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Leben in Boxen

Die Welt war Chaos. Die Welt war eine unförmige Masse. Keine Konturen waren auszumachen. So, oder so ähnlich, beginnen viele Schöpfungsmythen. Sie sagen aus, dass es nichts Unterscheidbares gab, bis eine göttliche Macht sich anschickte der Welt ein spezifisches Gesicht zu verleihen. Wenn man die Erde aus einer konstruktivistischen Perspektive heraus betrachtet, kann man zu der Ansicht gelangen, dass das was Gott in Bezug auf die Welt gemacht habe, der Mensch für sich im Kleinen tue. Um sich in dem Chaos an Menschen und Dingen welches ihn umgibt zurechtzufinden, baut er sich Klassifikationen und grenzt Bereiche voneinander ab.

"Wir sind Oraon. Eine bestimmte Adivasi-Gruppe," sagen die Eltern von Schülern einer Ashrai- Grundschule zu mir. "Warum?" frage ich sie. Keiner antwortet. Die Frage scheint zu unverständlich. "Was unterscheidet euch von anderen?" "Nun," ein alter Mann beginnt zögernd, "wir essen zum Teil ein wenig andere Nahrungsmittel und zu Hause sprechen wir unsere eigene Sprache Sadri und nicht Bengalisch." "Wir feiern unsere Feste auch ein wenig anders und vor allem heiraten unsere Kinder nur jemanden aus unserer Gruppe. Sie könnten keinen Muslim heiraten," fügt eine Frau hinzu.

Ein hinduistischer Mythos erzählt, dass die meisten Menschen aus den verschiedenen Körperteilen eines kosmischen Urmenschen geschaffen wurden. Allerdings gäbe es eine kleine Gruppe von Menschen, die nicht von diesem abstamme. Von vielen Hindus wird dies als Legitimation angeführt, warum es einige Personen gibt, die dazu bestimmt sind eine schlechtere Position in der Gesellschaft einzunehmen. Viele dieser Leute bezeichnen sich heute selber als Dalits (zu Deutsch: die Zerbrochenen). Zu diesen gehört auch die Gruppe der Harijon.

"Harijons wurden vor allem von den Briten zur Kolonialzeit hier angesiedelt, um niedrige Arbeiten wie die Müllbeseitigung zu erledigen. Auch meine Familie kam aus diesem Grunde vor drei Generationen aus dem Gebiet des heutigen Indien hierher." Die alte Frau, die mir das erzählt, sitzt an einen Türrahmen gelehnt, neben ihr bröckelt der Putz von der Wand. Wenn ich ihrem Blick folge und meinen Kopf nach draußen richte, stößt mein Auge auf enge Gassen und viele weitere kleine Häuser. Sie gehören zu einer Kolonie, in der die Harijons von der britischen Kolonialverwaltung angesiedelt wurden und wo die meisten noch heute leben. Ob sie gerne ausziehen würde, frage ich sie. "Es wäre mir zu unsicher woanders hinzuziehen. Hier ist die Wohnsituation zwar sehr schlecht, aber wir leben alle zusammen und keiner kann uns etwas tun," entgegnet sie mir.

Alle Kinder und Jugendlichen in einem Jugendzentrum der Kolonie reißen den Arm in die Höhe, als ich sie frage, wer von ihnen später außerhalb wohnen möchte. Doch wie werden sie das schaffen, merkt ein Mitarbeiter an: "Wir tun alles dafür, dass diese Kinder einen guten Schulabschluss erhalten und manche von ihnen gehören zu den Klassen besten Doch später werden sie nur schwerlich einen anderen Beruf finden, als eine Anstellung als Straßenreiniger die ihre Familien schon seit Generationen innehaben. Der größte Teil der Gesellschaft hat Vorurteile und denkt, dass wir dumm sein und keine andere Tätigkeit verrichten könnten." Ein Mädchen schaut mich an. Sie hat es sich anders überlegt: "Vielleicht möchte ich doch nicht wegziehen. In unserer Gemeinschaft gibt es so viele Probleme. Ich möchte mithelfen diese zu beseitigen und dafür muss ich bei meinen Leuten leben," erklärt sie mir.

In einem Dorfbereich, in dem ausschließlich Dalits (kastenlose Hindus) leben hat sich schon wieder eine große Anzahl von allen möglichen Leuten aus den ganzen Dorf versammelt um mich, die Ausländerin zu betrachten. Eigentlich wollte ich in Ruhe ein Interview mit einer Dalit-Familie machen – eigentlich. Die einfachen und sicheren Fragen nach Arbeit, Einkommen und Familiensituation habe ich hinter mir. Ab jetzt bin ich mir unsicher. Studienergebnisse zeigen, dass viele Dalits keine Feierlichkeiten von Muslimen oder höher gestellten Hindus besuchen dürfen, da dies Unglück bringen würde. "Wenn hier im Dorf bei einer muslimischen Familie eine Hochzeit gefeiert wird, geht ihr dann hin?" Selbstverständlich seien bei einer solchen Feierlichkeit alle eingeladen, wird mir von allen Seiten versichert. Heute würden nur wenige Hindus im Dorf sein, da sie sich alle, von Kastengrenzen unbeeinflusst, auf einer großen religiösen Feierlichkeit beim alten Basar in Nozipur befinden, erzählt mir ein Mann. Ich zweifle ein wenig an seiner Aussage, doch als wir später zu dem angegebenen Ort fahren treffen wir dort tatsächlich viele Dalit-Frauen.

"Uns ist es untersagt auf jegliche religiöse Feier zu gehen. Niemand würde Essen mit uns teilen wollen," sagen mir die Mitglieder einer Frauengruppe in einem anderen Dorf. In ihrem Dorf leben nur Dalits. "In der letzten Zeit gab es hier viele Probleme," sagt ein Mann zu mir. Sie führen mich zu einer Hütte am Rand des Dorfes. In ihr sitzt ein Mann, dessen Haut viele Brandblasen aufweist. "Muslime haben ihn mit falschen Versprechungen in ein Waldstück gelockt und mit heißem Wasser übergossen," sagt der Mann, der mich zu dem Haus geführt hat. "Wir hatten Glück: eine Frau hat den Vorgang mitbekommen und ist in unser Dorf gekommen, um uns Bescheid zu sagen," erläutert einer der Umstehenden weiter. "Wer war diese Frau und wer waren die Männer." "Die Männer besitzen einen Laden am Marktplatz. Die Frau wohnt dort in der Nähe. Sie alle sind Muslime." "Habt ihr jetzt Angst, wenn ihr euch jetzt außerhalb eures Dorfes bewegt." Alle Umstehenden blicken mich selbstbewusst an. "Nein, wir lassen uns doch nicht so einfach Angst machen. Alle Menschen in den anderen Dörfern sind auch nicht so. Als wir in den Tagen nach dem Vorfall auf den Markt gegangen sind, haben uns einige Leute darauf angesprochen und uns versichert, dass sie solche Geschehnisse ablehnen." "Warum ist es passiert? Habt ihr eine Erklärung dafür?" Schulterzucken. Ein Mann fängt an etwas zu sagen. "Vermutlich war ihnen einfach nur langweilig," fällt ihm ein anderer ins Wort.

"Die in den Dörfern lebenden Adivasi teilen eine Tradition, die von der starken Verbindung zur Natur und zum eigenen Land, einer ganzheitlichen und das gesamte Leben durchdringenden Religion, traditionellen Tänzen, Musik und Festen in der Dorfgemeinschaft getragen wird," heißt es bei Wikipedia. So schön romantisch dies auch klingt, so mag der Wahrheitsgehalt dieser Aussage doch angezweifelt werden. Auch das Leben der Adivasi ist von einem beständigen Wandel geprägt und ihr Lebensstil ist vermutlich komplexer und widersprüchlicher, als wir es wahrhaben wolle.

In zwei Generationen werden viele Oraon vielleicht schon kein Sadri und damit keine eigene Sprache mehr sprechen. Trotz aller Schwierigkeiten werden mehr und mehr Harijons aus den Kolonien ausziehen. Und was für heute gilt, gilt auch für gestern. Als die Briten die Harijons zum Sauber machen in diese Gegend brachten, haben sie diese als klar definierte Gruppe markiert und vielleicht stärker marginalisiert, als das davor der Fall war. Zu verschiedenen Zeiten hat man verschiedene Gruppen als Adivasi oder auch als Kastenlose bezeichnet. Die vielen Teile, die entstanden sind, als sich die Dinge bei der Weltschöpfung aus der Nicht-Unterscheidbarkeit gehoben haben, sind seit dem nicht zum Stillstand gekommen.

Ich frage einen Angehörigen der Bede (muslimische Flussnomaden) ob er, da er doch in Indien und Bangladesch reise, nun Inder oder Bangladeschi sei. "Das kommt darauf an, auf welcher Seite der Grenze ich mich befinde. Wenn ich nach Indien einreisen will, bin ich Inder. Wenn ich nach Bangladesch will, bin ich Bangladeschi. Für mich persönlich weiß ich es selber nicht so genau. Einen Pass besitzt keiner von uns." In einem Ein-Mann-Rollenspiel auf Hindi und Bengalisch demonstriert er mir schnell noch die Rede, die er den Grenzbeamten halten würde, um sie zu überzeugen ihm die Weiterfahrt zu gestatten. Ich bin überzeugt. Wäre ich Grenzbeamtin, so würde ich ihn durchlassen.

Doch viele Bede wollen und können nicht mehr umherziehen. "Doch wenn wir uns irgendwo niederlassen, behandeln uns die Leute schlechter als wenn wir herumreisen. Wir passen nicht mehr zu ihren Vorstellungen," sagen die Männer eines in den letzten Jahren erbauten Bede-Dorfes zu mir.

In der Shilpakala Academy in Dhaka findet momentan eine Ausstellung mit dem Titel "Khachar bhitor auchin rishi" statt, zu Deutsch: In einer Box ungesehen eingesperrt befindet sich ein Rishi. (Rishi ist die Bezeichnung für eine bestimmte Dalit-Gruppe). Wenn man den Ausstellungsraum betritt sieht man Fotos und Alltagsgegenstände hinter hölzernen Gitterstäben und hört über Lautsprecher Interviewfetzen, in denen Rishis über ihre Probleme in der Gesellschaft berichten. In der Box gibt es ausreichend Luft zum Atmen, relativ viel Platz zum Leben, aber wenn man nach draußen blicken will, werden einige Holzbalken die Freiheit des Blickes einschränken.

Eine Welt ohne Boxen, ohne Unterscheidungen von du und ich, Deutschland und Bangladesch ist vermutlich unmöglich und auch nicht wünschenswert, wenn wir nicht wollen, dass die Welt erneut im Chaos des Nichts verschwindet. Vermutlich kann man auch nicht verhindern, dass dem Menschen manchmal langweilig wird, aber wenn die Anzeichen richtig sind und wir wirklich Anteil an der Gestaltung der Welt haben, liegt es auch an uns, wie wir unsere Boxen und Gitterstäbe aufstellen.

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