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Kuhmarkt

Auf dem Markt in Dhaimorhat gibt es vermutlich alles zu kaufen, was man zum Leben in Bangladesch gebrauchen kann. Unter kleinen Verkaufshüten bieten die Verkäufer ihre Waren feil: Saris, Küchengeräte, Schuhe, Gewürze und zwischen drin geröstete Erdnüsse und Tee für alle, die der Markttag erschöpft hat. Wenn man sich durch den ersten Teil des Marktes gekämpft hat stößt man in der hinteren linken Ecke auf einen Ort, an dem nicht so schnell zu erkennen ist, was hier verkauft wird. Auf dem relativ leeren Platz hat sich eine große Menge von Männern angesammelt. In kleineren, sich immer neu formierenden Gruppen stehen sie zusammen. Es wird laut diskutiert und verhandelt und nur ein gelegentliches Muhen und der Dung auf dem Weg lassen erahnen, dass sich zwischen ihnen wohl Kühe befinden müssen, um deren Wert gestritten wird.

Als wir dort ankommen wartet schon eine große Anzahl von Menschen ungeduldig auf uns. Es sind Mitglieder des von NETZ bei meiner Partnerorganisation Ashrai unterstützten Projektes „Ein Leben lang genug Reis“. Dieses Projekt richtet sich an extrem arme Menschen und möchte ihnen durch die Bereitstellung eines gewinnbringenden Kapitals wie einer Kuh oder einem Gemüsegarten eine Einkommensquelle und damit einen Weg aus der Armut ermöglichen.

Um die Beteiligten auf diesem Weg zu begleiten wurden in den Dörfern Frauengruppen gegründet. Vermittelt durch die Mitarbeiter von Ashrai haben die Frauen in den letzten Wochen Informationen über den Ablauf des Projektes bekommen. Ebenso haben sie an einem zweitägigen Training über Kuh-, Gans- und Schafhaltung teilgenommen. Neben den ökonomischen Aspekten soll die Aufnahme in eine solche Gruppe den Frauen auch helfen sich ihrer Rechte bewusst zu sein und eine einflussreichere Rolle in der Gesellschaft und - nicht zuletzt auch durch das Einbringen einer Einkunftsquelle - in ihrer Familie zu spielen.

Für einige der Frauen, die sich dafür entschieden haben eine Kuh haben zu wollen, ist heute der große Tag gekommen, an dem sie das Tier in Empfang nehmen werden. Deswegen sind sie zum Markt gekommen. Doch sie sind nicht allein gekommen. Alle haben sie ihren Mann oder Sohn mitgebracht. In Bangladesch ist es für Frauen nicht üblich auf einen Kuhmarkt zu gehen. In vielen Gruppen, die ich im Vorfeld besucht hatte, gaben die Frauen an, gar nicht mit auf den Markt gefahren zu sein. Hier sind alle Frauen mitgekommen. Man mag es als Fortschritt sehen, dass sie heute hier sind. Nachdem ihre Männer von den Ashrai- Mitarbeitern noch einige letzte Informationen über den Ablauf des Kuhkaufes bekommen haben ziehen sie los, um eine Kuh auszusuchen und sind schon bald in der Menschenmenge verschwunden. Es wird gut vierzig Minuten dauern, bis der erste mit einer Kuh am Strick zusammen wieder herauskommen wird.

Für die Frauen heißt es nun warten. Die meisten lassen sich in der Nähe des Markthauses, in dem das Geld und eine Verkaufsbescheinigung am Ende von einer Hand in die andere wechseln werden, nieder. Eine kleine Gruppe von fünf Frauen macht sich allerdings auf den Weg an den Rand des Marktplatzes. Ich entschließe mich ihnen zu folgen. Zwei von ihnen fangen selber an einige Kühe zu mustern, allerdings eher aus Zeitvertrieb als von dem ernsten Wunsch getrieben eine dieser Kühe zu erstehen.

Nur wenige Minuten später hat sich um uns eine größere Menschenansammlung geschart als um jede Kuh des Marktes. Ich, aber auch die anderen Frauen, werden mit unzähligen Fragen traktiert. Ich wünsche mir, wie so oft, unsichtbar zu sein, um nicht zu beeinflussen, aber trotzdem sehen zu können was passiert, wenn sich die Frauen ohne mich - die Ausländerin, die zwangsläufig von jedem angestarrt wird - in den Kuhmarkt gewagt hätten. Nach fünfzehn Minuten wird es uns allen zu viel und wir gehen wieder zurück zu den Anderen.

Die meisten der Frauen sitzen in Gruppen vor dem Haus und unter einem Baum zusammen. Es wird geredet und gelacht, viele kleine Kinder leisten ihnen ebenfalls Gesellschaft. Mein Blick fällt auf das Markthaus. Eine einzige Frau hat sich nicht unter die Anderen gemischt, sondern betrachtet von dort aus dem Fenster das Treiben. Sie scheint Muslimin zu sein.

Die Projekte meiner Partnerorganisation richten sich vor allem an Adivasi. Dies trifft auch auf die das Projekt „Ein Leben lang genug Reis“ von Ashrai zu. Übersetzt bedeutet das Wort Adivasi soviel wie Ureinwohner. Mit diesem Begriff werden in Bangladesch ganz verschiedene Gruppen bezeichnet, die sich durch Merkmale wie Sprache, Kultur und Religion von der bengalisch- muslimischen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. In Bangladesch sind diese häufig vielfachen Benachteiligungen ausgesetzt. Die wenigsten von ihnen besitzen eigenes Land und viele gehören zu den Ärmsten. Neben achtzig Prozent Adivasi wurden aber auch zwanzig Prozent Muslime aufgenommen. Eine – von diesen zwanzig Prozent – steht jetzt, wie mir mein Kollege bestätigt, hinter dem Fenster des Häuschens.

Im Allgemeinen kann man sagen, dass es in Bangladesch häufiger zu Schwierigkeiten zwischen Nicht-Adivasi und Adivasi kommt. Immer wieder wird von Versuchen Einzelner berichtet sich unrechtmäßig Land von Adivasi, die zumeist keine Besitzurkunde haben, an zueignen. Kinder von Adivasi- Familien sollen in der Schule stärker von Mitschülern und Lehrern ausgegrenzt werden als andere.

In der Wirklichkeit des Dorfes erscheint mir bei all meinen Interviews und Beobachtungen alles um einiges komplizierter zu sein. Allein die Dörfer sind schon sehr verschieden. Es gibt Dörfer mit wenigen Adivasi, Dörfer mit wenigen Muslimen, Dörfer in denen ausschließlich Adivasi oder Muslime leben, solche wo die Viertel der Einen deutlich von den Vierteln der Anderen getrennt sind und solche, wo sich die Lebensbereiche vermischen. In den Frauengruppen von Ashrai präsentiert sich ein ähnliches Bild. Es gibt Gruppen denen ausschließlich Adivasi angehören und solche in denen sie die Mehrheit oder Minderheit bilden. Um das Ganze noch komplizierter zu machen gibt es noch unterschiedliche Adivasi-Gruppen, Untergruppen und Religionszugehörigkeiten – viele sind Hindus oder Christen. Man könnte davon auszugehen, dass sich die oben genannten Konstellationen und Probleme auch in den Gruppen spiegeln. Doch auch hier bringen mich die Antworten auf meine Fragen nicht unbedingt weiter, sind sie doch so vielfältig und bunt, dass sie sich weigern ein Muster zu formen. Es ist ein wenig so, wie in einem Lexikon zu blättern und verzweifelt zu versuchen einen Zusammenhang zwischen Abfallwirtschaft und Violine, der doch da sein muss, da die beiden Wörter schließlich in einem Buch versammelt sind, herzustellen.

Die Frau im Häuschen hat inzwischen ihre Position gewechselt und schaut nicht mehr aus dem Fenster, sondern aus der Tür hinaus. Neben ihr tut es ihr ein kleines Mädchen - vermutlich ihre Tochter - gleich. Kennt sie die anderen nicht gut genug um sich neben sie zu setzen? Gibt es Spannungen zwischen ihnen? Ist es für sie ein größeres Problem auf diesen Markt zukommen als für die anderen Adivasi- Frauen, die im Gegensatz zu muslimischen, häufiger draußen auf dem Feld arbeiten? Wenn ja, wird der Kontakt mit ihnen sie in diese Richtung beeinflussen? Ist es einfach nur ein Zufall, dass sie es ist, die zufälligerweise sehr schüchtern ist? Ich weiß es nicht, aber mein Kopf muss unablässig nach Erklärungen suchen, vielleicht müsste ich um eine zur Antwort passende Frage zu finden in eine Richtung denken, die mir gar nicht einfällt. Momentan bekomme ich auf meine an sie gerichtete Frage nur die Antwort: „Ich beobachte es von hier“.

Mittlerweile kommt gut alle fünfzehn Minuten ein Mann mit einer Kuh zum Häuschen. Die zu ihm gehörende Frau stürzt sich zumeist mit großer Begeisterung auf die Kuh. Sie soll die Kuh, schließlich hat sie im Training gelernt, worauf sie beim Kuhkauf achten soll, noch einmal betrachten und die Wahl bestätigen. Über der Freude bleibt dazu meist aber kaum Zeit. Die Kühe werden stundenlang immer wieder gestreichelt und die Hand wird zum Herz geführt: Ein Zeichen der Ehrerbietung.

Einige Stunden nach meiner Ankunft sitze auch ich in dem Häuschen, in dem ich am Anfang die einzelne Frau entdeckt habe. Die meisten Kühe sind gekauft. Es ist spät geworden und ich werde langsam müde. Hier sitzend mit meiner Kollegin Boroi essend und Tee trinkend finde ich plötzlich, dass die Wände des Hauses und die Gitterstäbe der Fenster eher die laute anstrengende Welt da draußen aussperren, als dass sie uns einsperren. Was hängt schon nicht vom Standpunkt der Betrachtung ab? Unter Umständen wird etwas, was ich als diskriminierend ansehe, von den Beteiligten gar nicht so wahrgenommen und viele Formen von Diskriminierung sehe ich vermutlich in Deutschland gar nicht, weil ich von klein auf gelernt habe deren Existenz als normal anzusehen. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass der Marktplatz ein Ort wäre, an dem sich die Frauen ihre Kühe gerne alleine aussuchen würden. Was dazu genau geschehen muss weiß ich nicht.

Zwischen all dem Lärm draußen schläft eine Kuh zwischen zwei Frauen. Auch wenn ich Gegensätze wie Ruhe und einfaches Leben gegenüber unserer hektischen westlichen Welt als zu einfach empfinde, hoffe ich doch, dass sich hier zwar einige Sachen ändern, dass dies aber auf einem besseren und schlaueren Weg geschieht als das bei uns der Fall war. Ich weiß nicht, ob es noch einen anderen Weg zu einem Leben ohne Armut und mit ähnlichen Möglichkeiten und Rechten für alle gibt. Ich hoffe aber sehr, dass diese Menschen ihn finden werden. Denn auch, wenn ich das Landleben friedlich finde, in unseren harten statistischen Fakten gesehen liegt Bangladesch frauenrechtlich auf den hinteren Plätzen. Auch wenn eine Frau ein eigenes Einkommen erwirtschaftet, sind es häufig die Männer in ihren Familien, die zu einem großen Teil darüber verfügen. Wird es in diesem Projekt anders laufen?

Für den heutigen Tag sind alle Kühe gekauft. Wir wollen fahren. Da zupft jemand an meiner Schulter. Es ist Manzura, die einzige muslimische Frau der Gruppe. Sie bittet mich noch von ihr und ihrer Kuh ein Foto zu machen, so wie ich davor schon viele andere Fotos von lachenden Frauen gemeinsam mit ihren Kühen gemacht habe.

Diesen Wunsch erfülle ich ihr natürlich gerne. Die Kühe und Familien werden jetzt auf kleinen Transportern in ihre Dörfer zurückfahren. In welche Richtung sie und das Projekt sich entwickeln werden, vermag ich nicht zu sagen, aber Bewegung als solche ist auszumachen.

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