Menschen und Gesellschaft
Es ist Feierabend und ich gehe langsam die Veranda des GUK-Gebäudes entlang, in deren Mitte sich der Eingang zu meinem Zimmer befindet. Ungefähr auf gleicher Höhe sehe ich eine Menschenmenge von etwa 20 Bangladeschis: auf dem Boden sitzend, stehend, sich lebhaft unterhaltend, rauchend. Als sie mich erblicken, wenden sich fast all ihre Blicke mir zu. Sie haben ihren neuen Nachbarn schon bemerkt und nutzen nun die Gelegenheit, mich genauer unter die Lupe zu nehmen und ausgiebig zu mustern. Ich begrüße sie und frage auf Bengalisch, wie es so geht, woraufhin ich von ihnen sofort umringt werde und mir in der Landessprache verschiedenste Fragen gestellt werden. Ich beantworte die am häufigsten gestellten Fragen nach Familienstand, Geschwistern und Herkunft und gebe dann lächelnd zu verstehen, dass mir für weitere Auskünfte die Sprachkenntnisse fehlen. Damit habe ich den größten Teil ihrer Neugierde befriedigt und kann nun getrost mein Zimmer betreten und die mir freundlich hinterher schauenden Gesichter und tuschelnden Stimmen hinter mir lassen.
Meine Nachbarn sind überwiegend Hilfskräfte, die bei GUK beispielsweise in der Küche tätig sind und nicht die Möglichkeit hatten, eine höhere Bildung abzuschließen. Sie wohnen - anders als ich - teilweise zu viert in ihren Zimmern und anstatt sich abends zurückzuziehen, sind sie lieber in Gesellschaft und plaudern am liebsten über den Alltag sowie über andere Menschen um sie herum.
Wie mir beim Abendessen mit zwei Studenten bestätigt wird, ist es auch bei ihnen nicht viel anders. Sie gehören eher der oberen Gesellschaftsschicht an und sind hier als Übersetzer tätig. Auch sie lästern abends am liebsten mit Freunden über andere oder unterhalten sich über wichtigere Dinge.
Schon bald nach meiner Ankunft gewinne ich den Eindruck, dass soziale Kontakte in Bangladesch der Schlüssel zur Kultur in diesem Land sind. Es herrscht im Allgemeinen ein anderer Umgang miteinander, als ich es von Deutschland gewohnt bin. Das wird mir auch im Arbeitsalltag bewusst. Die Stimmung ist familiärer und herzlicher den Kollegen gegenüber. Schnell ist man kein Fremder mehr, sondern wird vielmehr als Freund verstanden - sofern man auch bereit ist, die Freundschaft zu erwidern.
Ich sitze wieder beim Abendessen an einem Tisch mit zwei weiteren Gästen von GUK. Es handelt sich um zwei Ärzte, die hier Schulungen für medizinische Hilfskräfte in abgelegenen Gebieten, in denen es kaum Zugang zur medizinischen Versorgung des Staates gibt, durchführen. Nach kurzer Vorstellungsphase beginnen wir eine angeregte Unterhaltung auf Englisch über Politik, Religion, Gesellschaft und verschiedene Länder, die wir jeweils kennen oder besucht haben. Einer von ihnen hat in Russland studiert und hat sehr gute Kenntnisse über Deutschland. Er lädt mich nach unserem Gespräch ein, seine Familie kennen zu lernen und sie übers Wochenende besuchen zu kommen. Außerdem wird mir angeboten, rund um die Uhr anrufen zu können, falls ich Hilfe bei medizinischen Fragen habe.
Ich bin von der weltoffenen Art, ihrem Wissen und der Gastfreundschaft beeindruckt. Nach nur 20 Minuten Unterhaltung wird mir so viel Offenheit, Interesse und Herzlichkeit entgegen gebracht! Fast fühle ich mich etwas beschämt, wenn ich daran denke, dass ich ihn in Deutschland in einer vergleichbaren Situation wohl nicht gleich zu mir nach Hause eingeladen.
Beim nächsten Abendessen ergeht es mir nicht viel anders. Ich erzähle von meinen Interessen für Musik und Kunst und werde daraufhin von einem anderen Gast, der für eine bangladeschische NGO arbeitet, auf ein kulturelles Festival und zu einem Treffen mit einem bangladeschischen Dichter eingeladen. Ich freue mich über den Vertrauensvorschuss, den man mir gewährt und über die uneigennützige Unterstützung meiner Vorhaben und Interessen. Der Respekt und die Wertschätzung, die man den Menschen gegenüber zeigt, trifft hier auf fruchtbaren Boden und wird gerne erwidert.
Gewiss genieße ich als Ausländer einen gewissen Bonus und errege mehr Interesse als manch ein Bangladeschi, jedoch kann sich dieses Interesse auch schnell erschöpfen, wenn man nicht bereit ist, sich auf die Kultur des Landes, ihre gesellschaftlichen Regeln, die Menschen selbst einzulassen und hier und da eine Überraschung zu erleben.
Diese Offenheit nur für seine eigenen Ziele auszunutzen, würde schnell in eine Sackgasse führen, glaube ich. Deshalb versuche ich hier und da auch etwas von mir Preis zu geben, meine Hilfe anzubieten oder auch Erfahrungen und Persönliches mitzuteilen. Zwar kann es auch etwas anstrengend sein, die immer gleichen Fragen zu beantworten und sich an gesellschaftliche Normen anzupassen, aber die entgegen gebrachte Freundlichkeit nicht zu erwidern, wäre auch nicht viel einfacher.