"Ihr Lernen bedeutet Fortschritt."
Endlich! Am westlichen Ufer des Jamuna-Flusses angekommen, beginnt für mich nach stundenlanger Busfahrt Neuland. Hinter mir verschwinden bereits die Umrisse der mächtigen Bangabandhu-Brücke in der Abenddämmerung. Vor mir, fern ab von Dhaka, liegt der erste von vielen Projektbesuchen für Ain o Salish Kendra - kurz ASK. Bis August kommenden Jahres werde ich meinen zwölfmonatigen NETZ-Freiwilligendienst in der ASK-Abteilung für Frauenrechte und Soziale Gerechtigkeit, der "Gender & Social Justice Unit", leisten.
Mein Ziel an diesem Tag heißt Jhenaidha, ein Distrikt ganz im Westen Bangladeschs. Hier, nicht unweit der Grenze zu Indien, erwartet mich nach langer Fahrt Laila Sharmin, eine junge Anwältin meiner Abteilung aus Dhaka. Alle drei Wochen fährt sie nach Jhenaidha, um lokale Partnerorganisationen von ASK bei der Menschenrechtsarbeit zu unterstützen. Die "Gender & Social Justice"-Abteilung hat es sich zur Aufgabe gemacht, verschiedene Frauen- und Menschenrechtsgruppen in zehn Landesteilen Bangladeschs so bei ihrer Entwicklung zu begleiten. Für Laila heißt das: Fortschritte und methodische Schwachstellen der örtlichen Menschenrechtsgruppen genau beobachten, auswerten und mit ihnen besprechen. Dass sie dafür von früh bis spät auf den Beinen sein muss, findet die 29-jährige Anwältin selbstverständlich. "Gemeinsam verändern wir etwas in dieser Region, dass wird mir jedes mal deutlich. Natürlich hat mein Büro da 24 Stunden geöffnet", erklärt sie lachend. "Nur wenn Du den Menschen zuhörst, kannst Du ihnen auch zu einer Stimme verhelfen." Ich möchte sie hören, die Stimmen der Menschen aus Jenaidha. Dafür bin ich hergekommen. Welche Geschichten werden sie mir erzählen?
Früh am nächsten Tag begleite ich Laila zur Arbeit. Mit einer Motorrikscha fahren wir auf holprigen Feldwegen raus aus der Provinzhauptstadt hinaus aufs Land. Vorbei an Bananenbäumen, mannshohem Zuckerrohr und weiten, grünen Reisfeldern. Die Luftfeuchtigkeit macht mir zu schaffen, mein Hemd ist trotz Fahrtwind schnell nass geschwitzt.
An der Einfahrt zu einem kleinen Gehöft macht der Rikschafahrer halt. Wir werden bereits erwartet. Qutb, der Programmleiter einer lokalen Partner-NGO, und sein Kollege begrüßen uns freundlich. Wir gehen auf die einfachen, flachen Hütten zu, die kreisförmig abseits der Straße stehen. Qutb trägt eine Mappe mit Unterlagen. Formulare und Notizen für das bevorstehende Treffen der örtlichen Frauenrechtsgruppe, zu dem wir angereist sind.
Das Gehöft, erfahre ich, gehört Shipila, der ehrenamtlichen Präsidentin der örtlichen Frauenrechtsgruppe. Zwanzig neugierige Mädchen und Frauen jeden Alters begrüßen uns. Sie freuen sich, die bekannten Gesichter der NGO-Mitarbeiter wieder zu sehen. Dass plötzlich auch meines aus der Motorrikscha auftaucht, überrascht sie zunächst doch etwas. Besuch aus Deutschland ist ungewöhnlich. Was ich denn hier mache, fragt mich ein Junge im Vorbeigehen. Zumindest ahne ich, dass er mich das fragt. "Ami Bangla bolte pori na", muss ich ihm gestehen - ich spreche leider kein Bengalisch. Noch nicht.
Die Frauen schaffen derweil drei weiße Stühle für ihre Gäste herbei. Der Platz ist gut gewählt, die Äste eines großen Baumes spenden allen etwas Schatten. Mit routinierten Handgriffen breiten die Frauen davor eine große Plane aus. Sie setzen sich um uns herum. Qutb, der seine Formulare ordentlich vor sich aufgestapelt hat, blickt einmal in die Runde. Er ist zufrieden, auch diesmal sind wieder ein paar neue Gesichter dazugekommen. Sie alle kommen aus verschiedenen Dörfern der Umgebung und sind gespannt auf Neuigkeiten. Sollen wir uns auch setzen, frage ich Laila. Natürlich, meint sie. Aber nicht auf die Stühle, die brauchen wir nicht. Wir wollen hier alle auf Augenhöhe miteinander sprechen. Das ist wichtiger Teil der ASK-Philosophie: die Frauen bestärken, dass sie genauso viel Wert sind, wie alle anderen auch. Genauso wichtig - genauso fähig. In Bangladesch keine Selbstverständlichkeit.
Wir setzen uns zu den anderen auf den Boden. Ich sehe, dass sich ganz am Rande der Versammlung auch vier Männer dazusetzen. Laila lehnt sich zu mir hinüber: "Vor einigen Jahren noch hätten sie ihren Frauen verboten, zu den Treffen zu kommen. Jetzt kommen sie selbst mit. Sie sind neugierig geworden."
Es wird Wasser gereicht und Qutb fragt in die Runde, wer das Protokoll führen wird. Die Antwort kommt prompt: natürlich wird Rodna diese Aufgabe übernehmen. Die 15-jährige Schülerin ist bereits geübte Protokollantin und schreibt sogleich die heutige Tagesordnung auf eines der Formulare. Die Frauen und Mädchen stellen sich kurz vor, nennen ihre Namen. Einige lachen schüchtern. Sie sind es nicht gewohnt, dass man sich in aller Öffentlichkeit für sie interessiert. Dafür wer sie sind, was sie machen, wie sie heißen. Selbstbewusstsein stärken, merke ich, ist ein wichtiger Teil dieser Treffen. Das Gefühl entwickeln, dass keine der Frauen allein für sich stehen muss. Dafür haben sie sich diese Rechtsgruppe geschaffen, als Forum und Ansprechpartner, samt Präsidium, Monatsagenda und gleichberechtigter Mitbestimmung. Die Frauen des Dorfes sind organisiert. Sie wissen, an wen sie sich bei Rechtsfragen wenden müssen. Dabei helfen ihnen die lokalen Partner-NGOs von ASK, wie die von Qutb. Solche Frauenrechtsgruppen sind Dank der Unterstützung von Menschenrechts-Organisationen wie ASK oder NETZ in vielen Teilen des Landes entstanden. Bald schon werden weitere folgen.
Welche kolossalen Aufgaben dennoch vor den Frauen Bangladeschs liegen, ahne ich, als sie beginnen, einen aktuellen Fall zu besprechen. Erschreckend einfach in ihrer Sachlage, spiegelt die traurige Geschichte eines kleinen Mädchens zugleich die komplexe Menschenrechtssituation dieses Landes wider.
Vor sieben Wochen ist das Mädchen Opfer einer Vergewaltigung geworden. Keine zehn Jahre alt sei sie, berichtet Shipila uns. Ihre Familie lebe von der Landwirtschaft, in armen Verhältnissen, wie so viele Menschen hier. Dies hätte die einflussreiche Familie ihres Peinigers ausgenutzt. Um die eigene "Familienehre" nicht zu beschmutzen, wurde den Eltern des Mädchens ein fauler Kompromiss angeboten. Statt den Fall vor Gericht zu bringen, sollte ein außergerichtliches Streitschlichtungs-Verfahren, ein sogenanntes salish, das Verbrechen ungeschehen machen. Den Eltern des Kindes wurden umgerechnet 60 Euro für ihr Schweigen angeboten. Die gleiche Summe wurde dem traditionellen Streitschlichter - dem salishkar - gezahlt.
Gerichtsverfahren ziehen sich in Bangladesch erfahrungsgemäß bis zu einem Jahr hin, stets mit ungewissem Ausgang. Viele Menschen schrecken diese Justizmühlen ab. Nach massivem Druck der wohlhabenden Landbesitzer willigten die Eltern schließlich ein, der salishkar besiegelte den Fall in kürzester Zeit. Beides, dass weiß die Frauenrechtgruppe, verstößt gegen geltendes Recht in Bangladesh. Vergewaltigung ist auch hier eine schwerwiegende Straftat, die deshalb nicht per salish entschieden werden darf. Zudem dürfen die salishkar nur unentgeltlich vermitteln. Doch noch immer sind sich viele Familien in Bangladesch dessen nicht bewusst, insbesondere in ländlichen Regionen. Unwissen, dass sich leicht ausnutzen lässt - wie im Falle des kleinen Mädchens. "Besonders die Ärmsten der Bevölkerung müssen über ihre existierenden Rechte erst noch aufgeklärt werden, denn die Gesetze gibt es ja längst", erklärt mir Laila. Schätzungen von ASK zufolge ist dies einer der Gründe, warum in rund 85 Prozent aller bekannten Fälle von sexueller Gewalt die Täter ohne Haftstrafen davon kommen.
Darüber diskutieren Laila Sharmin und die Frauengruppe nun. Ernst fragt Laila in die Runde: "Wollt ihr, dass es so weitergeht? Wenn sie nächstes Mal 10.000 Taka (etwa 100 Euro) für eure Töchter anbieten, was dann?" Die Frauen wissen, dass sie nicht nachgeben dürfen. Doch sie sind frustriert. Die Gruppenältesten hatten bereits mit den Eltern des Kindes gesprochen und den Fall der örtlichen Polizei vorgetragen. Doch die Beamten hätten nicht reagiert. Ein Dilemma für viele Menschenrechtsgruppen, wie ich später erfahre. Der Einfluss mächtiger Familien und Gemeindeführer mache hier auch vor dem Gesetz keinen Halt. Korruption ist ein allgegenwärtiges Problem.
Laila rät den Frauen, sie sollten noch einmal zur Polizei gehen, eine Beschwerde beim ranghöchsten Polizeibeamten einreichen. Für ein erfolgreiches Gerichtsverfahren sieht die ASK-Frau dagegen kaum noch Hoffnung. Sieben Wochen sind seit der Tat vergangen. Zu viel Zeit, um noch ein stichfestes ärztliches Gutachten zu erstellen. Der Fall würde vor Gericht abgewiesen. Auf solche Details müssten sie unbedingt achten, rät Laila den Frauen für die Zukunft.
Ob denn die Presse informiert wurde, möchte ich wissen. Meine Frage löst eine weitere Diskussion in der Runde aus. Das hätten sie den Eltern des kleinen Mädchens auch vorgeschlagen, erzählen die Frauen. Eine Öffentlichkeitskampagne könnte vielleicht die Behörden wachrütteln. Andererseits fürchten die Eltern um den Ruf ihrer Tochter. Wenn jeder davon wüsste, wer wird sie in einigen Jahren dann noch heiraten wollen, hätten sie gemeint. "Daran kannst Du sehen, wie dünn das Seil ist, auf dem wir unsere Arbeit machen", sagt Laila mir, als wir das Dorf verlassen. "Natürlich geht es uns um faire Rechtssprechung für alle. Aber die Realitäten in unserer Gesellschaft stimmen nicht eins-zu-eins mit den Paragraphen des Gesetzbuches überein. Wir müssen mutig und sensibel zugleich vorgehen, wenn wir die Menschen in ihrem Rechtsverständnis voranbringen wollen."
Wir sitzen wieder in einer Motorrikscha. Die Zeit drängt, wir müssen zum nächsten Termin, einem Workshop für Menschenrechtsaktivisten, den Laila leiten wird. "Woran merkst Du, dass ASK es tatsächlich gelingt, die Menschen voranzubringen", frage ich Laila. "Ich sehe, dass sie lernen. Sie werden sich Schritt für Schritt ihrer Rechte bewusst. Sie beginnen, die rechtlichen Abläufe zu verstehen, die auf verschiedene Straftaten folgen müssen. Die Frauen hier sind in Zukunft besser vorbereitet, ihr Recht und das Recht derer, die sie vertreten, einzufordern." Nach kurzem Überlegen bringt sie es auf den Punkt: "Ihr Lernen bedeutet Fortschritt."
In einigen Jahren sollen lokale Gruppen wie hier in Jenaidha ihre Anliegen auch ohne die logistische Hilfe der ASK-Juristen vor örtlichen Behörden und den salish Streitschlichtungs-Komitees vertreten können. Bis dahin werde ich sie in den kommenden Monaten ein kleines Stück begleiten. Um von ihnen zu lernen, und mit ihnen zu verstehen, wie die ärmsten der Bangladeschis sich ihre Rechte erkämpfen.