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Klinik im Wohnzimmer

Die neue, große Wellblechhütte ist mit einfachen Wänden aus geflochtenen Palmblättern in mehrere Bereiche unterteilt.Wir betreten das Wohnzimmer. Ein großes Bett ist mit einer sauberen Bastmatte abgedeckt. Die Kissen sind ordentlich darauf gestapelt. In einer Ecke befindet sich ein Kleiderständer, in einer anderen eine Vitrine. Letztere enthält alle Habseligkeiten ihrer Besitzer: Kleidung, Geschirr, Spielzeug und Kosmetikartikel. Auf der Vitrine steht ein Fernseher. Wir nehmen erst einmal auf dem Bett Platz. Ein paar Frauen bringen einen kleinen, wackeligen Holztisch und drei Stühle.

Aus einer mitgebrachten Tasche zieht eine der beiden Helferinnen eine Wachstuchdecke und breitet sie auf dem Tisch aus. Nasrin ist ihr Name, sie setzt sich hinter den Tisch und fördert noch ein großes Buch, ein Blutdruckmessgerät und einen Rezeptblock zutage. Es kann losgehen.

Ich befinde mich in Shidlaur, einem kleinen Dorf im Distrikt Netrakona im Norden Bangladeschs. Mit der Rikscha haben Nasrin, sie ist Krankenschwester und Hebamme der Organisation Sabalamby, und ich ungefähr eine Stunde hierher gebraucht. Die Straßen und Wege sind schmal und oft beschädigt. Kurz vor dem Dorf verengt sich der Weg zu einem schmalen Pfad, so dass wir absteigen und zu Fuß weiter gehen mussten. Hier also findet heute die "Satellite Clinic" statt, eine Art medizinische Ambulanz zur Basisgesundheitsversorgung, die von Sabalamby viermal in der Woche in wechselnden Dörfern veranstaltet wird.

Nasrin schlägt das Buch auf. Säuberlich ist unter der Überschrift "Satellite Clinic, Shadlaur, 11.05.2005" ein Register vorgezeichnet. Von jedem Patienten werden die wichtigsten Daten erfasst: Name - bei Frauen auch der Name des Ehemannes bzw. Vaters - Adresse, Alter, Geschlecht, eventuell verschriebene Medikamente und der Vermerk, dass die Behandlungsgebühr von zwei Taka, das sind ungefähr zweieinhalb Cent, bezahlt wurde.

Allzu viele Patienten werden heute nicht kommen. Die Reisernte hat angefangen und jede Kraft wird auf dem Feld gebraucht. Da steht die Gesundheit hintenan. Rund zwanzig Menschen, hauptsächlich Frauen, suchen den Rat der Krankenschwester. Natürlich haben sich auch einige Neugierige versammelt.

Die Beschwerden, die uns in den nächsten zwei Stunden geschildert werden, unterscheiden sich nicht großartig voneinander. Kopf-, Rücken-, Bauch- und Brustschmerzen, daneben sichtbare Unterernährung und einige Schwangerschaften. Nasrin misst bei jeder Patientin den Blutdruck und kontrolliert die Augenschleimhäute auf Anzeichen von Anämie, Mangelerscheinungen. Den schwangeren Frauen gibt sie Anweisung, dass sie beispielsweise auch durch Aufnahme ihrer gewohnten Nahrungsmittel auf eine erhöhte Protein- und Kalziumzufuhr achten können, sie genügend Wasser trinken und sich ein bis zwei Stunden täglich Ruhe gönnen sollen. Desweiteren legt sie ihnen nahe, regelmäßig die Vorsorgeuntersuchungen zu nutzen.

Eine junge Frau kommt. Ihr Alter gibt sie mit achtzehn Jahren an. Sie erwartet ihr erstes Kind. Auch sie wird von Nasrin beraten, wird auf eine ausreichende Ernährung hingewiesen. Plötzlich übernimmt eine danebenstehende, ältere Frau die Gesprächsführung, diskutiert mit Nasrin über Verhalten und Ernährung in der Schwangerschaft. Es klingt, als verstünde sie nicht recht, wieso einer schwangeren Frau eine bessere Stellung eingeräumt werden sollte. In den ländlichen Gebieten Bangladeschs ist es oft so, dass zuerst die Männer essen. Was sie übrig lassen, bekommen die Frauen. Die Betroffene schweigt. Ihr Blick ist starr auf irgendeinen Punkt jenseits der Menschen um sie herum gerichtet, sie ist verlegen, wirkt bedrückt.

Als nächstes ist eine Frau an der Reihe, die ihren eineinhalbjährigen Jungen auf dem Arm trägt. Bis jetzt stand sie am Rand des Geschehens, gab dem Jungen ihre stark beanspruchte Brust, an dieser er lustlos herumnuckelte. Sie setzt sich, hält den Jungen jetzt auf dem Schoß. Der Kleine hat zwar wache Augen, ist aber zweifelsohne unterernährt. Seine Arme und Beine sind entsetzlich dünn. Er esse nicht, erzählt die Mutter, sie gebe ihm ein paar Mal täglich die Brust, habe aber nicht mehr viel Milch. Mit eineinhalb Jahren sei es längst Zeit für zusätzliche Nahrung, ermahnt Nasrin die Frau und "verordnet" dem Kind Dal, das ist eine Art Suppe aus Linsen sowie Kichuri, ein nahrhaftes Reisgericht. Die Frau selbst ist auch unterernährt - sie geht.

Etwa zehn Minuten später stürmt ein muskulöser, älterer Mann in den Raum. Er hat denselben Jungen auf dem Arm. "Was fehlt diesem Kind, welche Medizin braucht es?" fragt er laut, ohne sich um irgendeine Reihenfolge zu kümmern. Geduldig erklärt ihm Nasrin noch einmal, dass dieses Kind lediglich mehr zu essen bräuchte und was man ihm am besten geben sollte.
Später stellt sich heraus, dass auch dieser so kräftig aussehende Mann ein Gesundheitsproblem hat: Magenschmerzen. Da er den ganzen Tag auf dem Feld arbeitet, kann er sich nicht um seine Ernährung kümmern. Er bekommt neben einem Vitaminpräparat noch Tabletten gegen die Schmerzen verschrieben. Als er hört, dass er dafür 140 Taka, rund 1,75 Euro zahlen soll, wird er wütend. Sein Unterkiefer zittert, er erhebt die Stimme. Ein paar Minuten später jedoch kommt er mit dem Geld und wirft es auf den Tisch.

So geht es weiter. Die Umstehenden unterhalten sich. Nebenan erzeugt eine Erntemaschine riesigen Krach. Intimsphäre herrscht hier nicht. Jeder hört mit, was die Probleme des anderen sind.

Um zwei Uhr ist Schluss. Die Rikscha nach Hause wartet. In dem abgelegenen Dorf sind nicht einmal diese sonst überall auffindbaren Gefährte zu sehen. Nasrin und mich erwartet die einstündige Fahrt zurück ins Büro. Die andere Helferin macht sich zu Fuß auf den Weg, denn eine zweite Rikscha ist weit und breit nicht zu sehen.

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