Schulkind-Leben
Nilphamari ist ein im Nordwesten gelegener Distrikt Bangladeschs. Von hier aus kann man an sonnigen Tagen den Himalaya sehen. Und auch wenn man ihn nicht immer sehen kann, ist seine Anwesenheit spürbar. Im Winter wird es eisig kalt. Am Morgen, bevor die orange-glühende Sonne die plane Landschaft in Wärme hüllt und den Nebel vertreibt, trauen sich nur wenige Menschen auf die Straße. Sie sind eingehüllt in Decken, dicke Pullis und haben sich Schals um den Kopf gewickelt. Nur an den Teestuben brennen kleine Feuer, die das Teewasser in der Kälte wunderschön dampfen lassen. Allein der Anblick kann einem etwas Wärme schenken. NETZ unterstützt in Nilphamari vier Grundschulen, die mit anderen sieben Schulen im Land nach dem gleichen Konzept aufgebaut sind und vor über einem Jahr ihren Schulbetrieb aufgenommen haben. An einem Straßenrand, unauffällig, zwischen Gestrüpp, steht ein eineinhalbjähriges Saithan-Bäumchen. Es markiert genau den Ort, von dem aus alle vier Schulen gleich weit entfernt liegen.
Das Grundstück für die Schulen wird meist von einem Dorfbewohner bereitgestellt, der Land besitzt. Spender aus Deutschland förderten den Bau der Schulgebäude. Ebenfalls über Spenden wird Unterrichtsmaterial bereitgestellt und die laufenden Kosten der Schule, wie etwa die Gehälter der Lehrkräfte, bezahlt. Nach einer Weile sollen die Schulen von der jeweiligen Dorfgemeinschaft ohne Unterstützung von außen betrieben werden. Die Schulen umfassen eine Vorschulklasse, sowie die Klassenstufen eins bis vier. Der Schulbetrieb begann im ersten Jahr mit der Vorschulklasse und den Klassen eins und zwei. Nächstes Jahr wird es die ersten Viertklässler geben.
Milon Chondorai ist ein 10-jähriger Junge und wohnt in der Nähe der Nuruldin Anandalok Grundschule in Malchanid. Ihm und seinen beiden jüngeren Schwestern (fünf und acht Jahre), wurde es von der NETZ-Partnerorganisation Gana Unnayan Kendra und NETZ ermöglicht, die Schule zu besuchen. Die Familie ist sehr froh, da der Schulbesuch der Kinder eine Chance in Aussicht stellt, aus der Armut auszubrechen. Milons Eltern haben niemals eine Schule besucht. Nach ihrer Heirat zogen sie in ihr Haus. Dieses besteht aus einer kleinen dunklen Hütte aus Wellblech. Darin befinden sich zwei große Betten. Eines für die Eltern, ein anderes für die drei Kinder. Zur Essenszeit wird über eines der Betten eine Plastikplane gelegt und darauf gegessen. Das einfache Geschirr steht in einem Schrank, außerdem gibt es ein Holzgerüst, auf dem die Kleider aller Familienmitglieder gestapelt werden. Gekocht wird im Freien, an einer gemeinsamen Kochstelle mit den Nachbarn. Außerdem teilen sich die beiden Familien einen weiteren Schuppen, in dem Arbeitsgeräte untergestellt werden. Es ist sehr wenig Platz vorhanden, für eine fünfköpfige Familie. Milons Vater ist Tagelöhner in der Landwirtschaft. Er arbeitet jeden Tag auf dem Feld. Seinem sehnigen, mageren Körper sind die Spuren dieser Arbeit und seines harten Lebens anzusehen. Die Mutter des Jungen ist Hausfrau, arbeitet aber auch oft auf dem Feld, um ein wenig zusätzliches Geld zu verdienen. Auch die Kinder helfen nach der Schule im Haushalt und auf dem Feld. Es gibt viel zu tun für eine Familie wie die Chondorais. Seit die Kinder zu Schule gehen, können sie nun ihren Eltern auch dadurch helfen, dass sie ihnen Briefe oder wichtige Dokumente vorlesen oder für sie Briefe verfassen.
Milon geht gern zur Schule. Er ist dort sehr aufmerksam und ruhig. Zusammen mit seinen Freunden sitzt er in der dritten Klasse an einer Tischgruppe und scherzt auch mal mit ihnen, aber nur, wenn es gerade nichts zu tun gibt. Milon muss sich im Englischunterricht beim Lesen sehr anstrengen. Sein bengalischer Akzent macht ihm zu schaffen. Beim Reden überrascht er mit seinem Wortschatz und man spürt, dass er gerne Englisch spricht und stolz ist, über das, was er in der Schule bereits gelernt hat. Die Schüler der Nuruldin Anandalok Schule wirken außerordentlich fröhlich und sind sehr offen. Sie passen in diese Schule. Das Wort „Anandalok“ ist Bengalisch und bedeutet fröhlicher Mensch. Um 11:00 Uhr an jedem Schulmorgen trifft sich die Klasse zu einer Versammlung mit den anderen Klassen. Die Schülerinnen und Schüler stehen in Reih und Glied, singen Lieder und machen dazu passende Bewegungen. Später sind kleine Turnübungen an der Reihe. Ein neuer Bewegungsablauf wird einstudiert, und plötzlich sieht nicht mehr alles so einheitlich und perfekt aus wie zu Beginn. Es scheint Spaß zu machen, viele der Kinder müssen kichern, wenn etwas nicht klappt, wie gewollt. Auch die Lehrer, die zuschauen, müssen sich ein Lachen verkneifen. Den neuen Klatschrhythmus beim Abgang scheinen die Schüler besonders lustig zu finden. Glucksend verteilen sie sich wieder auf ihre Klassenräume um dort weiter zu lernen: Bengalisch, Englisch, Mathematik, Religion und Soziologie.
Zirka 10 Kilometer von Milons Schule entfernt, genießt das gemeinsame Schul-Bäumchen am Vormittag die wärmenden Sonnenstrahlen des Tages. Die Blätter nehmen das Licht auf und geben ihm neue Kraft zu wachsen – ebenso, wie den Schulkinder durch den Unterricht „Kraft zum Wachsen“ gegeben werden soll. In einer anderen Richtung, ebenfalls in der Distanz von zirka 10 Kilometern, in dem Dorf Dangipara, in der Ila Mitra Anandalok Grundschule, findet auch um 11.00 Uhr eine ähnliche Versammlung statt. Hier wird die Zeremonie auf einem Sandboden abgehalten. 220 Füße und 220 Hände klatschen abwechselnd im Rhythmus auf den Boden. Das dumpfe Geräusch ist schön anzuhören. Viel Sand wird aufgewirbelt. Bevor es auch hier weitergeht mit Buchstaben, Zahlen, Gedichten und dem gemeinsamen Schulleben, wird der Sand am Schulbrunnen ordentlich mit viel Spaß von den Armen und Beinen wieder abgewaschen.
Zwei Beine und ein gelähmter und ein gesunder Arm unter ihnen gehören dem Erstklässler Bulet. Er ist sieben Jahre alt und singt und tanzt gerne und wenn er selbst nicht an der Reihe ist, schaut er den anderen zu und macht ihre Bewegungen mit. Bulet läuft jeden Tag mit zwei Freunden, die in seiner direkten Nachbarschaft wohnen, eine halbe Stunde durch Reis- und Kartoffelfelder zur Schule, an weidenden Schafen und Kühen vorbei. In der ersten Klasse sitzen alle auf dem Boden, auf einer Bastmatte. So haben die Kinder hier leichter die Gelegenheit, zwischendurch neue Tänze zu lernen und während des Unterrichts gelegentlich die Sitzanordnung zu wechseln. Die Klassengemeinschaft funktioniert hervorragend. Kugelschreiber werden ausgeliehen, Schreibhefte ohne große Worte geteilt. Wenn ein Kind etwas Richtiges gesagt hat oder an die Tafel geschrieben hat, wird geklatscht. Ununterbrochen ist aus mindestens einem der drei Klassenräume der Schule konzentriertes Gemurmel zu hören. Schnupfnasen werden in regelmäßigen Abständen hochgezogen – es ist Winter.
Um 15:00 Uhr ist die Schule beendet. Bulets Mutter wartet mit seiner älteren Schwester und seinen beiden kleinen Brüdern bereits auf ihn. Normalerweise gibt es nach der Schule erst einmal Mittagessen. Aber heute ist Markttag im nahegelegenen Dorf und Bulets Vater ist schon dort, um Lebensmittel für die Familie zu kaufen. Bulet soll loslaufen, um seinem Vater beim Heimtragen der eingekauften Waren zu helfen. Auf dem Weg trifft er wie durch Zufall seine Freunde, die dasselbe vorhaben, wie er. Einer von ihnen trägt ein Huhn in der Tasche. Man bemerkt es erst, als er die Tasche einmal beim Laufen zu kräftigt schwenkt und das Huhn sich gackernd beschwert. Vielleicht wird er versuchen, es auf dem Markt zu verkaufen. Viele Menschen, jung und alt, laufen zu dieser Zeit auf der Straße, die zum Markt führt. Es sieht aus, wie ein kleiner Pilgerzug. Es wird nicht viel geredet, aber die Gemeinschaft ist da. Der Markt ist sehr groß, Menschen tummeln und drängeln sich an den Ständen und um die am Boden ausgelegten Gemüse- und Obstangebote. Auch Kühe werden zum Kauf angeboten. Eid-ul-Adha, das muslimische Opferfest, steht kurz bevor. Schreiner verkaufen ihre Möbel. Teebuden nutzen die sich anstauende Menschenmasse, um so viel Essen und Trinken wie möglich zu verkaufen.
Ständig, schneller als die Nase dem Gehirn melden kann, schlägt einem ein neuer Geruch in die Nase. Holziger Koriander, leicht angebranntes Brot und beißender Geruch von offenem Fleisch, das schon zu lange hängt und von Fliegen umschwirrt wird; streng und künstlich riechende Holzlackierung, die doch nicht die Holzwürmer abhalten wird; schmorender Stahl, Kuhmist, würziger Tee, alter Schweiß, zerkautes süßes Paan (Betelblatt mit stimulierender und antiseptischer Wirkung, das hier häufig gekaut wird). Und laut ist es: Kühe muhen, Menschen preisen ihre Waren an, unterhalten sich, Fahrrad-Rikschas klingeln sich ihren Weg durch die Masse hindurch, konkurrieren mit dem Gehupe von Motorrädern; Gehämmer auf Stahl oder Holz, um einem Möbelstück den letzten Schliff zu geben, Hundegejaule, weil auf sie keine Rücksicht genommen wird, Hühnergackern, das Klirren von Geschirr.
Dieser große Markt ist ein Rummel von Geräuschen, Gerüchen, Menschen und Tieren. Wie findet ein 7-jähriger Junge, der mit einer Jutetasche gekommen ist, um Sachen nach Hause zu tragen in diesem Getümmel seinen Vater? Ein Vergleich mit Deutschland wäre unmöglich und auch unpassend. Hier müssen keine Uhrzeiten und Treffpunkte ausgemacht werden. Hier wird gesucht, und gefunden – oder auch nicht. Hier kennen die Menschen sich. Irgendjemand wird Bulet sehen und wissen, wo sein Vater ist. Und zur Not, wenn es zu spät wird, wird Bulet eben wieder alleine nach Hause gehen. Den Weg kennt er, in- und auswendig . Und er wird auch auf dem Rückweg sicher wieder irgendjemanden treffen, der den gleichen Heimweg hat. Und irgendwann, am Abend, wird die ganze Familie zu Hause in ihrer kleinen Hütte auf dem Bett oder dem Boden sitzen und endlich gemeinsam eine warme Mahlzeit essen.