben, dessen Ziele erklärt und die Notwendigkeit sowie mögliche Wege der Hilfe gezeigt.

Ich versuchte, das Training aus der Perspektive der Teilnehmerinnen aufzunehmen und zu dokumentieren, lauschte also irgendwo zwischen den Frauen, beobachtete und machte Notizen und Fotos. Ab und zu half ich bei der Vorbereitung der Materialien. Wichtiger waren jedoch die kleinen Gespräche in den Pausen und, ich denke auch für die Frauen, die Zeit, die ich bei Hausbesuchen verbrachte. Eigentlich wollte ich dabei ausführliche Daten zur momentanen ökonomischen Situation der Familien sammeln, um bei einem weiteren Treffen in drei Monaten eine mögliche Veränderung auswerten zu können. Allerdings kam keiner meiner Fragebögen je zum Einsatz, da ich die meisten Nachfragen zu Geschäft, Besitzverhältnissen oder Infrastrukturzugang auf dem Weg zu den Häusern stellen musste. Sobald wir dort angekommen waren, war natürlich ich derjenige, der mit seinen Antworten die Neugierde der Menschen zu stillen hatte. Auch wegen meines Widerstrebens, diesen informellen Austausch abzubrechen und die mich großartig aufnehmenden und köstlich bewirtenden Gastgeber mit steifen, vielleicht unangenehmen Fragen zu konfrontieren, gab ich mich mit meinen Beobachtungen zufrieden und ließ mir lieber die geplanten Geschäfte ausführlich zeigen und erklären.

Ich bin sicher, dass die Frauen sich durch das Training neuer Konzepte wie Planung, Buchführung oder ihrer Situation und Fähigkeiten überhaupt erst bewusst werden. Viele werden wahrscheinlich auch erfolgreich ein Geschäft eröffnen. Trotzdem glaube ich, dass die einfachen Frauen mit einigen Teilen des Trainings wenig anfangen konnten. Eine Beobachtung war, dass bei der Berechnung des erwarteten Gewinns in manchen Fällen unrealistisch hohe Summen herauskommen. Weckt man damit nicht unnötige Hoffnungen? Wie reagieren die Teilnehmerinnen, wenn sie enttäuscht werden? Viele kritische Überlegungen. Vielleicht liege ich falsch. Wahrscheinlich sind die Tabellen und Rechnungen als Übung doch sinnvoll, als Beispiel.

Doch sie lernten viel. Das für mich wichtigste war, dass den Frauen die Freiheit gegeben wurde, selbständig Neues zu erarbeiten. Sie waren der Mittelpunkt des Trainings und erkannten dort ihre Stärken, zeigten diese sogar. Ich musste mir oft ins Gedächtnis rufen, dass die Frauen wahrscheinlich seit der Kindheit nicht mehr so ungezwungen waren. Umso mehr überraschte mich doch die Entwicklung der Gruppe immer wieder aufs Neue.

Dieselben Frauen, die sich vorher nicht einmal trauten Entscheidungen zu treffen, wenn sie dazu aufgefordert wurden, fangen nun an, aktiv zu widersprechen. Die Strafen für Zuspätkommen sind ihnen viel zu hoch, sie verhandeln hartnäckig - mit Erfolg. Es bilden sich Grüppchen, die Frauen reden untereinander immer lebhafter, müssen sogar zur Ruhe ermahnt werden. Als bei den Übungen der Geschäftsinstinkt erwacht, werden die im Eifer des Gefechts vom Kopf gerutschten Saris nicht mehr zurechtgerückt, die Haare bleiben sichtbar. Auch die Trainer werden immer spontaner und kecker angesprochen, der Sicherheitsabstand zu mir vermindert sich. Über sich wollten sie am Anfang möglichst wenig preisgeben, jetzt beginnen die Frauen immer offener von sich und ihren Problemen zu erzählen, untermalen ihre Äußerungen dabei mit lebhafter Gestik. Besonders gefreut habe ich mich, als mir, als Außenstehender, "Geheimnisse" anvertraut wurden, die die Teilnehmerinnen untereinander nicht preisgeben wollten. Firoja, ich glaube die jüngste in der Gruppe, erzählte mir, dass sie ein neunjähriges Kind hätte. Ich war zwar etwas verwundert, doch eine Schwangerschaft mit elf ist leider nicht so ungewöhnlich. Später meinte sie allerdings, dass in Wahrheit sie und ihr Mann nur das Kind der verstorbenen Schwägerin aufziehen; ein heikles Thema, da offiziell alle Teilnehmerinnen Mütter sind.

Solch starke Verbindungen haben sich aufgebaut, dass die meisten beim Abschied Tränen in den Augen haben. Sie gehen auseinander, als würden sie ihre besten Freunde verlassen. Mich bitten sie, obgleich ich Christ bin, für sie zu beten und verlangen geradezu, dass ich wiederkomme. Wie gerne ich das würde, denke ich, die offenen Blicke erwidernd, die mir die Frauen zuwerfen.

Und hoffe inständig, dass ihre Kraft ausreichen wird, um so aufrecht weiterzugehen, wie sie gemeinsam die Schule verlassen...

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