Menschenrechte im Rampenlicht
Ein Mädchen sitzt auf dem Boden und weint, das Gesicht hat sie in ihren Händen vergraben. Ein Mann steht über ihr und schreit sie an: "Zu nichts bist du zu gebrauchen!" Immer wieder schlägt er auf sie ein. Er ist ihr frisch gebackener Ehemann - obwohl das Mädchen nicht älter als 14 Jahre ist. Immer wieder wiederholt er, dass er sie nur wegen der Mitgift geheiratet habe, die ihre Eltern zahlen mussten. Doch die genügt ihm jetzt nicht mehr: "Wenn deine Eltern nicht bald mehr Geld heranschaffen, werde ich noch ganz andere Seiten aufziehen!", brüllt er sie an. Ich wende meinen Blick von dem Geschehen ab und schaue mich um. Um mich herum und hinter mir sehe ich gebannte Gesichter und weit aufgerissene Augen. Das Theaterstück fesselt alle.
Bevor ich im Oktober des vergangenen Jahres nach Bangladesch aufbrach, genoß ich in Geilenkirchen alle Sicherheit, alle Unbeschwertheit und alle Freiheiten, die man als Jugendliche nur haben kann - ein schönes Zuhause, fürsorgliche Eltern und eine gute Schulausbildung. Im Juni machte ich im St.Ursula Gymnasium in Geilenkirchen mein Abitur. Zwei Jahre lang war ich Schülersprecherin, war stellvertretende Vorsitzende des "Stadtjugendrings Geilenkirchen", spielte in meiner Freizeit Theater. An Wochenenden verdiente ich mir als Küchenhilfe mein Taschengeld.
Als ich meinen ersten Fuß auf bangladeschischen Boden gesetzt habe, ist mir augenblicklich klar geworden, dass ich eine andere Welt betrete. In der Flughafenhalle der Hauptstadt Dhaka erschlägt mich die drückende Hitze und extrem hohe Luftfeuchtigkeit. Sofort fühle ich mich an das Klima eines Glashauses erinnert. Im Taxi, auf dem Weg zu meiner Unterkunft, kann ich mich nicht entscheiden, wo ich hinsehen soll. Alles ist neu: der chaotische Verkehr, die Masse von Menschen und die Bettler, deren Worte ich nicht verstehe. Doch dies ändert sich schon bald durch einen sechswöchigen Bengalisch-Sprachkurs. Seit Dezember 2004 arbeite ich bei "Ain-o-Shalish-Kendro", einer der bedeutendsten Menschenrechtsorganisationen in Bangladesch. Diese ist wird von NETZ unterstützt, der deutschen Trägerorganisation meines Freiwilligendienstes, die auf Bangladesch spezialisiert ist. "Ain-o-Shalish-Kendro" schärft das öffentliche Bewusstsein für Recht und Unrecht durch Schulungen, Theateraufführungen und Presse-Arbeit. Benachteiligte Menschen erhalten kostenfreie Rechtsberatung.
Die Menschenrechtssituation in Bangladesch ist erschreckend. Korruption bei der Polizei, in der Politik, bei den Gerichten und in der öffentlichen Verwaltung ist allgegenwärtig. Die Leidtragenden sind vor allem Frauen und Kinder. Ihnen bleibt der Zugang zu ihren elementaren Rechten meist komplett versperrt. Mangelnde Bildung ist einer der Gründe hierfür: nur jede dritte Frau in den ländlichen Gebieten kann lesen und schreiben. Die Folge: die meisten Menschen kennen ihre eigenen Rechte nicht. Grausamkeiten gegen Frauen und Mädchen, Kinderarbeit und Kinder-Ehen sind - trotz gesetzlicher Verbote - ebenso an der Tagesordnung wie Gewalt zur Durchsetzung von Mitgift-Forderungen. Die Rechtlosigkeit hält die Menschen im Teufelskreis der Armut gefangen: die Hälfte der 140 Millionen Menschen in Bangladesch kämpft ums Übeleben - mit weniger als 1 US-Dollar am Tag.
Zurück zum Theaterstück: Die Aufführung findet im Freien statt. Es ist schon spät abends. Tagsüber gehen die Dorfbewohner ihrer Arbeit nach, ebenso die Mitglieder der Theatergruppe. Unter den Zuschauern und den ehrenamtlichen Laien-Schauspielern sind Tagelöhner, Landwirte und Rikschafahrer, aber auch Schüler, Lehrer und Bankangestellte. Das Mädchen, das eben noch weinend auf dem Boden saß, tritt an den Rand der kleinen erleuchteten Bühne und wendet sich an das Publikum: "Was habe ich falsch gemacht? Wieso muss ich dieses Leid ertragen? Meine Familie wird mich nicht mehr aufnehmen, sie kann für mich nicht sorgen. Zur Schule bin ich nie gegangen. Was soll ich jetzt tun? Ich selbst kann mich aus dieser Situation nicht befreien". Der männliche Schauspieler, der ihren Ehemann gespielt hat, tritt daneben: "Jeder von Euch kennt Geschichten wie diese. Warum passieren sie? Ist es richtig, dass das Mädchen so behandelt wird? Habt ihr Ideen, wie die Geschichte weitergehen könnte?" Unter den Zuschauern entsteht eine lebhafte Diskussion.
"Aufklärung über Menschenrechten durch Theater" ist das Motto dieses Programms von "Ain-o-Shalish-Kendro". Regelmässig fahren meine bengalische Kollegin Emi und ich in eine der Regionen, in den Pabna-Distrikt im Westen des Landes. In Workshops vermitteln wir den Theatergruppen Ideen und Methoden wie sie die Menschenrechtsthemen in ihre Theaterstücke eingebetten können. Diese präsentieren sie dann z.B. auf dem Dorfplatz. Emi klärt sie über Menschenrechte auf, vor allem über die Rechte der Frauen. Die Gruppen beginnen, gegen Menschenrechtsverletzungen in ihrer Umgebung zu protestieren, unterstützen die Opfer und gehen rechtlich gegen die Täter vor. So wird der Dorfbevölkerung bewusst, wie viele Menschenrechtsverletzungen tagtäglich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft stattfinden.
Wenn ich das Leid und die oft auswegslose Situation der Frauen in den Dörfern sehe, überkommt mich immer wieder ein ohnmächtiges Gefühl. Wenn ich jedoch das Engagement und die Motivation der Menschen erlebe, die etwas bewegen wollen, dann habe ich Hoffnung, dass sich wirklich etwas verändert. Aber nur, wenn die Menschen auch weiterhin in ihrem Kampf gegen die alltägliche Ungerechtigkeit unterstützt werden.