Tarantel im Neonlicht
Heute ist der 21. Oktober. Obwohl ich gestern erst sehr spät abends aus Dhaka angereist und noch ziemlich müde von der 8-stündigen Fahrt bin, frage ich meinen Kollegen, ob er nach der Arbeit Zeit hat, mir einige Orte in Rangpur zu zeigen, an denen Durgapuja gefeiert wird. Obwohl Bangladesch hauptsächlich vom Islam geprägt ist, gehören circa 10 Prozent der Bevölkerung dem Hinduismus an. Einmal im Jahr wird ein mehrtätiges Fest zu Ehren der Göttin Durga gefeiert. Am 24. Oktober ist der Höhepunkt des diesjährigen Durgapuja – ein offizieller Feiertag für alle Bürger Bangladeschs.
Der Mythos besagt, die Göttin Durga habe einen riesigen Büffeldämonen mitsamt seiner Armee im Kampf geschlagen und sei in unglaublicher Schönheit, Stärke und Anmut in Erscheinung getreten. Mehrere Tage werden die Abbildungen der Göttin Durga angebetet und verehrt, bis sie am letzten Tag verabschiedet wird. In großen Umzügen werden die Statuen zum nächstgelegenen Fluss, See oder Teich geleitet und dabei mit Musik, Tanz und Gesang bejubelt. Unter feierlicher Stimmung werden die Statuen schließlich ins Wasser geworfen und die Göttin Durga entlassen, bis sie im nächsten Jahr wieder erwartet und ihre Ankunft gefeiert wird.
Mein Kollege Shamim und ich setzen uns also nach Feierabend auf das Motorrad und fahren durch die ganze Stadt. Anlässlich dieses Festes sind nahezu alle Straßen bunt geschmückt. Blinkende Lichterketten und farbenprächtige Verzierungen lassen sie in neuem Glanz erstrahlen. An vielen Stellen sind ganze Bühnen und Zelte mit Statuen der Goettin Durga und der Legende um sie aufgebaut. Animiert wird das Ganze durch alles, was die Technik so bietet: Laute Musik mit viel Bass und blinkende Scheinwerfer setzen das Abbild der Goettin in Szene. Vieles hier erinnert mich zunächst eher an einen Diskobesuch. An einigen Schreinen finden sich Opfergaben fuer die Goettin, beispielsweise Getreide, Butter, Honig, Früchte, Joghurt, Wasser oder Milch. Die ganze Stadt verwandelt sich in eine schillernde Feier – eine Reizueberflutung an Lauten und Farben.
Wie im Marathon fahren wir von einem Durgaschrein zum naechsten; ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinsehen soll. Im Vorbeifahren verschwimmen die Lichter vor meinen Augen, verschiedene Melodien aus unterschiedlichsten Richtungen vermischen sich. Obwohl es mir unendlich unangenehm ist, hupt mein Kollege immer wieder, wenn wir den naechsten Altar erreichen, damit die Menschenmassen uns Durchfahrt gewähren. Als Ausländerin falle ich selbst im Dunkeln sofort auf. Und so stelle ich mich Neugierigen vor und stehle der Goettin immer wieder zumindest fuer einen Augenblick ungewollt die Schau: Viele drehen sich nach mir um, fragen nach meiner Herkunft und meinem Namen.
An jedem Zelt spielt sich nahezu das gleiche Szenario ab.
An einer der Bühnen ist die Stimmung ganz anders. Niemand bemerkt, dass eine Ausländerin eingetroffen ist – sie konzentrieren sich ganz auf das Ritual, das sich vorne abspielt. Anstatt dröhnender, basslastiger Tanzmusik spielt ein Mann eine rythmische Abfolge von Schlägen auf einer großen, bunt verzierten Trommel. Dabei hat er seine Augen geschlossen, als würde er die Klänge fühlen. Sie schallen durch die Dunkelheit. Auf der Bühne steht ein Brahmane, ein hinduistischer Geistlicher, der in ein orangerotes Gewand gehuellt ist. Ich werde Zeuge einer regliösen, andächtigen Zeremonie. Ich sehe nur den Rücken des Mannes, da er sich voll und ganz der Göttin Durga zuwendet. Er singt mit geschlossenen Augen und schwenkt eine Schale, aus der duftender Rauch aufsteigt. Immer und immer tanzt er sich im selben Takt dieselbe Abfolge von Bewegungen. Ich bin fasziniert und schaue mir die Szene eine Weile lang an. Schließlich kniet er vor der Statue nieder und berührt mit seinem Haupt den Boden. Alles um uns herum ist ganz still geworden, die Rauchschwaden ziehen durch die Luft. Eine Frau lädt mich flüsternd dazu ein, gemeinsam mit ihnen zu beten. Dass ich gar kein Hindu, sondern Christin bin, spielt keine Rolle. Die Menschen senken ihre Köpfe und verneigen sich.
Der Brahmane hat sein Gebet beendet, verneigt sich noch einmal zu Ehren der Göttin und verlässt die Bühne. Als er sich umdreht, bin ich ganz erstaunt: Einen so jungen Mann hätte ich nicht erwartet. Er begrüsst mich mit dem hinduistischen Gruss „nomoshkar“ (was so viel bedeutet wie „Ich verneige mich vor deiner Seele“) und untermalt dies mit einer Verneigung. Die Trommelschläge klingeln langsam aus und das Stimmengewirr im Publikum erhebt sich wieder. Laute Diskomusik wird eingeschaltet. Ich bin erstaunt, als ich feststelle, dass ich das Lied sogar kenne. Ich summe mit: „…the DJ got us falling in love again…“. Einige Maedchen im geschaetzten Alter von 15 Jahren sprechen mich an und sagen mir, dass diese Musik speziell für mich sei. Sie fragen mich, ob ich bereit sei, mit ihnen zu tanzen.
Sie erklären mir die Bedeutung von „Aruti“, einem froehlichen, ausgelassenen Tanz, der nur der Goettin gewidmet ist. Ich willige zunaechst zögernd ein und wir beginnen gemeinsam unmittelbar vor der Bühne zu tanzen. Beiderseits zunächst etwas schüchtern. Sehr schnell wird die Stimmung jedoch ausgelassen, alle Umstehenden klatschen und singen mit und feuern unseren Tanz an. Jung und Alt machen mit: Jugendliche, alte Frauen, kleine Kinder; alle sind mittendrin! Christen, Hindus und Muslime tanzen gemeinsam. Es ist ganz egal, welcher Religion oder Gruppe sie angehören. Ich vergesse alles um mich herum und geniesse den Moment. Ich werfe meine FlipFlops zum Amüsement aller in die Ecke und tanze barfuss auf dem feuchten, kühlen Lehmboden. Sogar der Brahmane tanzt nun mit, stets der Göttin Durga mit leidenschaftlich geschlossenen Augen zugewandt. Ich fühle mich wie in einer Tanzszene im Bollywoodfilm und versuche es den Tänzern wie Sharukh Khan gleichzutun. Belustigt steht mein Kollege am Rand und schießt einige Fotos. Als ich ihn jedoch auch zum Tanzen auffordere, weigert er sich vehement.
Nach einigen Liedern bin ich komplett durchgeschwitzt. Ich sage, dass ich nun nach Hause gehen müsse. Sofort bekomme ich einen Stuhl, ein Glas Wasser und einige Suessigkeiten auf einem Bananenblatt gereicht. Nachdem ich mich noch ein wenig mit den Tänzerinnen und Tänzern unterhalten und die Leckereien genossen habe, verspreche ich, am nächsten Tag wiederzukommen und erneut mit ihnen zu tanzen. Mein Kollege und ich fahren weiter, um die nächste Durgapujabühne zu besuchen. Dort angekommen werde ich zu meinem Erstaunen als die „tanzende Ausländerin“ begrüßt. Via „Stille Post“ weiß die ganze Stadt, dass ich unterwegs bin...
Auf dem Motorrad sitzend bin ich immer noch ganz benebelt von dem duftenden Rauch, den Süßigkeiten, den Rhythmen und der zauberhaften Atmosphäre. Ganz verträumt genieße ich den Anblick der Stadt. Moderne trifft auf Tradition. Hiduismus auf Islam. Und alles scheint im Einklang miteinander. Im Dunkeln schlängeln sich die Rikschas im Schein einiger Öllampen anneinander vorbei, während hier und da laute Musik aus den Hinterhoefen ertönt. Viele Menschen sind unterwegs: Obwohl man in Bangladesch häufig nach Anbruch der Dunkelheit nur noch wenige Frauen auf offener Straße trifft, schlendern heute Auffallend viele Frauen mit einem rot gefärbten Scheitel und einem aufgemalten roten Punkt auf der Stirn (Zeichen für die Zugehörigkeit zum Hinduismus) in wunderschön glitzernden Saris über die Straßen und besuchen verschiedene Durgapujastatuen. Spielzeugverkäufer und Süßwarenhändler versuchen ihr Glück vor den grossen Bühnen und Zelten. Polizisten versuchen, den chaotischen Verkehr zu bändigen und scheitern an vielen Stellen. Es werden frisch aufgebrühter Ingwertee und süße Leckereien genossen. Geschenke werden verteilt, Menschen versammeln sich. Es ist ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis. Jetzt, im Dunkeln, erscheint Rangpur wunderschön. All die Klänge, die Menschen, die Gerüche verbinden sich gemeinsam zu einer einmaligen Kulisse. Die abendliche Festtagsstimmung übertönt das Bild der Müllberge am Straßenrand, des Staubes und des Stadtchaos. Die Dunkelheit verdeckt die unschönen Seiten Rangpurs, während die Aufmerksamkeit voll und ganz auf die spirituelle Mystik um Durgapuja gelenkt wird.
Ich bin, im Fahrtwind des Motorrades, ganz verträumt und in Gedanken, als ich merke, dass meine Füße kribbeln. Zunaechst glaube ich, es komme vom ausgelassenen Tanzen und schenke dem keine besondere Beachtung. Merkwürdigerweise zieht das Kribbeln mein rechtes Bein hoch... Ich werfe einen Blick nach unten, kann jedoch erstmal nichts erkennen. Als wir an einem weiteren Knotenpunkt der Durgapujafeierlichkeiten vorbeifahren und die Neonröhren bunte, blinkende und flackernde Lichter auf die Straßen werfen, kann ich endlich erkennen, worum es sich bei dem Kribbeln handelt: Eine handgroße, dunkle, haarige Tarantel krabbelt mein Bein hoch! Ich erschrecke mich so sehr, dass ich mit einem kräftigen Ruck versuche, die Spinne abzuwerfen. Das ganze Motorrad wankt jedoch daraufhin bei voller Fahrt und mein Kollege muss mit Mühe versuchen, nicht in die nächste Rikscha zu krachen. Als wir unseren Schock über die riesige Tarantel und den beinahe-Unfall überwunden haben, muss ich lachen. Ich bin gedanklich so sehr in die heitere Stimmung von Durgapuja eingetaucht, dass ich unseren ungebetenen Passagier nicht bemerkt habe...
Selbst als ich schon längst zu Hause im Bett liege, höre ich das Trommeln, Jubeln, Hupen und Rufen der feiernden Masse noch bis spät in die Nacht.