Mongazeit
Auf einer Bastmatte schläft bäuchlings ausgestreckt ein kleiner Junge, keine 3 Jahre alt. Mit meinen Kollegen meiner Partnerorganisation bin ich im Unter-Distrikt Gangachara gelandet, in einem Dorf namens Gozukunta im Distrikt Rangpur. Wir besuchen das Haus einer Teilnehmer des Projekts „Ein Leben lang genug Reis“. Als mein Mentor den Vorhof des Hauses betritt, scheucht eine alte Frau das Kind auf, zieht ihm die Bastmatte unter seinem Bauch weg, um sie uns anzubieten. Wir lehnen höflich ab. „Ist das dein Kind?“, frage ich. „Nein, es schläft nur hier. Er hat keine Eltern mehr und kommt oft zu mir.“ An der Kochstelle, eine Art Loch im Boden, brutzeln grüne Blätter. Erschrocken starre ich hinüber. Wie viele Menschen soll das Essen satt machen? „Zu viert leben wir in unserem Haus, mein Mann ich und unsere zwei Kinder.“ Manchmal ließe sie die Waisenkinder – einen Jungen und ein Mädchen mitessen, doch zurzeit reicht das Essen nicht. Es ist Monga: Hungerzeit in Bangladesch. Keine Arbeit, keine Ernte, kein Essen.
Ihr Mann schleppt zwei Holzstühle an und ich staune über die Kraft des ausgezehrten Körpers. Seine Haut hängt schlaff an den Rippen und zeigt deutlich die Spuren harter Arbeit und schnellen Abmagerns. Wir bedanken uns für seine Mühe, tun es aber unserem Gegenüber gleich und bleiben stehen. Inzwischen ist der Vorhof des Hauses voll mit Neugierigen. Ich stelle mich hinter die Gruppe, mache Bilder und Notizen. Mein Mentor, geht mit Kennerblick das kleine Büchlein durch, in dem all das Hab und Gut der Frau aufgelistet ist. „Wie hoch ist dein Einkommen?“ fragt er. „8.000 Taka [umgerechnet zirka 80 Euro] in den letzten 9 Monaten.“ Eine Kuh hat sie im Rahmen des Projektes „Ein Leben lang genug Reis“ erhalten, ein paar Hühner und Gemüsesetzlinge. Aber derzeit ist alles knapp. Frühstück gab es nicht, sie könne sich dennoch nicht beschweren, sie hätte viel mehr als im letzten Jahr. Nur den kleinen Waisen, denen würde sie gern mehr geben können. Ich bin ergriffen von dieser Großzügigkeit.
Gefolgt von den Dorfbewohner nähern wir uns dem nächsten Haus. Davor sitzt ein kleine alte Frau graue Haare, eingefallene Wangen und ein unnatürliches Blau in den Augen. Ob sie noch ausreichend sehen kann? Sie hockt vor ihrem Ofen, befeuert es immer wieder mit Holzspänen, die sie selbst aus einem Stückchen Holz gewonnen hat und fügt Kuhdung hinzu. Schwerer Rauch liegt in der Luft. Mir bleibt die Luft zum Atmen weg.
Immer wieder hustet sie, hält sich ihren Schal vor den Mund und wischt sich den Schweiß, den sie durch Fieber oder durch Hitze ausstößt, von der Stirn. Betroffen frage ich meinen Mentor, warum sie so krank sei. „Nein, nein, das ist nichts ernstes. Das bisschen Husten geht vorüber.“ Dennoch frage ich, warum ihr niemand helfen kann. Sie atmet schwer, keucht und immer wieder lassen sie Hustenanfälle innehalten. Ihre Tochter sei mit ihrem Mann nach Dhaka gefahren, sonst wäre sie nicht allein und ohne Unterstützung. Im Stillen frage ich mich, ob die beiden wohl wiederkommen.
Der Sohn ihrer Tochter ist noch hier, erklären mir die umstehenden Frauen unseres Publikums und zeigen auf einen schüchternen Jungen von etwa zehn Jahren, der sich sogleich wieder in der Menge verkriecht. „Was machen sie in Dhaka?“, möchte ich wissen. Es ist kurz vor Durga Puja – einem hinduistisches Fest. Zu solchen Anlässen gibt es immer viel Arbeit in der Stadt. Die Festplätze müssen geschmückt, die Figuren aufgebaut werden, Musik installiert, Essen gekocht werden und man braucht jede helfende Hand. Mit der Hoffnung im Gepäck, als Tagelöhner ein paar Taka zu verdienen, reisten sie nach Dhaka und ließen Großmutter und Sohn im Dorf zurück.
Ich müsse mir keine Sorgen machen, der Frau gehe es gut, auch wenn ihre Tochter weg sei, sehr gut sogar. Ungläubig betrachte die Alte. Umgerechnet 5 Euro-Cent hat sie am heutigen Tag ausgegeben. Sie investierte das Geld in die tägliche Portion Reis. Manchmal müsse sie auch Holz kaufen, aber meistens reicht das Gesammelte vom Wegesrand aus. Kuhdung, ein essentieller Energiespender beim Kochen, bekommt sie nun von der eigenen Kuh. Mit zehn Hühnern und Enten und verschiedenem Gemüse ist ihr Einkommen sehr gering. Nicht mehr als zirka 60 Euro hat sie in den letzten neun Monaten verdient.
Auch in ihrem Kochtopf brutzeln gesammelte Blätter. „Ich bin allein in meinem Haus, habe keine Kinder zu versorgen. Ich habe alles was ich brauche.“ Erstaunt über diese Genügsamkeit, blicke ich meinen Mentor an. „Weißt du,“ gibt er mir zu verstehen, „ihre Situation hat sich enorm verbessert, seitdem sie in unserem Projekt mitmacht. Anfangs war sie schwach und vom Hunger erkrankt. Heute kann sie täglich essen.“ In meinem Hals zieht sich ein Kloß der Sprachlosigkeit zusammen. Ich kann nicht mal erahnen, in welcher Situation sich die Frau vor einem Jahr befunden haben muss.