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Tanz mit Stöcken

Zwei Tage lang veranstaltet meine Organisation Udayan Swabolombee Sangstha ein großes Fest, eine so genannte mela. Mehrere Ärzte, unter anderem ein Gynäkologe, ein Urologe und ein Kinderarzt, drei Parlamentsmitglieder und vier Juristen nehmen daran teil. Sie alle sind da, um bedürftigen Menschen, die sich einen Arztbesuch nicht leisten können oder keinen Zugang zu Rechtshilfe haben, zu unterstützen. Am Rande des Festgeländes stehen zahlreiche Informationsstände, eine Losbude und ein Essenstand. Es herrscht Jahrmarktsstimmung. Jeder ist gut drauf, quatscht und freut sich über die tolle Stimmung.

Als die Dämmerung einsetzt werde ich auf eine ringförmig versammelte Menschenmenge aufmerksam, die sich auf einem freien, wohlgeformten Platz versammelt hat. In der Mitte stehen zwei leicht bekleidete Männer. Es liegt der Geruch von frisch gemähtem Gras und brennendem Holz in der Luft. Wie in Trance laufen die beiden Männer in dem Kreis auf und ab, beäugen, mustern sich gegenseitig. Plötzlich beugt sich einer der Männer pfeilschnell herab, schnappt sich einen hölzernen sperrartigen Bambusstab und fängt an ihn über seinen Kopf kreisen zu lassen, so schnell, dass man schon bald nicht mehr erkennen kann, an welcher Stelle sein muskulöser, glänzender Arm aufhört und wo der Stock beginnt. Er beginnt einen athletischen Tanz aufzuführen, wobei der Stab um seinen Kopf, seitlich oder um seine Füße herumschwirrt, so schnell das man nur noch Schemen erkennen kann. Genauso schnell wie der erste, schnappt sich nun auch der zweite Mann einen Stab und beginnt seinen eigenen dynamischen Tanz. Anfangs schwingen beide noch in einigem Abstand zu einander, doch langsam bewegen sie sich aufeinander zu, und geraten in die Schlagdistanz des anderen. Die Stäbe ähneln jetzt mehr Schwertern als einem einfachen Bambusstock. Immer wieder schnellen sie blitzartig auf den anderen zu. Die Anspannung der Zuschauer ist förmlich spürbar, eine falsche Bewegung, eine Sekunde der Unaufmerksamkeit und schon könnte einer verletzt sein. Doch je näher sich die beiden kommen, desto mehr verschmelzen ihre Körper zu einem großen Ganzen. Ihre Bewegungen ähneln immer mehr den Wogen des Meeres, ein ständiges auf und ab, sie werden langsamer um im nächsten Moment die Geschwindigkeit wieder zu vervielfachen. Es ist mucksmäuschenstill, keiner wagt es auch nur ein Wort von sich zu geben, selbst die anfänglichen Ahs und Ohs sind verstummt.

PENG! Ein Zucken, geht durch die Menge. Haben sie sich getroffen? Ist einer der beiden verletzt? Nein, es waren nur die Stöcke, die mit unermesslicher Wucht aufeinander getroffen sind, um sich danach sofort wieder zu trennen und weiter zu kreisen. Absicht oder Zufall? Als wäre nicht geschehen setzen die beiden ihren Tanz fort. Das knallen wiederholt sich ein paar Mal, gefolgt von einem allgemeinen Zucken und dann, ganz plötzlich, völlig ohne Vorwarnung, ist das Spektakel vorbei.

Völlig fassungslos steh ich da und versuche das soeben gesehene irgendwie zu begreifen. Benommen dreh ich meinen Kopf zur Seite und sehe in ebenso verwirrte Gesichter wie mein eigenes. Ein seltsames Rütteln an meiner rechten Hand bringt mich zurück in die Realität, ein kleiner Junge will wissen ob mir die Vorstellung gefallen hat.

Später erfahr ich von einem Kollegen, dass diese Art von Spiel, das man im bengalischen lati khela also „Stockspiel“ nennt, jede Menge Risiko birgt, und dass jahrelange Übung, Ausdauer, außerordentliche Kraft und spezielle Fähigkeiten von Nöten sind, um so etwas darstellen zu können. Die zwei Männer müssen sich kompromisslos Vertrauen und sich vollkommen auf den anderen einlassen. Entstanden ist dieses kampfähnliche Spiel vor mehreren Hundert Jahren und diente den damaligen Kriegern als Trainings- und Übungsmethode. Im Idealfall lief es so ab wie heute, ohne blaue Flecken und Blessuren, doch oft endet solch eine Übung auch mit Verletzungen. Nur wenige Menschen sind heutzutage noch in der Lage, ein solches Schauspiel aufzuführen, daher ist es ein Privileg Zeugin eines solchen Spektakels zu sein.

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