Kali Puja
Und wieder ein neuer Tag in Joypurhat. Die ganze Woche schon fahre ich von einer Schule zur nächsten, besuche Frauen- und Theatergruppen. Heute Nachmittag steht allerdings eine besondere Überraschung an. Ich habe mich auf einen Besuch im Projekt "Ein Leben lang genug Reis" eingestellt. Als ich im Dorf ankomme, in dem das Treffen stattfinden soll, stelle ich fest, dass keiner da ist. Der Mitarbeiter der mich begleitet, erklärt mir, dass heute Kali Puja ist. Wir hören Musik aus der Ferne und laufen in das Nachbardorf. Eine Menschenmenge, fast alle verkleidet und in ausgelassener Stimmung, begrüßt uns.
In mitten eines Stroms von Dorfbewohnern werde ich förmlich zum Festplatz getragen. Um mich Leute mit bunt bemalten Gesichtern, Bratpfannen auf den Kopf, Männern, als schwangere Frauen verkleidet und Kindern, die mit Pfeil und Bogen um das ganze Geschehen herumtollen. Ich verliere schnell den Überblick und verschwinde im Wirbel aus Farben und den rhythmischen Klängen der Trommeln.
Kali, "die Schwarze", ist im Hinduismus eine bedeutende Göttin des Todes und der Zerstörung, aber auch der Erneuerung. Als göttliche Mutter spielt sie in hinduistischen Gemeinschaften in Bangladesch und in Westbengalen eine wichtige Rolle. Der wichtigste Feiertag Kalis ist Kali Puja, der nach dem Mondkalender Ende Oktober oder Anfang November gefeiert wird. Die Gläubigen feiern am ersten Tag der Kali Puja das Lichterfest Diwali, zünden hunderte von Öllichtern an und stellen Statuen der Göttin in ihren Gemeinden auf.
Am zweiten Tag des Festes folgen verschiedene Feierlichkeiten, denen ich nun beiwohne. Nachdem ich auf einen Ehrenplatz auf eine kleine Tribüne gesetzt werde, beginnt das Schauspiel. Aus allen fünf Dörfern der Umgebung ziehen Festumzüge heran, vereinen sich auf dem Platz vor mir und beginnen einen ungewöhnlichen Tanz.
Begleitet vom Klang der Trommeln und dem verrückten Geschrei der Musiker drehen sich sie im Kreis und jagen sich gegenseitig. Die Männer, die in Saris gekleidet sind und schwangere Frauen spielen, fallen immer wieder zu Boden und gebären kleine Puppen, die der Statue Kalis nachempfunden sind. Im Gewirbel der Menschen rennen mehrere alte Männer herum, erschrecken die Zuschauer und strecken ihre Zungen heraus. Sie symbolisieren die Dämonen, die Ungerechtigkeit in der Welt, die von den Helfern Kalis, Kindern mit Pfeil und Bogen, unter sichtlichem Spaß gejagt werden. Immer wieder spannen sie ihre Bögen, schaffen es doch aber nie, die Dämonen zu besiegen.
Diesem Schauspiel schließen sich nach und nach immer mehr Darsteller an, symbolisieren Untergang und Wiedergeburt, Ungerechtigkeit und Verwirrung. Die Trommelschläge werden nach und nach schneller, die Darsteller der Dämonen sammeln sich und auf einmal tritt Raktavija auf. Der Mythologie nach ist er ein Dämon, der die Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte und als unbesiegbar galt. Wenn immer er verletzt wurde und ein Blutstropfen zu Erde fiel, wuchs aus ihm ein zweiter Raktavija. In ihrer Ohnmacht riefen die Menschen der Legende nach die Urmutter, die sich als Gestalt Kalis manifestierte, zur Hilfe, die dem Dämon den Kopf abschlug und alles Blut aus seinem Körper trank. Auch im Tanz wird diese Szene nachgespielt. Ein Darsteller, der plötzlich aus der Menge heraustritt und blau angemalt ist, ein Attribut Kalis, rennt auf den Dämon zu. Es wird ein Kampf dargestellt bei dem Kali letztendlich siegt und alle Dämonen zu Boden fallen. Raktavija ist besiegt und der Darsteller Kalis und dessen Helfer brechen in Freudenschreie aus. Die Zuschauer jubeln. Nach eineinhalb Stunden Tanz scheinen die Schauspieler alle sehr erschöpft, doch lassen sie es sich nicht nehmen in die Freudengesänge der Menge einzustimmen.
Im Hintergrund geht die Sonne blutrot unter und verleiht der ganzen Szenerie, den lachenden Kindern, klatschenden Müttern und stolzen Schauspielern ein noch wunderbareres Aussehen, das mir noch sehr lange im Gedächtnis bleiben wird.