"Schlechte" Gewohnheiten
„Weißt du“, meint mein kleiner Nachbar zu mir, als ich im TV-Zimmer, dem elterlichen Schlafzimmer Platz genommen habe. Es läuft gerade ein Kricket-Spiel, die beliebteste Sportart Bangladeschs. Immer wieder äugt der 13-jährige zum Fernseher, um aufgeregt „ahh“ oder traurig „ohh“ zu rufen. „Weißt du, hier in Bangladesch haben Frauen eine sehr schlechte Angewohnheit.“ Ich bin sprachlos, schaffe es nicht ihm zu erwidern. Es ist schwierig über das zu sprechen, was Frauen tun möchten, tun sollten und tun müssen. Das Thema ist geprägt von kulturellen Unterschieden, persönlich Erlebten und Vorurteilen und aus Erfahrung weiß ich, dass es mir nicht immer gelingt, den gemeinsamen Nenner mit meinem Gegenüber zu finden. Doch gerade am Anfang ist es mir wichtig, Gemeinsamkeiten mit meinen Nachbarn zu finden, anstatt Unterschiede zu betonen. Ich hatte daher beschlossen das Thema so lange wie möglich zu vermeiden. Nun würde ich einer Diskussion mit meinem Nachbarn liebend gern aus dem Weg gehen!
Seine 9-jährige Schwester guckt mich interessiert, aber dennoch zurückhaltend an. Ihr Englisch ist noch nicht soweit, um zu verstehen, was ihr Bruder mir sagt. „Was hast du denn da?“ stammele ich auf Bengalisch. Stolz reicht sie mir ihre Holzpuppe. Ich streichele sie und lege sie vorsichtig auf das Regal zurück. „Plasch… Bamm… Kreisch… 6 Points“, tönt es aus der Flimmerkiste und der Junge springt jubelnd auf. Genervt verdreht seine Schwester die Augen und widmet sich den Bettlaken. „Weißt du, Männer haben diese schlechte Angewohnheit nur selten“. Die Kleine schüttelt Polster für Polster aus und legt sie sorgsam auf die Holztruhe. Danach schleicht sie aus dem Zimmer.
Ich wittere meine Chance Kricket und einem Gespräch über Mann-Frau-Vorurteilen zu entfliehen und tapse hinter dem Mädchen her. Sie ergreift meine Hand, zieht mich in die Küche und platziert mich neben dem Kühlschrank. Dort stellt sie sich auf Zehenspitzen, um den Wasserhahn zu erreichen und spült das Geschirr so geschickt, als würde sie tagein tagaus nichts anderes machen. Ich mache Anstalten sie auf Bengalisch anzusprechen, doch da unterbricht auch schon ihr Bruder unsere Zweisamkeit. „Weißt du, meine Schwester ist sehr faul“, meint er spitzbübisch. Da packt mich die Empörung und ich blicke ihn ernst an: „Ich denke nicht, dass sie faul ist.“ „Sie geht nur ihren schlechten Gewohnheiten nach und lernt nicht ordentlich für die Schule.“ Vielleicht eine Spur zu barsch erwidere ich: „Aber sie arbeitet doch gerade eben. Sie macht den Haushalt!“ Entgeistert sieht er zu mir hoch: „Natürlich macht sie den Haushalt“, und mit gelassener Selbstverständlichkeit fügt er hinzu „und manchmal helfe ich ihr auch!“ Da stehe ich nun, inmitten des Gesprächs, das ich so gerne vermieden hätte. Wie soll ich neben den kulturellen Unterschieden auch noch Sprachbarrieren und die altersbedingte unterschiedliche Auffassung von Mann und Frau überwinden? „Vielleicht kannst du ihr noch mehr helfen, dann könnte sie mehr Zeit mit Lernen zubringen“, versuche ich es diplomatisch. Kurz hält er inne und antwortet: „Okay, mache ich.“ Na das war ja einfach, denke ich still bei mir! Zufrieden mit mir selbst das unangenehme Gespräch so geschickt abgewandt zu haben, begleite ich die Geschwister zurück in das Fernsehzimmer. Es läuft immer noch Kricket. Als ich schon denke, zum Abbau von geschlechterspezifischer Arbeitsteilung im Haushalt meiner Nachbarn beigetragen zu haben, wird mein „Durchbruch“ zunichte gemacht! Mein kleiner Nachbar sieht mich nachdenklich an und sagt: „Ich denk, dass meine Schwester die eingesparte Zeit, nicht zum Lernen, sondern für ihre schlechte Angewohnheit benutzt. Es würde nichts bringen, ihr mehr zu helfen.“ So, mir reicht es. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten und wappne mich innerlich für eine große Diskussion. Welche schlechten Angewohnheiten konnte eine 9-jährige schon haben? Ich stelle die Frage, die ich die ganze Zeit vermieden haben und leite das ungeliebte Gespräch ein: „Was meinst du denn, welche schlechten Angewohnheiten Frauen in Bangladesch haben?“ Die Augen nicht von der Flimmerkiste nehmend antwortet er: „Sie sehen Fernsehserien an! Und wenn sie könnten, würden sie das den ganzen Tag machen!“ Plötzlich muss ich laut lachen. Ich hatte mir alles Mögliche ausgemalt, nur nicht das: Erklärt mir ein Kricket-schauender Junge, bangladeschische Frauen würden zu viele Serien schauen!
Ich blicke in verwirrte Gesichter. Irgendwie hat der junge Mann gar nicht so unrecht: „Frauen schauen Serien und wie du an dir siehst, schauen Männer Sport. Das ist in Deutschland genauso.“ Vor meinem geistigen Auge läuft ein Bundesliga Spiel, Männer wortkarg vorm Fernseher während sich die Frauen im Nebenraum kichernd und tratschend die neueste Staffel der neuesten Serien anschauen. „Ja wirklich?“ „Klar doch! Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“ Interessiert sieht er mich an. „Ob Mann oder Frau, jeder denkt vom anderen dies sei eine schlechte Angewohnheit, das ist in Bangladesch nicht anders, als in Deutschland.“ Noch immer verwirrt lässt er den Kopf sinken und scheint über meine Worte zu sinnieren. Nach einer Weile schaut er auf. „Ja“, sagt er, „ich verstehe. Meine Mama mag es auch nicht, wenn ich Kricket schaue. Sie selbst sieht aber tägliche ihre Fernsehserie.“ Da lachen wir beide.