Starke Frauen
Es ist Dienstag, der 9. Oktober 2012. Die Temperaturen hier in Bangladesch kühlen langsam ab; in der letzten Nacht habe ich sogar gefroren. Als ich morgens meine Wohnung verlasse und zum Büro gehe, regnet es in Strömen. Nebenstehende Seen und Tümpel sind anscheinend auch über Nacht schon vollgelaufen und überfluten die kleine asphaltierte Straße. Ich muss ein bisschen klettern, um nicht mit meinen FlipFlops in den Matsch zu treten. Als ich im Büro angekommen bin, warte ich ungeduldig auf meinen Kollegen Monayem. Heute ist ein besonderer Tag für mich: Obwohl ich im Bildungsteam arbeite, begleite ich ihn heute bei seiner Fahrt aufs Land, um einen Einblick in das Projekt „Ein Leben lang genug Reis“ zu bekommen. Dieses ermöglicht extrem armen Menschen in abgelegenen Regionen ihr eigenes Einkommen mithilfe von Geflügel, Rindern, Ziegen oder Gemüsegärten zu erwirtschaften. Dadurch sollen sie langfristig einen Weg aus der Armut finden und in Zukunft ihr Leben lang genug Reis zur Verfügung haben, anstatt zu hungern.
Als wir losfahren, regnet es immer noch. Der Himmel ist grau und bewölkt und starker Wind zieht über die Felder. Die grellgrünen Halme der Reisfelder beugen sich dieser Naturgewalt.
Obwohl ich schon oft mit meinen Kollegen auf dem Motorrad mitgefahren bin, ist es heute anders: Nicht nur Schlaglöcher und auf der Straße schlafende Ziegen, sondern auch matschige Pfützen müssen heute umfahren werden. Außerdem wird am Ende dieses Monats das muslimische Opferfest gefeiert, weswegen die Viehmärkte auf Hochtouren laufen. Ganze Karawanen von Kühen, Schafen und Ziegen passieren die Straßen. Im Zickzack fahren wir Richtung Pirgachha, einem Bezirk im Distrikt Rangpur, in dem ich noch nie gewesen bin. Normalerweise empfinde ich den peitschenden Fahrtwind auf dem Motorrad als angenehm, heute friere ich. Mit klammen Fingern versuche ich, mich an den rutschigen, nassen Stangen des Motorrads festzuhalten, während sich das Bild der Umgebung mit jedem Kilometer, den wir fahren, ändert. Wir passieren immer weniger Lädchen, Buden und Menschen. Stattdessen wird es noch grüner! Mehr Bäume, Palmen, weite Reisfelder, Seen und verwinkelte kleine Wege, die nicht befahrbar sind, dominieren das Bild. Nur noch vereinzelt überholen wir andere motorisierte Fahrzeuge. Die Menschen, an denen wir vorbeifahren, drehen sich nach uns um. Hier in diese Gegend verirren sich nur selten Ausländer, erklärt mir mein Kollege.
Ich habe aufgehört mitzuzählen, wie oft wir abgebogen sind. Aber schließlich, nach einer rund einstündigen Fahrt, haben wir das Dorf erreicht, in dem das Treffen der Frauengruppe stattfinden soll. Es ist wunderschön hier. Die Häuser der Dorfbewohner stehen dicht an dicht, eine familiäre Atmosphäre breitet sich sofort aus. So stellt man sich Idylle vor: grüne Pflanzen, absolute Stille fernab von Straßenlärm und Natur, soweit das Auge reicht. Dass es jedoch gerade hier auch große Probleme gibt, mag man zunächst kaum glauben.
Als wir eintreffen, warten bereits alle auf uns. Ich stelle mich auf Bengalisch vor und sorge dadurch für amüsiertes Schmunzeln im ganzen Dorf. Mit den Frauen in einem Kreis sitzend, fragt mein Kollege sie zunächst nach ihrer aktuellen Situation. Sie berichten davon, wie viele Hühner, Enten, Ziegen oder Kühe sie momentan haben und wie sie ihr Einkommen einschätzen. Die Frauen sehen anfänglich nur manchmal schüchtern zu mir herüber und bedecken ihre Häupter und Münder mit ihrem Schal. Einige der Frauen sind sehr jung und halten Kleinkinder im Arm, andere scheinen viel älter zu sein. Nacheinander stellen sie sich vor und erklären ihre Erfolge oder Probleme. Hin und wieder verstehe ich sogar etwas.
Dann ist eine Frau an der Reihe, die sehr alt scheint. Ich kenne ihr Alter nicht, jedoch durchziehen tiefe Falten ihr Gesicht. Ihre Haut ist dunkler als die der anderen Frauen. Vielleicht weil sie viel und hart draußen gearbeitet hat? Ich weiß es nicht. Ihre Handgelenke sind sehr dünn. Als sie aufsteht, scheint sie sehr schwach zu sein. Ihre Augen sind ganz glasig, als sie beginnt zu sprechen… In diesem Moment verstehe ich nicht, was sie sagt. Erst später erfahre ich, dass sie erklärt, ihr Sohn und ihr Schwiegersohn hätten ihre einzige Einkommensquelle, ihre Kuh, ohne ihr Einverständnis verkauft und das Geld unter sich aufgeteilt, ohne es mit ihr zu teilen. Jetzt habe sie nichts mehr. Sie weint. Tränen laufen ihr über ihr trauriges Gesicht. Sofort wird sie von den anderen Frauen getröstet und in den Arm genommen.
Obwohl ich in diesem Moment gar nicht weiß, was die Frau sagt, berühren mich ihre Traurigkeit und ihr Kummer so sehr, dass mir selbst die Tränen in die Augen steigen. Als die anderen Frauen dies bemerken, scheinen sie überrascht zu sein. Zunächst flüstern sie etwas über mich. Noch bevor ich es geschafft habe, mir die Tränen wegzuwischen, nehmen sie mich in ihre Mitte und trösten auch mich. Ich bin nicht mehr länger eine Fremde. Jetzt bin ich jemand, der mitfühlt, der Anteil nimmt und der von Mensch zu Mensch mit ihnen kommuniziert.
Der Frau wird versprochen, innerhalb der nächsten zwei bis drei Tage eine Lösung für ihr Problem zu finden. So lange bekommt sie Unterstützung von den anderen Gruppenmitgliedern. Die Stimmung heitert sich wieder auf. Und auch die Wolken ziehen ab. Die Sonne scheint, erwärmt die Luft und trocknet alles – auch die Tränen.
Bevor wir losziehen, um uns die Häuser der Frauen anzusehen, sitzen wir noch zusammen im Kreis, machen gemeinsame Fotos und singen abwechselnd. Um uns herum hat sich in dieser Zeit schon das ganze Dorf versammelt und alle sehen gespannt zu. Meine Ohrringe scheinen sie besonders zu interessieren. Da sie sehr groß sind, fragen sich die Frauen, ob sie schwer sind. Nacheinander möchten sie sie alle einmal anfassen und fühlen. Das Interesse, das sie an mir haben, habe ich auch an ihnen. Ich sage einer der Frauen, dass sie sehr hübsch ist. Schüchtern lächelt sie, zieht sich den Schal über den Mund und sieht nach unten.
Als wir durch das Dorf laufen, zeigen die Frauen stolz ihre Habseligkeiten: ihre Hühner, Enten, Kühe oder Ziegen. Auch ihren Papaya-, Limetten- oder Guavenbaum stellen sie stolz zur Schau. Sie sind stolz, selbstständig ihre Lebenssituation verbessern zu können und posieren damit vor meiner Kamera. Anschließend kichern sie, als sie das Foto auf dem Kameradisplay sehen. Sie nehmen mich an die Hand, haken sich in meinen Arm ein und führen mich durch das Dorf.
Ich bin stolz, endlich mit eigenen Augen zu sehen, wie das Projekt „Ein Leben lang genug Reis“ funktioniert und dass es konkrete Erfolge gibt. Endlich begreife ich selbst, was es für die Frauen und ihre Familien heißt, teilzunehmen und wie notwendig diese Unterstützung ist. Durch den persönlichen Kontakt ist es für mich nicht mehr länger ein Projekt, es ist Herzenssache.
Als wir schließlich zu unserem Motorrad zurückgehen, löst sich mein Haar aus seinem Zopf. Durch den heftigen Fahrtwind ist es etwas zerzaust. Sofort beginnen die Frauen mein Haar zu kämmen und darin herumzufrisieren. Ich muss lachen, weil es kitzelt. Sie probieren einige Frisuren aus, bis sie zufrieden sind. „Khub shundor, apa!“, sagen sie – „Sehr schön, Schwester“.
Zum Abschied bedanke ich mich. Ich würde gerne sagen, dass ich unendlich dankbar dafür bin, dass sie mir einen Einblick in ihr Leben ermöglichten und mich ohne Wenn und Aber in ihre Mitte nahmen. Da mein Bengalisch dafür jedoch noch nicht ausreicht, nicke ich ihnen freundlich zu und versuche, all dies mit meinem Blick auszudrücken. Als wir losfahren und ich ihnen zuwinke, glaube ich, dass sie verstanden haben, was ich sagen wollte.