"Nummer 209 bitte?"
Da ich nach den Feierlichkeiten von Durgapuja und Eid-ul-Adha erneut nach Dhaka reisen muss, um an unserem Teammeeting teilzunehmen, benötige ich ein Busticket. Mein Kollege Shamim erklärt mir, dass ich es möglichst früh reservieren und kaufen soll, da der Ansturm nach den Feiertagen enorm sei. Viele fahren für die religiösen Feste auf das Land, um ihre Familien zu besuchen und kehren anschließend wieder in die größeren Städte zurück.
Am Abend des 21. Oktobers fahre ich mit ihm gemeinsam zum Busticketschalter und frage nach einem Ticket für den 29. Oktober. Strecke Rangpur – Dhaka. Das Busunternehmen, der Sitzplatz, die Uhrzeit und die Kategorie des Busses seien mir egal. Der Mann erklärt mir, dass die Tickets noch nicht verfügbar seien. Ich solle am nächsten Morgen nochmal um neun Uhr wiederkommen, dann könne ich eins kaufen. Shamim empfiehlt mir, einige Minuten früher da zu sein, da er mit großem Andrang auf die begehrten Tickets rechnet.
Am nächsten Morgen mache ich mich also alleine auf den Weg zum Ticketschalter. Ich verlasse meine Wohnung mit deutscher Pünktlichkeit um acht Uhr, da ich auf Nummer Sicher gehen möchte. Mit der Rikscha fahre ich circa 15 Minuten durch die Stadt, bis ich am Ticketstand ankomme. Der Anblick trifft mich wie ein Schlag. So viele Menschen hatte ich nicht erwartet. Der gesamte Platz vor den verschiedenen Schaltern der Busunternehmen ist schon jetzt völlig überfüllt. Die Menschen drängeln und rufen. Alle möchten sie das gleiche Ticket kaufen, wie ich. Irritiert versuche ich zu erkennen, wo genau ich mich anstellen muss, da ich zumindest keine Schlangen erkennen kann. Ich stelle mich einfach irgendwo hin und versuche, wenigstens einen Blick auf den Ticketschalter zu erhaschen. Allerdings sehe ich nichts als Köpfe über Köpfe. Da stehe ich also erstmal zehn Minuten, bis mir endlich jemand erklärt, dass ich drinnen zunächst eine Nummer ziehen und warten muss, bis ich aufgerufen werde. Ich quetsche mich also an allen Wartenden vorbei in das Gebäude. Der Menschenauflauf und der damit verbundene Körperkontakt sind mir unangenehm. Ich bekomme inmitten der Menge mehr Aufmerksamkeit, als mir lieb ist und bin froh, als ich endlich meine Nummer bekomme. Nummer 209. Na toll!
„Nummer 10 bitte!“, höre ich einen Mann rufen.
Ich quetsche mich also wieder nach draußen und versuche meine Tasche dabei gut festzuhalten. Eineinhalb Stunden stehe ich inmitten der Menge und muss viele neugierige Fragen beantworten. Mein Magen knurrt, da ich noch kein Frühstück hatte. Meine Augen fallen mir vor Müdigkeit beinahe zu. Ich wanke in den Bewegungen der Menge. Das laute Stimmengewirr klingt weit weg.
Plötzlich packt mich jemand am Arm. Eine Frau in einer weißen Burka zerrt mich aus der Menge an ihre Seite. Erst jetzt fällt mir auf, dass in der wartenden Menge kaum Frauen anwesend sind. Nur einige wenige stehen abseits. Ich bin froh, dass sie mich in ihre Mitte nehmen. Der Körperkontakt inmitten der Frauengruppe ist mir bei weitem nicht mehr so unangenehm.
„Nummer 30 bitte!“
Nach einer weiteren halben Stunde bekomme ich im Inneren einen Sitzplatz. Dort sitze ich mit Anyana, der Frau in der weißen Burka. Wir unterhalten uns sehr lange in gebrochenem Bangla und Englisch. Obwohl ich nur ihre strahlend schönen, mit Kajal umrundeten, dunklen Augen erkenne, bin ich mir sicher, dass sie sehr selbstbewusst ist. Sie scheucht einen jungen Mann von seinem Sitzplatz, um sich selbst setzen zu können. Ihre Stimme ist laut und ihre Körperhaltung auffallend aufrecht.
„Nummer 52 bitte!“
Der Ventilator surrt und knattert über unseren Köpfen, trotzdem ist die Hitze kaum erträglich. Es ist stickig und staubig. Dann ist Stromausfall. Das Licht und der Ventilator fallen aus.
“Nummer 89 bitte!“
Trotzdem sitze ich geduldig da und warte darauf, dass ich aufgerufen werde. In der Hoffnung, dass dann noch Tickets verfügbar sind. Ich brauche doch nur ein einziges… Erwartungsvoll sehne ich mich danach, dass der Mann endlich „Nummer 209 bitte“ ruft.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich plötzlich lautes Gebrüll höre. Mehrere Männer versuchen sich in das Gebäude zu drängeln, werden jedoch davon abgehalten. Sie schreien sich gegenseitig an, beginnen plötzlich sich herumzuschubsen. Anyana greift erneut nach meiner Hand, ihre Augen leuchten vor Alarmbereitschaft. Ich verstehe gar nicht so recht, was passiert, als plötzlich Scheiben bersten. Aggressive Männer trommeln gegen die Fenster des Ticketschalters und stürmen innerhalb von wenigen Sekunden alle in das ohnehin schon kleine Gebäude. Scherben, Gebrüll, Schläge.
Ich werde von meinem Stuhl in eine kleine, fensterlose Toilette gezerrt. Fast trete ich in das Plumpsklo. Die Tür wird von innen verriegelt. Ich brauche einen Moment, bis ich mich geordnet und die Orientierung wiedergefunden habe. Im Dunkeln zähle ich noch sechs andere Frauen. Gemeinsam verstecken wir uns auf der Toilette. Die Frauen halten den Atem an, gesprochen wird nicht. Anyana hält meine Hand. Ich sehe nur den hellen Türschlitz und höre immer noch Geschrei und Gepolter.
Nach unendlich langen zehn Minuten öffnet eine der Frauen vorsichtig die Tür. Draußen ist es auffallend still. Wir verlassen unser Versteck und finden den Ticketschalter menschleer vor. Ich sehe nur noch einige Polizisten mit ihren Schlagstöcken. Ich frage irritiert, was passiert sei. Die Antwort: „Es gibt kein Problem“. Offensichtlich gibt es ein Problem, ich sehe doch die Glasscherben und das hinterlassene Chaos! Schließlich frage ich nach meinem Ticket. Belustigt sagt mir der Mann, dass nun keine Tickets mehr verfügbar seien. Ich werde forsch aufgefordert den Ticketschalter zu verlassen. Hinter mir werden Gitter vor die zerbrochenen Scheiben geschoben und abgeschlossen. Na toll. Dabei habe ich doch bis jetzt schon dreieinhalb Stunden gewartet. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll und bin kurz davor, Shamim anzurufen. Anyana taucht in der Menge auf, ich erkenne sie sofort an ihrer weißen Burka und ihren leuchtenden Augen wieder. Gekonnt bahnt sie sich mit schnellen Schritten ihren Weg durch die Menge und sagt mir, sie könne mir ein Busticket organisieren, da sie plane, am selben Tag nach Dhaka zu fahren.
Ich gebe ihr Geld, damit sie den Fahrschein für mich kaufen kann. Sie kauft ein Ticket für zwei benachbarte Sitze. Busunternehmen „Shamoli”, Sitz E 1 und E 2. 9 Uhr 30. Am 29.Oktober. Wir tauschen unsere Nummern aus. Da es nur ein Ticket für uns beide gibt, fühle ich mich zugegebenermaßen etwas unwohl, als sie es mitnimmt und mir sagt, sie warte eine halbe Stunde vor Abfahrt auf mich. Es fühlt sich komisch an, sich auf eine fremde Frau zu verlassen. Ich kenne bis jetzt nur ihre Augen…
Fünf Stunden später fahre ich zurück und halte immer noch kein Ticket in meinen Händen.
Ich bin gespannt, ob ich am 29. Oktober wirklich meine Reise nach Dhaka antreten werde.