Interaktives Theater in Kushtia
Wenn sich Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit gegen Armut und Diskriminierung wirklich durchsetzen sollen, muss dieser Wandel von den Menschen ausgehen. Gesetze und Bürgerrechte müssen eingefordert und umgesetzt werden, sonst sind die wertlos. Das ist ein Kerngedanke der Menschenrechtsarbeit von Ain o Salish Kendra (ASK). Doch wie kann man diese Vision in einem der ärmsten Länder der Welt verwirklichen? Zumal, wenn Korruption und Analphabetismus weit verbreit sind. Wie erreicht man eine Bevölkerung von 160 Millionen? Herausforderungen, denen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ASK jeden Tag gegenüber sehen. Wie bringen sie möglichst viele Menschen in Bangladesch dazu, sich ihrer Rechte bewusst zu werden, und anderer Menschen Rechte zu respektieren? Durch tausende interaktive Theatervorstellungen, zum Beispiel. „Manobodhikar Nattyo Porishod“ heißen die Netzwerke von Menschenrechts-Theatergruppen, die mit Unterstützung von ASK in zehn Regionen des Landes ihre sozialkritischen Stücke aufführen, meist ohne Drehbuch und Kulissen, teils unter lebensgefährlichen Bedingungen.
Feste Bühnenbretter, Vorhänge oder Kostüme brauchen die Laiendarsteller eigentlich keine. Dafür einen wachen Verstand, viel Mut und das Talent, ihre Mitmenschen immer und überall mitzureißen. Sie spielen dort auf, wo die Menschen sie brauchen. Überall, wo Korruption, Gewalt und Diskriminierung den Alltag der Menschen erschweren. Die Freilicht-Stücke ziehen pro Vorstellung hunderte Menschen an. Ihre Geschichten sind unmittelbar aus dem Leben vieler Bangladeschis gegriffen: verbotene Frühehen, Gewalt gegen Frauen, steigende Lebensmittelpreise oder Migration.
Ich möchte mir die Menschenrechts-Schauspieler in Aktion ansehen und fahre nach Kushtia, in den Westen Bangladeschs. Hier findet ein landesweit bekanntes Menschenrechtsfestival statt, auf die Beine gestellt von einer lokalen Organisation und unterstützt von ASK. Diesmal haben sich sechs Schauspielgruppen, Musiker, eine Tanzgruppe und mehrere prominente Gastredner angekündigt. Die Veranstalter rechnen mit rund 7.000 Besuchern an beiden Festival-Tagen.
Als ich in Kushtias Stadtmitte eintreffe, ist das Festival schon in vollem Gange. In dem großen, rundherum offenen Festzelt aus lila-gelben Stoffbahnen sind sämtliche der 400 bunten Plastikstühle besetzt. Aufgeregte Kinder rennen zwischen den Sitzreihen auf und ab, Händler manövrieren Bauchläden mit Nüssen und scharfem Popcorn durch die Menge. Überall sind Transparente befestigt: „Bildung für Alle!" oder „Menschenrechte beginnen in Deiner Familie" steht darauf in bengalischen Lettern. All das jahrmarkthafte Treiben soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kushtias Menschenrechts-Festival seit jeher eine politische Veranstaltung ist.
Die von ASK geförderten Theatergruppen haben sich auf eine besondere Art von partizipativem Gemeindetheater spezialisiert, die ASK selbst ausgearbeitet hat, „Aktionstheater“ heißt sie. Dabei sollen die Darsteller zunächst selbst am Puls ihrer Gemeinden fühlen. Was sind die dringendsten sozialen Probleme? Hat ein besonderes Verbrechen gegen die menschliche Würde oder ein besonderer Missstand die Menschen zuletzt beschäftigt?
Nach ausführlichen Gesprächen mit Bewohnern aus Stadtvierteln und Dörfern beraten die Darsteller und ASK-Fachleute gemeinsam, wie die Themen aussagekräftig und packend in einer Aufführung thematisiert werden können. Ohne die Wahrheit dabei zu verdrehen. Aktionstheater soll mitreißen ohne reißerisch zu sein. Das ist der Anspruch von ASK an ihr Konzept, das Motahar Akand, Leiter der Menschenrechts-Theaterabteilung der Organisation, seit den 1990er Jahren bereits auf Dutzenden Workshops in ganz Südasien vorgestellt hat.
Ist das Thema einmal gefunden, werden die Stücke systematisch einstudiert, bis sie schließlich auf einem öffentlichen Platz vor möglichst großem Publikum aufgeführt werden. Auf Marktplätzen, Busbahnhöfen oder vor Schulen. Jeder, ob arm oder reich, soll zusehen, nachdenken und mit den Schauspielern diskutieren können. Das ist das grundlegende Element des Aktionstheater – das Publikum in die Handlung mit einbeziehen.
Langsam schiebe ich mich vom Zelteingang durch die Menge, in Richtung der großen Holzbühne. Sie ist mit Mikrofonständern übersäht, damit jeder noch so kleine Ton aus den mächtigen Lautsprechern hinaus auf die Hauptstraße dröhnen kann. Das stellt nicht nur jedes Trommelfell auf die Probe, es lockt vor allem immer mehr Neugierige zum Zelt. Auch deshalb sind auf dem Vorplatz Trupps bewaffneter Polizisten postiert. Grund zum Eingreifen haben sie nicht. So schauen die Männer und Frauen in den schwarz-grünen Uniformen dem bunten Treiben eher gelangweilt zu. Ihre teils abenteuerlich aussehenden Gewehre dienen allemal als willkommene Kinnstütze.
Am Rande des Festplatzes treffe ich einen der Organisatoren. Er fällt mir auf, denn jeder der Schauspieler hier scheint ihn dringend sprechen zu wollen. Mahsud Akayum heißt der kettenrauchende Mann mittleren Alters, ein stadtweit bekannter Theaterregisseur, der seelenruhig jede Frage beantwortet. In einer freien Minute erzählt er mir, wie er seit Jahren die Stücke verschiedener Menschenrechtstheater-Gruppen Kushtias inszeniert und diskutiert. Alles ohne Bezahlung. Einen ganzen Berg von Herausforderungen gäbe es dabei zu überwinden, wie er sagt. Problem Nummer eins: die Zeit.
Rund zwanzig Darsteller haben die Amateurschauspielgruppen in der Regel. Davon gehen die meisten einer täglichen Arbeit nach, sind Schülerinnen oder Studenten. „Unmöglich, mit allen gleichzeitig zu proben!", klagt der Regisseur. So sei es nicht unüblich, dass in einem zehnminütigen Stück ganze vier Wochen Vorbereitung stecken.
Die wirklich ernsthaften Schwierigkeiten aber beginnen für ihn und die Laiendarsteller erst nach den Aufführungen. Morddrohungen hat Mahsud schon mehrfach erhalten, Darsteller wurden krankenhausreif geprügelt. So zum Bespiel vor rund einem Jahr, als eines seiner Stücke die angebliche Vergewaltigung eines kleinen Mädchens durch einen Lokalpolitiker und das Stillhalten korrupter Polizeibeamter anprangerte. „In unseren Stücken nennen wir die Probleme beim Namen, auch ihre Wurzeln und Verursacher. Manche können sich Immunität erkaufen, aber uns bestimmt nicht.“ Um das Bewusstsein der Menschen für ein bestimmtes Thema zu prägen, braucht es neben Mut aber auch Geduld.
Bis zu 500 Aufführungen widmete Mahsud allein den landesweit praktizierten Frühehen, bei denen zumeist minderjährige Mädchen gegen ihren Willen mit Erwachsenen verheiratet werden. Umfragen der letzten Jahre aus Kushtia belegen, dass die Zahlen solcher Eheschließungen mittlerweile stak abnehmen.
Die warme Nacht hat sich bereits über Kushtia gelegt, der Mond scheint milchig-weiß auf das Festzelt hinab. Doch von den bunten Strassen vor der Zentralbibliothek strömen unaufhörlich neugierige Besucher in das offene Festzelt. Manche haben von unterwegs Freunde mitgebracht, andere ein paar Snacks zur Stärkung geholt. Von Keksen über Kartoffelchips, knusprige Teigtaschen und gewürzte Röstlinsen ist alles zu haben.
Einige Männer bleiben kurz stehen, trinken im Schein kleiner Gaslampen noch schnell einen „lal cha“ neben der Moschee gegenüber, den landestypischen schwarzen Tee, mit Nelken oder frischem Ingwer. Die Erdnussschalen-Spur auf dem Festivalgelände lässt derweil erahnen, welcher der fliegenden Imbisshändler heute den besten Umsatz macht.
Während einer Umbau-Pause gibt es auf der Bühne gerade nichts zu sehen. Die Menschen unterhalten sich lautstark, blicken sich auf dem Festplatz um, und entdecken – mich. Nicht mal eine Minute vergeht, da bin ich schon von zwei Dutzend zumeist jungen Männern umringt, die an dem „bideshi“ – dem Ausländer – der dort am Rand eines Brunnens sitzt, ihre Englischkenntnisse testen wollen. Nach akribischer, mehrfacher Klärung des landesüblichen Fragenkatalogs (klassische Reihenfolge: Herkunftsland, Tätigkeit, Aufenthaltsdauer, Familienstand, möglichst diplomatische Einschätzung der gegenwärtigen Situation – „what are your feelings now?!“) bin ich endlich am Zug.
Die Männer, nicht älter als ich selbst, berichten mir auf meine Frage hin, dass ihnen die Arbeitslosigkeit am meisten zu schaffen mache. Für Studenten gäbe es außerhalb Dhakas kaum Perspektiven, sagt einer. Sobald er im kommenden Sommer seinen Abschluss in Betriebswirtschaftslehre habe, würde er wegziehen aus Kusthia. Vielleicht in die ferne Hauptstadt. Vielleicht auch ins Ausland, „insha'allah“ – so Gott will.
Doch die Visa sind begehrt, zumal für die vergleichsweise einkommensstarken Länder Europas, Nordamerikas und der Asien-Pazifik-Region. Schon die Antragsstellung kommt viele Bangladeschis teuer zu stehen. Private Agenturen pressen mit zweifelhaften Zusagen oft die letzten Ersparnisse aus ganzen Großfamilien heraus, deren Hoffnungen dann auf den Schultern ihrer Kinder lasten. Nicht selten werden die Hoffnungen enttäuscht. Die Männer erzählen mir von Brüdern, Cousins, Freunden, die verarmt zurückkehren mussten: von britischen Visa, die trotz Versprechen der Agenturen nicht verlängert wurden; unzumutbaren Arbeitsbedingungen auf arabischen Baustellen; plötzlichen Massenentlassungen oder zu hohen Lebenskosten.
Bei solch existentiellen Sorgen, wie motivieren die Schauspieler auf der Bühne ihr Publikum, sich zusätzlich über menschliches Recht und Unrecht den Kopf zu zerbrechen? Die Frage kann mir nur ein Schauspieler selbst beantworten. Nayeb Ali heißt er und ist 41 Jahre alt. Wir setzen uns unter das Vordach des Zeltes. Da kommt auch schon die Antwort auf meine Frage: anders als in Europa ist Respekt für grundlegende Menschenrechte und soziale Grundsicherung in Bangladesch schlichtweg keine Selbstverständlichkeit. Es gebe niemanden, der nicht am eigenen Laib erlebt hätte, was die Menschenrechtsaktivisten in ihren Aufführungen ansprechen. „In Bangladesch ändert sich nichts ohne öffentlichen Druck. Ich sage immer: ja, wir sind arm, aber gemeinsam haben wir eine kräftige Stimme“, erklärt mir Nayeb.
Die Themen ihrer Stücke sind für jeden in Kushtia relevant. Dann wird Nayeb, der tagsüber sein Geld auf dem lokalen Fischmarkt verdient, zum erpresserischen Großgrundbesitzer, zum geldgierigen Politiker, rechtlosen Landarbeiter oder drogensüchtigen Familienvater.
Für das Theaterfestival spielt er heute die Rolle eines Bauern aus der Umgebung. Auf Anraten eines Freundes will er die gelegentlichen Magenschmerzen bei einem der neuen Privatärzte Kushtias behandeln lassen, mit ihren angeblich so modernen Geräten und den Urkunden ferner Universitäten an der Wand. Doch der wortgewandte Mediziner entpuppt sich als gewissensloser Halsabschneider. Nach teuren Medikamentencocktails und viel gutem Zureden verlässt Nayeb die Klinik des Arztes schließlich wieder: verarmt und vergiftet wird er auf einer Totenbahre aus dem Kreise der Zuschauer getragen.
Die Menschen im Zelt applaudieren zustimmend, machen Kommentare, nicken. „Viele dieser privaten Ärzte ziehen den Kranken das letzte Geld aus der Tasche: überteuerte Rezepte für nutzlose Importmedikamente; fragwürdige Therapien; neueste Pillen, die uns krank machen, weil sie noch nicht ausreichend getestet worden“, sagt Nayeb mir hinterher.
Nach Ende der Aufführung machen die Zuschauer lautstark Vorschläge, was die Laiendarsteller beim nächsten Mal ansprechen sollen. Schnell entbrennt eine Diskussion: wie kann man diesen Missstand beheben? In Kushtia gibt es nur noch ein öffentliches Krankenhaus - für zehntausende Menschen. Völlig überfordert seien die Ärzte dort, zudem mangelt es an Spezialisten.
Die teuren Privatkliniken nutzen diesen Mangel aus, sind sie für die Patienten doch oftmals die einzige Alternative zu einer beschwerlichen Reise in die Nachbar-Distrikte. Die Behörden müssten die Privatkliniken kontrollieren, die Ärzte wenn nötig zur Rechenschaft ziehen, und den Ärmsten der Armen kostenfreie Untersuchungen ermöglichen. Die eingeladenen Pressevertreter schreiben eifrig mit. Morgen werden die Zeitungen darüber berichten, was bislang ein offenes Geheimnis war. Für das Aktionstheater ein kleiner Erfolg, der für Kushtias Menschen einen großen Unterschied machen kann.