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Nachtspaziergänge und Sonabalala

Es ist schon spät am Abend, als ich die Landstraße entlanggehe. Die Dunkelheit wird nur selten von kleinen Lichtern durchbrochen: Taschenlampen von anderen Menschen, die durch die Nacht schreiten, Petroleumlampen, die an den Achsen von Fahrradrikschas baumeln und ab und zu einem kleinen Feuer am Straßenrand. Zum ersten Mal sehe ich die Sterne in ihrem vollen Glanz – zuvor in Dhaka hingen sie meist trüb am Himmel, graugefärbt durch den Smog und irgendwie unscheinbar neben den grellen Lichtern der Stadt. Hier in Ulipur scheinen sie glänzend und endlos weit. Bei diesen Nachtspaziergängen denke ich gern nach, über den Tag, die Menschen und mich selbst. Über Schicksale und Freude, Verwunderliches, Merkwürdiges. Ich denke zum Beispiel an die Frau, der ich vor einer Woche begegnet bin. Ich sehe sie noch genau vor mir, blasser orangefarbener Sari, eingefallenes Gesicht und Augen die fragend und zweifelnd wirken. Unsere Begegnung war etwas besonderes für mich.

***

Vor dem Offiziersklub in Rajarhat stehen schon einige Mitarbeiter meiner Partnerorganisation MJSKS bereit. Mein Mentor Monirul und ich steigen vom Motorrad ab und begrüßen alle, bereit dazu einzutreten. In einer Viertelstunde wird ein Lokalpolitiker eintreffen und gemeinsam mit Vertretern von MJSKS und Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dem Entwicklungsprojekt „Ein Leben lang genug Reis“ eine Gesprächsrunde führen. Während wir vor dem Eingang warten, treffen immer mehr Leute ein. Als sich fast fünfzig Menschen um uns herum versammelt haben, ruft irgendwer „Auf geht's“ und die Menge macht sich auf den Weg hinein. Bereit mich dranzuhängen und schon gespannt auf die Diskussion mache ich einen Schritt vorwärts, als sich in der Reihe neben mir plötzlich eine Lücke auftut und ich innehalte. Zwischen den Anderen kommt plötzlich eine Frau auf allen Vieren hervorgekrochen. Blasser orangefarbener Sari, ihr Gesicht erkenne ich nicht, denn es ist auf den Boden gerichtet. Ich bleibe stehen und lasse sie an mir vorbei, da erkenne ich, dass sie eine Fehlbildung der Wirbelsäule hat. Die Haltung auf Händen und Füßen ist also ihre natürliche Haltung. Sie kann nicht aufrecht stehen, geschweige denn gehen, nicht einmal gebückt. Wie lange bewegt sie sich so schon durchs Leben? Hat sie dieses Handikap bereits von Geburt an oder durch einen Unfall bekommen? Egal wie lange ich hin und her überlege, in diesem Moment sehe ich wie sie die fünf Meter bis zur Treppe kriecht und dann Stufe für Stufe aufsteigt. Es muss ein beschwerlicher Prozess sein. Sie muss ihren Kopf sehr weit anheben, um nach vorn blicken zu können, um etwas sehen zu können. Jedes Mal wenn sie das tut, spürt man dabei förmlich ihren Schmerz im Nacken, ihr Gesicht zuckt. Ich sehe es nun zum ersten Mal, eingefallen, mit Augen die fragend und zweifelnd wirken. Es dauert lange bis sie unter den Blicken aller Anwesenden in dem Gebäude angekommen ist und auf einen Stuhl irgendwo in den mittleren Sitzreihen gehievt wird.

Ich nehme auf dem Podium Platz und stelle mich dem Auditorium vor. Während der ersten Ansprache erwische ich mich dabei, wie ich aus dem Fenster blicke und abdrifte. Die Frau in dem blassen orangefarbenen Sari lässt mich nicht los. Was muss es für ein Gefühl sein, was für ein beschwerliches Leben? Was für ein Selbstwertgefühl muss sie haben, ständig auf den Boden blicken zu müssen und nur unter Schmerzen das sehen zu können, was sich darauf abspielt?

Nach der Veranstaltung versammeln sich alle Teilnehmer draußen. Vor dem Gebäude wurden inzwischen Rollstühle und Dreiräder aufgereiht, finanziert durch Spendengelder. Unter den Projektteilnehmerinnen und -teilnehmern sind sieben Menschen mit Gehbehinderung, sie sollen die Fortbewegungshilfen heute von MJSKS überreicht bekommen. Zwei ältere Männer, auf Krücken gestützt, steigen auf die Dreiräder. Zwei Mädchen und ein Junge bekommen einen Rollstuhl, ein weiterer Mann auch. Als ich mich umsehe entdecke ich die Frau wieder. Ihr Name ist Sonabalala. Sie steigt die Treppe hinunter, erneut unter großem Kraftaufwand. Unten angekommen steht auch ein Rollstuhl für sie bereit. Zwei Frauen kommen heran geeilt um ihr hoch zu helfen und schließlich sitzt sie sicher in ihrem Rollstuhl. Von diesem Moment an hat sich die Perspektive von Sonabalala grundlegend geändert. Ihr Körper ist jetzt aufrecht, sie schaut geradeaus. Ihr Kopf, der Sitz des Geistes, befindet sich jetzt in einer würdigen Position. Nicht mehr auf einer Höhe mit den Füßen der Menschen, die sie umgeben. Als sie sich zurücklehnt richtet sie ihre Augen gen Himmel und das Sonnenlicht bricht sich durch die Palmenzweige auf diese herab. Es scheint, als ob Fragen und Zweifel ein wenig weg gewaschen wurden. Sonabalala wurde für mich bereits jetzt schon zum Symbol für die Arbeit, in die ich hier hineinwachse.

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