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Leben zwischen zwei Welten

Ein Bangladesh, wo sich keine Menschen auf den Asphalt ergießen, sondern Pflanzen und Tiere neben mächtigen Strömen dem Meer entgegengleiten. Wo nicht der Smog, sondern das Staunen über das Zusammenspiel zwischen Elementen und Lebewesen des Atems beraubt.
Die Sundarbans, Heimat des bengalischen Tigers, lassen die Metropolen Bangladeschs vergessen. Aber auch mit dem ländlichen Panorama hat diese Begegnungsstätte zwischen den drei Flüssen Meghna, Brahmaputra und Ganges und dem Ozean nicht viel gemein. Die Reisfelder weichen einem von 450 Flussarmen durchzogenen Mangrovenwald, die Rickschas werden hier von Booten ersetzt: An Bord der "Banabibi" begeben wir uns auf eine Entdeckungsreise.

Von jeher fühlte sich der Mensch in dieser überwältigenden Landschaft beidseits der natürlichen Grenze zwischen Ost- und Westbengalen eher als Gast denn als Eroberer. So beschwor er schützende Kräfte herauf, die wie Banabibi im Mythos wurzeln. Von ihren Eltern im Wald ausgesetzt, wurde sie nach der Sage von einem Hirsch großgezogen. Dank ihrer übernatürlichen Fähigkeiten gelang es ihr, sich bei den Waldgeistern Respekt zu verschaffen und sogar auf einem Tiger zu reiten. Noch heute bitten die Einheimischen, bevor sie sich in den Wald wagen, Banabibi um Verzeihung für ihr doch lebensnotwendiges Walten in deren Reich und damit um ein sicheres Geleit. Sie bieten der Freundin des Waldes Blumen und Gebäck dar, Tieropfer würden sie nur erzürnen.
Wie Sage und Realität in den Sundarbans fließend ineinander übergehen, sind Grenzen schwer auszumachen in dieser Welt, die vom Wechsel geprägt ist.
Kaum ausgetrocknet, verwandelt sich der Sumpf mit jeder Flut wieder in Meeresboden. Die Flüsse ihrerseits hemmen die Invasion des Ozeans, wenn in der Regenzeit Bergquellen und Monsunwolken sie mit Süßwasser schwer beladen. Über die Wasserwege, die ein Drittel des sechstausend Quadratkilometer großen Schwemmlandes ausmachen, interagieren also zwei entgegengesetzte Strömungen.

Die Mischung von Salz- und Süßwasser (Brackwasser) führte zu besonderen Überlebensformen von Flora und Fauna. Da, wo kein normaler Baum gedeihen könnte, bieten die Sundaris ihre Kronen dem Himmel dar. Diese Mangrovenart, von welcher der Name der Sundarbans wahrscheinlich entliehen wurde, atmet zusätzlich durch oberirdische Wurzeln. Hölzernen Stalagtiten ähnelnd, und etwa zwanzig Zentimeter hoch reihen sie sich um die Bäume, denen sie Nahrung und Sauerstoff liefern.Der Wald verwandelt sich in eine Mondlandschaft.

Die Sundarbans haben viele Gesichter: Steppenähnliche Wiesen gehen in Dschungelstücke mit Palmen, Farnen und Hibiscusbäumen über, um plötzlich in perlenbestickten Sandstränden zu enden. Kostbar wie ein Sari sieht der Strand aus, den künstlerische Krebse mit schwarzen Kügelchen aus angespülten Mineralien verziehren, deren Lichtreflexionen sich in alle Richtungen ergießen.

Sechs Stunden später, Ebbe.
Auf den Rändern der Flussbette hat das Wasser kleine Fische zurückgelassen, die scheinbar hilflos im Schlamm zappeln. Mitleid ist jedoch unangebracht, denn wir haben es mit "mudskippers" zu tun. Auch sie sind an das Leben zwischen den Gezeiten perfekt angepasst: Fortbewegen können sie sich mit ihren umgebildeten Seitenflossen, und atmen, indem sie kleine Wasserreserven im Mund behalten.

Unweit, auf den angrenzenden Wiesen, können Rehe und Hirsche nun trockenen Hufes grasen. Auch der Tiger streift wieder im Wald umher, verlässt seinen Trockenplatz. Normalerweise sind Tiger keine große Gefahr für Menschen, jene aber, die einmal Menschenfleisch gefressen haben, lassen nicht mehr davon ab. Wir sind uns ihrer Nähe, von der die krallenzerfurchten Bäume auf den "Tiger-Hills" zeugen, stets bewusst; dennoch ist es ein Glücksfall, eines der zweihundert Exemplare zu Gesicht zu bekommen.

Dafür entschädigen jedoch die ungefähr dreihundert anderen Tierarten. Ein Schaudern löst das Krokodil aus, wenn es mit aufgerissenem Maul in seine Jagdgründe gleitet, eine unerwartet nahe Urzeit wieder hervorrufend. Daneben bevölkern Kingfisher mit ihren roten Schnäbeln, die gleich blau-orangenen Pfeilen über die Wasserflächen schießen. Affenfamilien toben durch die Baumkronen und Delphine spannen Silberbögen von Welle zu Welle. Ein paradisisches Jetzt! Welches auch den Menschen offensteht.
Der Fischer, der auf den pechschwarzen Planken seines Bootes Netze flickt, scheint nur zu natürlich dazuzugehören. Es ist Flut, wie schon sein Vater spannt er seine Netze, setzt sich unter das geflochtene Bastdach - und wartet. Jedoch nicht auf prächtige Fische hofft er, sondern darauf, dass sich möglichst viele der unscheinbaren Shrimplarven in seinen Blechtöpfen einsammeln. Schon der Verkauf von hundert dieser Würmchen sichert ihm das tägliche Überleben. Drei Monate im Salzwasser der Teiche rund um die Sundarbans verwandeln die Babyshrimps in begehrte Delikatessen, die zum fünfzigfachen Preis exportiert werden. Delikat sind die Auswirkungen dieser so wichtigen Industrie auf das Ökosystem Bangladeschs aber nicht: Beim Raussuchen der Shrimplarven lässt der Fischer den Rest des Fangs (ca. 300 Arten) verkommen, wodurch die Vielfalt der Wasserlebewesen zu schwinden droht. Die Züchter ihrerseits reichern das Wasser der Teiche mit Salz an, was nicht nur den Boden dort unfruchtbar macht, sondern auch das Gleichgewicht von Salz- und Süßwasser durcheinanderbringt. Des Weiteren verringern indische Staudammprojekte den Süßwasserzufluss nach Bangladesch. Die Gruppen von ausgezehrten Sundaris, die ihre sterbenden Köpfe geknickt hängenlassen, sind das traurigste Zeugnis dieses Salinationsprozesses.

Wir wundern uns über einen spiralförmig in sich verdrehten Stamm - denn statt im Wald zu stehen, liegt er zwischen vielen anderen auf einem überladenen Boot. In dieser Weise verschiffen die Bawalis (Holzfäller) jedes Jahr achtzehn Tausend Kubikmeter Holz in die Schreinereien Bangladeschs, wo die eigenwilligen Formen begradigt und zu Möbeln verarbeitet werden. Einundsechzig Tausend weitere Kubikmeter Holz gehen den Sundarbans jährlich als Brennstoff und dreiundsechzig Tausend als Grundlage für die Papierherstellung verloren. Die Anzahl von Sundaris sank im Laufe der letzten vierzig Jahre von vierunddreißig auf zwei Bäume pro Hektar. Die Sundarbans selber bedecken nur noch die Hälfte des von ihnen im siebzehnten Jahrhundert eingenommenen Gebietes, sei es wegen der Abholzung oder des Landbedarfs der wachsenden Bevölkerung.
Den 1997 zum Weltnaturerbe erklärten Wald zu bewahren, ist die eigentliche Aufgabe des forest departments, das jeglichen Eingriff in das Ökosystem verhindern soll. Doch auf den eigenen wirtschaftlichen Vorteil bedacht und schlecht ausgerüstet, drücken die Waldschützer gegen entsprechende "Gebühr" ein Auge zu. Trotz seiner Berufung zum Schutz der Sundarbans lässt das Umweltministerium ausländische Firmen Öl und Gas auch in Gebieten fördern, die es selbst von Bohrungen ausnehmen wollte. Der Wald ist bereits umgeben von Stahltürmen und Tanks, welche zwar die Schätze des Untergrundes ans Tageslicht bringen, dabei aber die oberirdischen zu begraben drohen, vor allem weil Öl und Chemikalien das Wasser kontaminieren.
Die unbedachte Eroberung, im Kleinen wie im Großen, zehrte an den Kräften des Waldes. Geschwächt, verliert er an Schönheit, Vielfalt und auch die Fähigkeit, Tier und Mensch Lebenssubstanz zu spenden.

In ihrer langen Beziehung zu den Sundarbans haben es einzig die Mouals geschafft, respektvolle Besucher des Waldes zu bleiben. Drei Monate jährlich waten sie durch die Welt der Mangroven, suchen selbst im verborgensten Winkel nach ihrer Ambrosia, dem natürlichen Honig. Und stören nicht.

Die Besucher reisen in die Sundarbans, auf der Suche nach Tigern, Natur, Abenteuern. Ebbe bei Sonnenuntergang, Wald und Wasser schrumpfen unter dem immer mächtiger werdenden Himmel, dessen diffuse Farben in eine klare Schwärze übergehen. Was bleibt von den Sundarbans? Ein Ruf zum Respekt - zum respektvollen Versuch zu Verstehen - zur Teilnahme. Zum Lieben dieses Landes der Übergänge.

1997 wurden die Sundarbans von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt.

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