Menschenknochen und ein Tiger
Heute treffe ich mich mit einigen neuen Freundinnen aus dem Medical College in Rangpur. Sie wohnen in einem Hostel, in das sie mich einladen. Sie alle kommen von weit her, um an der renomierten Universität zu studieren. Für einen halbwegs annehmbaren Preis – wie sie sagen – wohnen sie während ihrer Studienzeit in einem Hostel, das ich mir heute ansehen darf. Auf langen Fluren reihen sich viele Zimmer aneinander, Männer und Frauen natürlich strikt voneinander getrennt. Meine Freundinnen Ankur und Selina zeigen mir die Räumlichkeiten: Es gibt einen Speisesaal, in dem sie dreimal täglich eine Mahlzeit bekommen, einen kleinen Kiosk, in dem man vielerlei Dinge kaufen kann, und einen Fernsehraum.
Das Hostel sieht für mich alles andere als gemütlich aus: In den Ecken liegt Müll, die Wände sind beschmiert und auf den Fluren suchen sich die Raben die letzten Essensreste. Ich frage die beiden, ob sie sich hier wohl fühlen. Gemütlich und schön sei es nicht, antworten sie. Jedoch seien sie von früh morgens bis spät abends damit beschäftigt, für ihr Medizinstudium zu lernen. Auch das Essen in der Kantine sei gewöhnungsbedürftig. Sie alle haben aufgrund des Stresses und des schlechten Essensangebotes an Gewicht verloren. Zum Abendessen gibt es meist Reis und Dal, der mehr nach Wasser schmecke als nach Linsen, sagen sie. Nur selten gebe es Fleisch, Fisch oder besonderes Gemüse. Trotzdem seien sie sehr froh, hier sein zu dürfen. Mit den Gegebenheiten würden sie sich schon irgendwie arrangieren.
Die Anforderungen sind sehr hoch. Tausende Bewerber kämpfen um einige wenige Plätze. Deshalb werden entweder nur diejenigen angenommen, die besonders gute Resultate in ihrem Schulabschluss und dem Eignungstest erzielt haben oder unter der Hand das nötige Kleingeld bezahlt haben. Ihr Wissen müssen sie alle allerdings ständig in Klausuren und Prüfungen unter Beweis stellen. Sie kämpfen darum einmal Arzt sein zu dürfen und ein geregeltes Einkommen zu haben. Meine Freunde erzählen mir, dass sie sehr hart für ihr Ziel arbeiten.
Wir betreten schließlich das Zimmer der Mädchen. Zu viert teilen sie sich einen kleinen Raum für die gesamte Zeit des Studiums. Vier Betten sind an die Wand geschoben, darunter befinden sich Kisten mit ihren Habseligkeiten. „Nur das Nötigste haben wir mitgebracht“, erklärt Ankur mir. „Hier ist nämlich nicht so viel Platz“.
Nur wenig Kleidung und wenige persönliche Gegenstände sind im Zimmer verstreut, dafür aber jede Menge Bücher. Sie stapeln sich auf den Betten, auf dem Boden, auf der Fensterbank und auf dem Schreibtisch. Dazu andere medizinische Untensilien: menschliche Knochen, Plakate mit Organen und Dinge, von denen ich nicht weiß, was sie sind und wofür sie zu gebrauchen sind. Die Mädchen erzählen mir, dass es manchmal schon sehr schwierig sei, sich zu viert einen kleinen Raum zu teilen. Erst recht, wenn die einen reden und die anderen lernen wollen. Ab und zu gebe es auch mal Streit, aber im Großen und Ganzen seien sie froh, nicht alleine zu sein. Sie alle vermissen ihre Freunde und Familien und genießen es, sich auch mal austauschen zu können. Ganz überrascht sind sie, als ich ihnen erkläre, dass ich alleine wohne. Ein bisschen neidisch bin ich schon, denn obwohl mir die Ruhe nach einem anstrengenden Tag gut tut, fühle ich mich manchmal doch ein bisschen einsam. Sofort versprechen sie, mich demnächst abends zu besuchen und mir Gesellschaft zu leisten.
Nachdem wir gemeinsam gegessen, miteinander geredet und gelacht haben, beschließen wir, zum Film Festival an der Universität zu gehen. Mehrere Tage lang werden verschiedenste Filme im größten Versammlungssaal auf einer Leinwand gezeigt. Sie alle sind ganz aufgeregt und machen sich hübsch für dieses Ereignis, zu dem viele Studenten ihre Bücher liegen lassen und zusammenkommen. Besonders ausgiebig kämmen die Mädchen ihr Haar, wechseln ihre Kleider und tragen ein bisschen Make-up auf. Eines der Mädchen verrät mir, dass sie heimlich einen Freund an der Uni habe, für den sie sich jetzt besonders schön machen wolle. Sie verspricht mir, ihn mir später vorstellen – natürlich nur, wenn ich nichts verrate!
Wir sehen uns einen indischen Film an, der den Titel „Ek Tha Tiger“ („Ein Tiger“) trägt. Es handelt sich um einen romantischen Actionfilm, in dem natürlich Gesang und Tanz nicht fehlen dürfen. Links sitzen die Frauen, rechts die Männer. Die Lichter gehen aus und als der Film beginnt, schmerzen meine Ohren – so laut habe ich ein Kino noch nie erlebt. Zunächst wird es ganz still im Saal, alle sehen sich ganz gespannt den Vorspann an.
Ein Superagent mit dem Codenamen „Tiger“ verliebt sich wider Willen in eine junge Frau, die sich jedoch als Agentin der Gegenseite entpuppt. Für ihre Liebe lassen sie jedoch alles stehen und liegen, verraten ihren Arbeitgeber und fliehen zusammen, um sich ein friedliches Leben fernab von Spionage und Gewalt aufzubauen. Verfolgungsjagden, Schlägereien, Explosionen, Tanz und Gesang, Romantik, Schießereien, Dramatik, Spannung…
Und all dies wird vom Publikum lautstark kommentiert; sie fiebern alle mit, während mir der Film überladen vorkommt. Überladen an Emotionen, unrealistischen Stunts und Klischees. Tiger, der seine Geliebte erobert oder den Gegner vermöbelt, wird lauthals bejubelt und beklatscht. Bei lustigen Szenen lachen alle herzhaft und als es dann ganz spannend wird, stehen viele auf und rufen „nein, geh nicht da lang! Da steht jemand hinter der Ecke!“. Ich bin amüsiert und beeindruckt zu gleich: Einen solchen Lautstärkepegel hätte ich im Kino nicht ewartet, wo es doch in Deutschland schon als unhöflich gilt, seine Snacks zu laut zu zerkauen. Mich beeindruckt jedoch, dass alle Anwesenden den Film ganz und gar genießen, mit den Protagonisten mitfiebern und viel Spaß haben.
Immer wieder schaue ich zu den Anderen hinüber – die Emotionen des Films spiegeln sich haargenau in den Gesichtern der Studenten wieder. Besonders amüsant finde ich auch, dass bei abenteuerlichen Actionszenen von rechts, also von Seiten der Männer, laute Rufe und kräftiges Klatsches ertönt. Bei romantischem Kitsch seufzen die Frauen auf der linken Seite im Chor. Alle wippen, schunkeln und singen mit, als die Tanzszenen beginnen…
Mir kommt der Film überspitzt, unrealistisch und theatralisch vor. Die deutsche, amerikanische oder europäische Filmkultur bedient sich ganz anderer Mittel. Die extreme Art der Schauspieler Emotionen darzustellen und der Einsatz von pathetischer Musik ist für mich sehr ungewohnt. Hier scheint es jedoch keinen zu stören. Alle sind begeistert! Es sei der spannendste, lustigste und schönste Film seit langem gewesen, davon sind meine Freundinnen überzeugt. Kein Wunder, dass der Film bereits Millionen eingespielt hat!
Als ich nach Hause fahre, bin ich beeindruckt von diesem Erlebnis: Eigentlich war ich nur mit ein paar Freundinnen im Kino. Ein scheinbar ganz normales Ereignis. Jedoch waren diese drei Stunden gefüllt mit so vielen verschiedenen Emotionen, dass ich wirklich das Gefühl habe, auch durch diese alltägliche Aktivität einen großen Einblick in die (Film-)Kultur Bangladeschs und Indiens bekommen zu haben.