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Keine Idylle am Rand der Reisfelder

Mit seinen zweihundert Tausend Einwohnern ist Netrakona für bangladeschische Verhältnisse eher eine Kleinstadt. Ich sitze auf der Veranda meines Gästehauses am Rande von Netrakona. Um neun Uhr morgens muss ich bereits meinen Stuhl in den Halbschatten rücken, da in Bangladesch der Frühling Einzug gehalten hat. Das Thermometer klettert tagsüber auf über dreißig Grad. Der Ausblick ist grandios: Vor mir breitet sich eine große grüne Fläche aus, Reisfelder, die durch kleine Erdwälle abgetrennt sind. Das Spiel von Sonne und Wind lässt die noch jungen Reispflanzen in der Sonne glitzern. In mitten des grünen Teppichs befindet sich ein kleiner Teich, an dessen Ufer ein paar Kühe und Ziege weiden. Auf einer Wiese spielen Kinder Fangen und Kricket. Am Horizont verlieren sich die Reisfelder in einem dichten Wald aus Palmen. Ich schließe die Augen. Eine frische Brise von den nahen Bergen Indiens trägt den morgendlichen Duft der Felder und Palmen heran. Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich ein knapp sechszehnjähriges Mädchen, das mit einem Baby auf dem Arm über die Wiese läuft. Mir kommen die Begegnungen der letzten Tage in den Sinn.

Drei Tage lang nahm ich an einer Schulung teil, die von der Menschenrechtsorganisation Ain-o-Salish-Kendro für Frauen veranstaltet wurde. Lokhi ist mit knapp achtzehn Jahren die jüngste Teilnehmerin. Sie erzählt, dass viele ihrer gleichaltrigen Freundinnen bereits verheiratet sind und sogar schon Kinder haben, obwohl das Mindestalter für Eheschließungen laut Gesetz achtzehn Jahre beträgt. Die Armut und überkommene Traditionen zwingen viele Familien dazu, die Mädchen früh zu verheiraten. Für Lokhi selbst ist das unvorstellbar. Als sie vor einem Jahr von einer Frauengruppe in ihrem Dorf erfuhr, die sich um die elementaren Rechte der Frauen kümmern will, schloss sie sich kurzer Hand an. In der Gruppe diskutiert sie zum ersten Mal nur unter Frauen über die massiven Probleme in ihrem Dorf: Kinder-Ehen, Gewalt gegen Frauen, unrechtmäßige Scheidungen, ausbleibende Unterhaltszahlungen, Vergewaltigungen. Gemeinsam suchen die Mitglieder nach Lösungen. Lokhi wurde von ihrer Gruppe ausgesucht, an der Schulung teilzunehmen. Später wird sie den anderen Frauen berichten.

Die Schulungen sind ein wichtiger Teil des Programms zur Förderung der Menschenrechte in Bangladesch, das von NETZ unterstützt wird. In jedem Dorf wird ein Menschenrechtskomitee aufgebaut. Das überwacht die Einhaltung der von der Verfassung garantierten Rechte. In den Schulungen werden die Frauen über Gleichberechtigung und die unterschiedlichen Formen von Gewalt informiert - und darüber, wie sie ihre Rechte durchsetzen können. Die fünfundzwanzig Teilnehmerinnen sind Mitglieder in Gemeinderäten oder Vertreterinnen lokaler Frauengruppen.

Mit einundsechzig Jahren ist Anoara die älteste Teilnehmerin. Anfang 2003 war sie in den Gemeinderat gewählt worden. Drei der zwölf Plätze im Gemeinderat sind für Frauen reserviert. Erst seit 1997 werden diese Frauen direkt von den Bürgern gewählt. Zuvor waren sie einfach vom Bürgermeister bestimmt worden. Anoara ist die aktivste Teilnehmerin der Schulung. Verärgert berichtet sie, wie Frauen immer noch von den Männern im Gemeinderat bevormundet werden. Genau aus diesem Grund ist die Schulung für sie von großer Bedeutung. Sie möchte sich genauer über ihre Rechte informieren, um bei den nächsten Sitzungen besser argumentieren zu können. Aufmerksam hört sie zu, wie Momy, meine Kollegin von Ain-o-Salish-Kendro, erklärt, welche Schritte eingeleitet werden müssen, wenn eine Frau vergewaltigt wurde. Zunächst muss ein Arzt das Opfer untersuchen und danach muss sofort bei der Polizei Anzeige erstattet werden. Momy erzählt, wie vor kurzem eine Frauengruppe ein Opfer unterstützte und durch öffentliche Kundgebungen dazu beitrug, dass die Frau eine Entschädigung erhielt und der Täter hinter Gittern landete.

Am letzten Tag der Schulung frage ich die Frauen, ob sich für sie nun etwas verändern wird. Sofort antwortet Anoara, dass ihr nun kein Mann im Gemeinderat mehr den Mund verbieten können wird. Viele der Teilnehmerinnen sagen, dass sie sich in den letzten Tagen oft mit ihren Familien und den Nachbarn über die Themen der Schulung unterhalten haben. Lokhi macht im Sommer ihr Abitur. Danach möchte sie studieren. Am liebsten Jura.

Auf der Wiese vor der Veranda läuft immer noch das Mädchen mit dem Baby auf dem Arm. Ich schließe wieder meine Augen und lausche dem Wind in den Reisfeldern.

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