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Oh Allah, ich habe niemanden

Ich sitze im Bus in Dhaka. Neben mir habe ich Besuch aus der Heimat. Gerade angekommen, möchte ich der Bekannten das "echte" Dhaka zeigen - eine Busfahrt scheint der richtige Einstieg in das Abenteuer Megacity. Es ist heiß, keine Ventilatoren im Bus und die Lastwagen schleudern von draußen heiße Rußluft durch die offenen Fenster. Der Bus schiebt sich durch den dichten Verkehr.

Kurz nachdem wir eingestiegen sind, bemerke ich eine Frau im Gang. Sie trägt eine schwarze Burka und ein weiteres großes Tuch über Kopf und Schultern. Sie scheint einen Platz zu suchen. Es gibt genügend freie Sitze im Bus. Aber Frauen setzen sich gern neben Frauen - damit sich dann kein Mann auf den freien Platz neben ihr setzt. In unserer Sitzreihe ist der dritte Platz am Gang noch frei. Ich mache ein Zeichen mit der Hand und biete ihr den Platz an. Sie setzt sich, ich beachte sie nicht weiter, sondern erkläre meiner Bekannten durch welches Stadtviertel wir eben fahren und was draußen so zu sehen ist. Die Frau neben uns beginnt meine Ausführungen zu kommentieren, doch sie spricht so undeutlich, dass ich kein Wort verstehe. Ich bitte sie, alles noch einmal zu sagen, doch wieder bringt sie nur völlig unverständliche Sätze hervor. Ich nicke nur freundlich und sehe wieder zum Fenster hinaus.

Als ich mich wenige Minuten später wieder zur anderen Seite wende, mustere ich das Gesicht der Frau genauer. Sie ist jung, vielleicht Mitte zwanzig. Sie döst vor sich hin, ihren Kopf an den vorderen Sitz gelehnt. Schweiß rinnt ihr vom Gesicht. Es ist heiß, aber nicht so heiß. Sie taumelt leicht hin und her. Irgendwas stimmt mit ihr nicht, sage ich zu meiner Bekannten. Die Frau ist völlig abwesend und ich befürchte, sie könnte vom Sitz fallen. Neben uns ist gleich die offene Türe des Busses, sie droht direkt auf die Straße zu stürzten. Ich beobachte die Szene eine Weile, bis ich mich über meine Bekannte in der Mitte lehne, die junge Frau am Arm nehme und etwas schüttle. Ob es ihr schlecht gehe, frage ich, ob sie krank sei. Sie schaut mich mit glasigen, müden Augen fragend an. Ich wiederhole meine Worte. Keine Reaktion. Ich schüttle sie nochmals am Arm, Apa, Apa, sage ich, hören sie nicht? Wo fahren Sie hin? Zum New Market, sagt sie undeutlich. Da sind wir schon lange vorbei, antworte ich. Keine Reaktion. Wieder frage ich, was los ist.

Dann beginnt sie zu reden. Undeutlich, leise, wirr. Ich verstehe nur die Hälfte. Sie hatte eine Operation in einem Krankenhaus in Dhaka. Sie öffnet ihre Burka und deutet auf die Seite ihres Oberkörpers und erklärt etwas. Ich verstehe nicht, aber sie ist schwach und hat Schmerzen, dazu muss ich die Worte nicht verstehen. Wohin sie jetzt gehe, will ich wissen. Sie schaut mich an. Ich weiß nicht, sagt sie und beginnt zu weinen. Sie hält meine Hand, drückt sie in ihr Gesicht und weint. Sie kommt aus dem Distrikt Faridpur, aus einem Dorf. Sie ist seit fünf Tagen in Dhaka. Vielleicht. Sie ist allein. Sie weiß nicht, wohin sie geht. Sie hat kein Gepäck, kein Geld, keine weitere Kleidung. Ob sie keinen Mann hat, frage ich. Nein, der sei weg, aber zwei Kinder hat sie, zuhause in Faridpur. Wieder beginnt sie zu weinen, erhebt ihre Hände und betet zu Allah. Oh Allah, ich habe niemanden. Ich nehme ihren Arm. Was sollen wir tun, frage ich sie. Wie kann ich helfen. Sie sieht mich mit leerem Blick an. Sie weiß es nicht. Sie weint.

Ich verstehe ihre Geschichte nicht ganz. Ich glaube ihr jedes Wort. Solche Verzweiflung kann man nicht spielen. Ich kann nur raten, was geschehen ist. Sie war krank, kam nach Dhaka zur Behandlung, allein. Es gibt keine Krankenversicherungen in Bangladesch und im Krankenhaus erhält man nur das, was man direkt bezahlt. Gibt es keine Verwandten, die einem Essen bringen, dann isst man eben nicht. Die Frau hat lange nichts gegessen, wahrscheinlich nichts getrunken. Sie ist am Ende ihrer Kräfte. Sie ist verloren. Sie ist zu müde, um einen Entschluss zu fassen.

Wollen Sie nach Hause fahren, frage ich sie. Sie sieht mich an. Ja, nach Hause möchte sie. Wie sie gekommen ist, will ich wissen. Mit dem Bus, mit Hanif, erinnert sie sich an den Namen des Busunternehmens. Haben Sie ein Ticket, frage ich weiter. Nein, sie hat kein Geld mehr, 180 Taka hat die Fahrt hierher gekostet sagt sie, aber jetzt hat sie nichts mehr. Möchten Sie heute nach Hause fahren, hake ich nach. Ja. Sie fahren also heute nach Hause sage ich bestimmt. Ich gebe ihr 200 Taka und frage, ob sie weiß, von wo der Bus fährt, von Kallyanpur? Nein, Shamoli, sagt sie. Das stimmt. Ich sage, sie soll beim nächsten Halt aussteigen, denn wir fahren genau in die gegengesetzte Richtung. Sie soll die Straße überqueren und zurückfahren, ein Ticket kaufen und mit dem ersten Bus nach Hause fahren. Wieder betet sie zu Allah, nimmt meine Hand, küsst sie, ja, das wird sie machen.

Doch sie kann kaum aufstehen, geschweige denn im engen Gang nach vorne gehen und aus dem Bus springen, der an den Haltestelle ja nicht hält sondern nur langsamer fährt. Meine Bekannte sitzt nach wie vor zwischen uns, sie versteht kein Wort und schaut uns nur besorgt an. Wir wollen beim nächsten Halt auch aussteigen. Ich nehme die junge Frau mit aus dem Bus. Als wir auf der Straße stehen, merke ich, dass sie nicht die Kraft hat, den nächsten Bus zu nehmen. Sie will nach Hause, aber sie hat keinen Willen mehr dazu. Ich schüttle sie nochmals leicht und sage ihr, dass ich ihr jetzt ein Baby-Taxi miete, dass der Fahrer sie bis vor die Tür des Busunternehmens fahren wird, dass sie dort den ersten Bus nach Faridpur nehmen soll, aber dass sie vorher Wasser und etwas zu Essen kaufen soll. Werden sie es genauso machen, frage ich. Ja, sagt sie weinend. Finden Sie von Faridpur in Ihr Dorf, frage ich, ja, sie findet das Dorf. Sie wird etwas essen, ja, sie wird essen.

Ich halte ein Baby-Taxis an. Ich blicke den Fahrer ernst an und sage: Diese Frau ist schwach, sie ist krank. Sie fahren diese Frau nach Shamoli, bis zu Hanif vor die Tür. Sie fährt heute noch nach Faridpur. Sie soll essen und trinken. Machen Sie das? Ji, jawohl, sagt er erstaunt über die Situation. Ich drücke der jungen Frau nochmals hundert Taka für Essen in die Hand, dann hundert Taka für das Taxi und weitere Fahrten von Faridpur aus. Sie soll sich setzen. Die Frau wirft sich vor mir zu Boden, berührt meine Füße, betet. Bitte stehen Sie auf, sage ich und ziehe sie hoch. Sie sitzt im Taxi. Sie stellt ihre einzige Frage: Haben Sie eine Telefonnummer? Ich gebe ihr meine Karte, hier steht mein Name, sage ich, und meine Nummer. Sie nickt. Das Taxi fährt an, sie will meine Hand nicht los lassen. Heute Abend sind sie zu Hause, sage ich, fahren Sie jetzt. Sie schaffen das, sage ich mit Nachdruck und drücke ihre Hand. Das Taxi fährt weg.

Als ich die Geschichte meinen bangladeschischen Freunden erzähle, lachen diese nur. Die hat dich reingelegt. Das passiert doch ständig. Nein, sage ich. Man kann nicht spielen, dass einem der Schweiß vom Gesicht rinnt. Sie hat mich nicht angesprochen. Sie hat mich nicht nach Geld gefragt. Doch sollte sie diesen irren Blick, die Angst, die Verlorenheit gespielt haben, na ja, dann hat sie die einige hundert Taka für ihre schauspielerische Leistung verdient. Aber ich glaube es nicht, denn ihre Verzweiflung war spürbar.

Ich weiß nicht, wie sie heißt. Ich warte auf ihren Anruf, damit sie mir sagt, ja, ich habe es geschafft.

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